Читать книгу Lucy in the Sky und die Roten Drachen - Ulrich Markwald - Страница 16

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Gefängnis

In diesen Zellen waren sie nicht allein. Die Vier-Mann-Zelle von Justus war mit sechs Männern belegt. Die Insassen schauten ihn finster an. Er konnte sie verstehen, er nahm ihnen noch mehr von dem wenigen Platz weg. Justus ging gleich in die Offensive. Er erzählte mit den wenigen Brocken Chinesisch und mit etwas Englisch, dass er aus Deutschland käme. Da hellten sich schon einige Mienen auf. Deutschland finden viele Chinesen toll. Als er ihnen dann noch sein Abendessen überließ, eine undefinierbare Reispampe, von der er nichts heruntergebracht hätte, da ließen sie ihn bald in Ruhe und wandten sich ihrem Würfelspiel zu.

Anders sah es bei Lucy aus. Auch ihre Zelle war überbelegt. Als sie hereinkam, hatten sich zwei Frauen gerade geprügelt und bluteten aus verschiedenen Kratzern und Bisswunden. Immerhin begutachteten sie die anderen Frauen erst nur mit den Augen. Lucy erkannte ziemlich schnell die Rangfolge in dieser Zelle. Körperhaltung, Mimik und Gestik und außerdem die Stellung im Raum verrieten ihrem geschulten Soziologinnen-Blick, wer wo in der Hackordnung stand. Welchen Platz würde sie wohl hier einnehmen?

Die Alpha-Frau mit den schwarzen kurzen Haaren kam aggressiv auf sie zu und fasste Lucy in den Schritt. Sie drehte sich dabei zu den anderen um und sagte etwas. Die anderen lachten. Nun machte sie einen Fehler. Als sie sich zurückdrehte, schaute sie Lucy direkt in die Augen. Lucy konnte kein Chinesisch und ob Englisch verstanden worden wäre, da war sie sich nicht sicher. Sie musste improvisieren. Hoffentlich kannten alle die Harry-Potter-Filme… Sie setzte ihren Blick ein. Eine Schockwelle durchlief die Frau, die sofort ihre Hand zurückzog. Sie wollte auch zurückspringen, aber Lucy hielt sie mit ihren stahlblauen Augen fest und begann in Parsel zu zischen, so wie sie es von Harry Potter kannte. Sie war zwar nicht aus Slytherin und konnte natürlich kein Parsel. Aber die Wirkung ihres Zischens war enorm. Alle erstarrten, das Lachen gefror in ihren Gesichtern. Die aggressive Frau begann zu zittern. Sie konnte sich weder vor noch zurück bewegen. Aber Lucy wollte sie einerseits nicht demütigen und andererseits nicht den Rest der Nacht in diesem Zustand verbringen. Sie ließ die Chinesin mit ihrem Blick los und begann munter auf Englisch zu plaudern. Wo sie herkam, wie sie herkam und ob jemand Englisch könne und für die anderen übersetzen könnte.

Tatsächlich war eine der Frauen Lehrerin und spielte fortan die Dolmetscherin. Die anderen Frauen beruhigten sich wieder. Auch die Angreiferin hielt sich - immer noch geschockt - zurück. Alle wollten nun ganz viel von ihr wissen. Über deutsche Gefängnisse und Strafen, dann über Kleidung, Kosmetika und Partys in Berlin. Sie sagten, sie hätten schon so viel über Deutschland im Internet gesehen. Irgendwann wurde es Lucy zu viel und sie sagte, dass sie jetzt Ruhe brauche, dabei schaute sie streng in die Runde und alle schreckten zurück.

