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Der Erzähler Rudolf Steiner

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Aus diesen Überlegungen ergibt sich das von mir vorgeschlagene Konzept, Rudolf Steiner als einen Erzähler zu verstehen. Zu Punkt eins bedeutet das: Das Ideal der Nachprüfbarkeit findet in der Erfahrungsbezogenheit der Erzählung ein Medium. Denn jede Erzählung ermöglicht und vermittelt Erfahrungen, die nicht und schon gar nicht vorab als Überzeugungen akzeptiert sein müssen. Erzählung verbürgt Kohärenz, die Überprüfung möglich macht und einen Zwang zur Zustimmung genauso wie zur Ablehnung aussetzt. Ein klarer Begriff des Dogmas und der Hypothese sind dazu Voraussetzungen. Erzählung ist eine Plausibilitätsform von Wissenschaft, die nicht überdehnt, aber auch kein Schindluder mit dem Wissenschaftsanspruch treibt. Zu Punkt zwei: Erzählung ist ein weiter Begriff, welcher Diskursfelder übergreift; erzählend kann Steiner Diskursfelder überschreiten. Also erlaubt der Begriff, sowohl über Naturwissenschaften nach deren Regeln, über Ästhetik nach ihren Regeln, ebenso über Religion und Esoterik zu sprechen und nicht nur von einem Diskursfeld aufs andere zu wechseln, aber Verwechslungen zu vermeiden und Vergleiche anstellen zu können. Zu Punkt drei: Erzähler ist ein plausibles Konzept der Person Rudolf Steiners als einem Wissenschaftler, von dem man mehr erwarten darf als bloße Wissensvermittlung. Ein Erzähler vermittelt Erfahrung, die innerlich reicher macht, die berührt, verändert und die doch zugleich einen sachlichen, neutralen Ton anschlagen kann, der frei lässt, einen Spielraum der Distanz und Distanzierung eröffnet und insofern befreien kann.

Das Konzept des Erzählers bürstet jenes des Charismatikers, der etwas erreichen will, indem er Herrschaft ausübt, gegen den Strich, weil es die Freiheit derjenigen, die zuhören, nicht nur voraussetzt, sondern fordert. Und das Konzept des Erzählers setzt jenes des Charismatikers nicht aus, schließt es vielmehr ein, insofern von der Erzählung bzw. dem Erzähler zwar Faszination und Begeisterung ausgehen, das Gewicht der Verantwortung für das Erzählte sich aber auf die Zuhörenden, die Anerkennenden, die Rezipienten der Erzählung verlagert. Der Erzähler führt zwar, indem er es ist, der die Geschichte erzählt. Aber ebenso sind es in einem umgekehrten Gestus die Lauschenden, die führen, weil sie es sind, die die Geschichte hören, d. h. sich entschieden haben, sie anzuhören, sie möglicherweise anzuerkennen und wertzuschätzen, die zustimmen, abwägen, zurückweisen, weitererzählen, bewusst anders erzählen, sich des Ursprungs ihrer Erzählung vergewissern, ihre Erfahrungen umsetzen.

Die Wirkung des Erzählers ist per definitionem eine gebrochene, eine spielerische, eine im Zuhören ausgehandelte, während die des Charismatikers unmittelbar und direkt durchschlägt. Während der Typus des Charismatikers Gefolgschaft nach sich zieht, verlangt jener des Erzählers Offenheit und Verständnis. Der charismatische Erzähler, der verstanden wird, wird von den Zuhörenden selbstbestimmt verstanden.30 Bei allem nicht zu leugnenden Charisma Rudolf Steiners bleiben sein Werk und seine Wirkung ohne das Konzept des Erzählers unvollständig und unzureichend expliziert. Sein in einem Moment der Ungeduld und vielleicht der Verzweiflung gesprochener Satz, er wolle nicht verehrt, sondern verstanden werden31, könnte als Trennmaß zwischen dem Charismatiker einerseits und dem Erzähler andererseits herhalten, sofern wir überhaupt so strikt trennen wollen. Denn was spricht gegen charismatische Erzähler? Wie auch immer, hier geht es um die Kunst nicht so sehr des Verehrens als des Verstehens Steiners.

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