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Das Charisma Rudolf Steiners

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Drittens tritt uns die Anthroposophie Steiners gesellschaftlich nicht in jener Form entgegen, wie wir es von Wissenschaften gewohnt sind, auch wenn Steiner sich konzeptuell um eine Hochschul-Struktur bemüht hat. Die Anthroposophie ist nicht – oder höchst selten – Teil jener akademischen und öffentlichen Institutionen, in welchen die Lehrpersonen auf der Grundlage von Expertise prinzipiell austauschbar sind. Vielmehr treffen wir auf eine Institution (und auf Institutionen), in der sich von Anfang an Menschen um ihren Lehrer Rudolf Steiner herum gruppiert haben, dessen Wort nach ihrer Entscheidung den Maßstab der Erkenntnissuche darstellt. Auch in rein gesellschaftlicher Hinsicht bleibt Steiners Wissenschaft zentriert auf seine Person. Faktisch ist hier zwar stark zu differenzieren, gleichwohl entspricht das nicht grundlos dem starken äußeren Bild. Steiner sprach in erster Linie zu seinen Schülern und er sprach selten von Gleich zu Gleich und wurde wohl noch seltener so angesprochen. Insofern ist für das in Frage stehende Wissenschaftsverständnis seine Rolle als charismatischer Lehrer zu reflektieren, eines Lehrers, der von seinen damaligen Schülern schon rein erkenntnisökonomisch als überragende Gestalt gesehen wird und unter dessen Führung als Generalsekretär die Theosophische Gesellschaft als Organisation entschieden wächst und unter dessen Anleitung ein wunderbarer Bau wie das erste Goetheanum entsteht – finanziert und aufwändig erbaut durch eine größere Gruppe von Menschen. Können die Schüler eines stark charismatischen Lehrers frei sein? Oder stehen sie lediglich unter seinem Einfluss, dem es wesentlich darum geht, seine Machtposition zu erhalten? Das Moment der Erzählung, wie auch immer erfolgreich, war für Steiner das Mittel, unangemessene Einflüsse des Charismas zu brechen.

Der Historiker Helmut Zander hat in einer der umfangreichsten Studien, die zum Werk Steiners bisher vorliegen, Steiner im Sinne von Max Webers Konzept der charismatischen Herrschaft verstanden und damit seiner Untersuchung starke und nicht angemessen reflektierte Grenzen gezogen.27 Zwar ist Steiner eindeutig eine charismatische Gestalt. Zander reduziert aber Steiner auf dessen herrschaftssoziologische Effekte. So untersucht er – um ein Beispiel zu nehmen – die Bedeutung des Geheimnisses lediglich unter machtpolitischen Vorzeichen, sieht in der »vereinskonstitutiven Funktion die zentrale Bedeutung des theosophischen Geheimnisses«28, während der machtpolitische Blick blind zu sein scheint für die bewusstseinsevolutive Bedeutung von Geheimnis und Geheimnisstimmung, einer Geheimnisökonomie des langsamen Verstehens und Entdeckens. So gerät hermeneutisches Fragen und herrschaftssoziologisches Traktieren in Konflikt. Die Gestalt des Erzählers ist es indessen, nicht die des Charismatikers, die es vermag, mit Geheimnissen so umzugehen, dass sie sich zusehends lüften, dass sie Elemente eines Bildungsprozesses sind, dass sie eine Wissensstruktur verbürgen, die stärker auf Entwicklung als auf Wissenszuwachs aufbaut, dass sie als unabdingbares Einsprengsel einer Didaktik gesehen werden, die Begeisterung nicht ausschließt. Von Geheimnissen zu erzählen bedeutet, neue Erfahrungen zu ermöglichen und seltene, besondere Erfahrungen auszutauschen. Die Geheimnisatmosphäre einer Erzählung lockt zwar, aber sie macht nicht abhängig, wohl aber reicher.29

Der Erzähler Rudolf Steiner

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