Die Nacht verbrachte sie auf einer harten Pritsche, immerhin mit zwei Wolldecken. Sie lag noch lange wach. Wieso geriet ihr Leben immer mehr aus den Fugen? Sie war doch einfach nur Soziologin mit ein paar guten Ideen, wie man den Strafvollzug effektiver und menschlicher gestalten könnte. Und nun saß, vielmehr lag sie, selbst im Gefängnis. Welche Ironie! Wenn bloß nicht dieser blöde Chip gewesen wäre! Was hatte das Leben bloß mit ihr vor? Sie griff nach dem kleinen silbernen Kreuz, das sie immer an einer dünnen Kette um den Hals trug. Ihr Vater hatte es ihr zur Konfirmation geschenkt. Heiße Tränen stiegen ihr in die Augen. Ein Kindergebet fiel ihr ein, das ihre Großmutter mit ihr manchmal abends am Bett gebetet hatte. Sie wusste noch genau, wie ihre Oma es gesprochen hatte:

Lieber Gott, du wohnst im Licht

Meine Augen seh'n dich nicht.

Aber deines Lichtes Schein,

leuchte in mein Herz hinein.

Gib den Menschen deinen Segen

und der Erde einen Kuss,

dass wir all' in Frieden leben,

keiner sich mehr streiten muss.

Justus dagegen ging in seiner Zelle auf und ab. Auf dem harten Boden schlafen konnte er jetzt nicht. In seinem Kopf arbeitete es ununterbrochen. Wie standen ihre Chancen, aus dieser Situation wieder herauszukommen? Es ärgerte ihn, dass es nicht genügend Anhaltspunkte und Daten dazu gab. Also tröstete er sich damit, dass er schon einige chinesische Worte gelernt hatte. Er zählte sie auf und hoffte, dass er sie richtig aussprechen konnte: Essen, Ausländer, Hotel, Gemüse, Hühnchen, Reis, guten Morgen, danke, bitte….

Morgens, es war noch gar nicht richtig hell, bekamen sie Tee und eine Schale mit Reis. Lucy und Justus fragten nach dem jeweils anderen, bekamen aber keine Antwort. Erst gegen Mittag tat sich die Zellentür auf und sie wurden gemeinsam in einen Besprechungsraum geführt, diesmal ohne Handschellen.

Sie wunderten sich, als dann die Polizeichefin mit freundlichem Lächeln eintrat:

Misses Buche, Miste Michelsen, warum haben Sie uns nicht gleich erzählt, dass Sie Gäste de chinesische Regierung sind? In zackigem Tonfall fuhr sie fort: Sie scheine bei einer Flugzeug-Havarie verloren gegangen zu sein! Man sucht Sie und macht sich Sogen um Sie. Die zuständigen Stellen wurden infomiert und Sie weden schnellsmöglich abgeholt. Solange bitten wir Sie unsere Gäste zu sein! Dann wieder etwas weicher: Und ezählen Sie bitte, dass Sie sich bei uns wohl gefühlt haben.

Und ehe sie etwas antworten konnten, wurden sie wieder zu den Zellen geführt, diesmal aber Einzelzellen. Sie bekamen ihr Gepäck wieder – bis auf die Ausweise und ihre Handys – dafür gab es Handtücher, heißes Wasser in einer Schüssel und ein warmes Mittagessen. Das bestand aus Reis, einer hellen Currysoße mit Gemüsestückchen. Und tatsächlich ein Snow-Beer, ein weit verbreitetes chinesisches Bier.

Ob wohl die anderen Gefangenen in diesem Stadtgefängnis auch ab und zu eine solche Behandlung bekamen?

Lucy war verwirrt. War man denn gar nicht sauer auf sie, weil sie abgehauen waren? Oder hatte es wirklich so ausgesehen, dass sie nur „verloren“ gegangen waren? Wenn sie doch nur mit Justus sprechen könnte. Sie sollten doch schließlich bei ihrer Rückkehr mit einer Zunge sprechen. Es war schon naiv gewesen, zu glauben, dass sie aus einem Polizeistaat so einfach fliehen konnten. Da brauchten sie wohl eine intelli-gentere Strategie!

Am nächsten Tag, es hatte schon ein Mittagessen gegeben, wurden sie wieder zur Polizeichefin geführt. Ein weiterer Mann im Anzug stand neben ihr. Er sprach chinesisch auf sie ein und machte immer wieder kleine Verbeugungen. Die Polizeichefin übersetzte:

Es täte ihnen so leid, dass sie bei der Havarie aus dem Flugzeug geschleudert worden seien und dass man sie nicht gleich gefunden hätte. Und man sei froh, dass sie wohlbehalten wiederaufgetaucht seien. Er dankte der Polizistin mit erneuten Verbeugungen. Und er hoffte, dass sie eine gute Behandlung in diesem schönen Gefängnis gehabt hätten.

Lucy und Justus standen da mit offenem Mund, kamen nicht zu Wort, aber selbst wenn, sie hätten nicht gewusst, was sie sagen sollten. Vielleicht: Schön, dass Ihr uns gefunden habt und so nette Denunzianten in den Hotels habt, und danke für den Gefängnisbesuch und super, dass ihr uns jetzt dahin bringt, wo wir garantiert nicht hin wollen…

Lucy brachte dann doch noch ein „Thank you“ über ihre Lippen. Während Justus sich schon auf Chinesisch bedanken konnte: Xièxiè (danke, sprich: chichiä). Wie lernte der das so schnell?

Dann hörten sie, wie ein Hubschrauber landete. Der Regierungsmann, er stellte sich als Dr. Li Zi vor, begleitete sie zusammen mit zwei anderen kräftigen, aber freundlich schauenden Männern zum Hubschrauber.

Lucy rief: Aber ich habe doch Flugangst! Kann ich vorher noch ein Whisky-Cola haben? Aber bis auf Justus, der sich amüsierte, verstand sie niemand. Die Pilotin, die Lucys blasses Gesicht gesehen hatte, hatte wohl Mitleid mit ihr, denn sie bemühte sich um einen ruhigen Flugstil. Nach kaum einer halben Stunde gelangten sie wieder an den Flugplatz. Von der Unglücksmaschine war nichts mehr zu sehen.

Sie stiegen in eine Limousine um, und nach kurzer Zeit befanden sie sich auf einem Highway. Sie wurden jetzt nur noch von einem Fahrer und Dr. Li Zi begleitet. Am Zündschlüssel schwang ein kleiner roter Drache aus Kunststoff hin und her. Der Fahrer war schweigsam, schwitzte in seinem Anzug und roch nach Schweiß und scharfen Gewürzen. Sie dachte an Greg und seinen angenehmen Körpergeruch. Als Lucy bemerkte, dass Justus sich die Landschaft und die Straßenschilder genau einprägte, begann sie ebenfalls, die Gegend aufmerksam zu studieren. Nach einigen Stunden erreichten sie einen großen Gebäudekomplex, der von einem hohen Metallgitterzaun umgeben war. Rote Drachen prangten rechts und links vorm Eingangstor. Wachen und sogar Hunde sicherten das Gelände. Sie wurden in einen großen Besprechungsraum mit wuchtigen Ledersesseln geführt. Bedienstete brachten mit einem Lächeln Tee und Kekse. Es waren keine Glückskekse.

Während sie warteten, besprachen sich Lucy und Justus.

Ich hab‘ das Gefühl, die werden wir nicht so leicht wieder los, sagte Lucy leise zu Justus.

Er flüsterte: Vielleicht lassen wir uns erst einmal auf das ein, was sie vorschlagen. Aber nicht zu voreilig. Sie müssen denken, dass sie erfolgreich Überzeugungsarbeit geleistet haben.

Denkst Du, sie lassen uns laufen, wenn sie haben, was sie wollen? Könntest Du das 10x-Gen hier reproduzieren?

Justus überlegte kurz: Wenn die technischen Laborvoraus-setzungen stimmen und die Computer leistungsfähig genug sind, sie die richtige Software haben, vielleicht. Und wenn das biologische Labor auf dem neuesten Stand ist, wäre das möglich, ja. Aber wollen wir das? Wir beide hatten uns in Pretoria darauf geeinigt, dass dieses Gen niemals in die Biosphäre entweichen darf. Stimmt’s?

Auf keinen Fall, flüsterte Lucy. Meinst Du, wir werden hier abgehört?

Sie wären blöd, wenn sie’s nicht täten. Aber wir dürfen uns auch nicht überschätzen. Vielleicht sind wir gar nicht so wichtig. Auf der ganzen Welt und vor allem in China wird mit Hochdruck in der Genforschung gearbeitet. Wir sind vielleicht nur ein kleines Rädchen in diesem Weltgetriebe.

Wir müssen unsere Gastgeber davon überzeugen, sagte sie leise in Justus‘ Ohr, dass wir unsere Angehörigen, vielleicht sogar die Öffentlichkeit informieren wollen, dass es uns hier gut geht. Und dass wir uns regelmäßig mit ihnen in Verbindung setzen möchten, damit die auch wissen, dass es uns weiterhin gut geht…

Ja, prima Idee! Denkst Du, wir können uns hier auf dem Gelände regelmäßig treffen? Lass uns …

In diesem Moment betraten mehrere Personen den Raum. Instinktiv standen beide auf und verbeugten sich. Justus hatte schon wieder den richtigen Riecher: Hier wurden keine Hände geschüttelt, sondern man verbeugte sich und lächelte.

Dr. Li Zi stellte nun die Menschen vor. Alles erfolgte auf Englisch, das sie ziemlich perfekt beherrschten. Da war einmal Herr Direktor Chiang, der Chef des ganzen Forschungskomplexes. Dann Dr. Han, ein Humangenetiker, der Justus bei seinen Arbeiten begleiten sollte. Des Weiteren Dr. Yü, eine Soziologin, die Lucy in ihrer Arbeit unterstützen würde und eine junge Frau namens Sung, die für ihr leibliches Wohl sorgen und die Örtlichkeiten erklären würde.

Ehe sie Fragen stellen konnten, hielt Herr Chiang eine viertelstündige Rede, bei der alle stehen blieben. Er freue sich, dass sie nun doch den Weg in diesen Think Tank (er benutzte wirklich dieses Wort!) gefunden hätten. Er erwähnte ihre offensichtliche Flucht mit keinem Wort. Er beschrieb die Leistungen der Volkspartei, der chinesischen Wissenschaft, der Wirtschaft und ihre Erfindungen. Stolz hob er einige Dinge hervor, von denen sie noch nie gehört hatten. Weiterhin zeigte er ihnen auf, wie wertvoll er ihren Beitrag schätze und dass sie glücklich sein könnten, an solchen Projekten mitzuwirken. Er bat sie – es klang aber eher wie ein Befehl – sich an die Sicherheitsrichtlinien auf dem Gelände zu halten. Diese bekämen sie jetzt auch schriftlich.

Falls Justus und Lucy gedacht hatten, es würde sich um ein Merkblatt handeln, wurden sie jetzt eines Besseren belehrt. Dr. Li Zi überreichte ihnen mit einer würdevollen Handbewegung ein Handbuch, das bestimmt 300 Seiten hatte. Sie spielten mit und mussten sich aber ein Lachen verkneifen, als sie das dicke Buch wie eine Ehrenurkunde mit beiden Händen in Empfang nahmen.

Any questions? Damit wollte er sich eigentlich verabschieden. Die Macht will immer das Handlungsmoment und das letzte Wort haben, dachte Lucy, die, nachdem sie den ersten Schock überwunden hatte, sich schnell fasste und Herrn Chiang direkt in die Augen schaute und ohne Umschweife fragte:

Direktor Chiang, wir möchten mit unseren Angehörigen in Kontakt treten, damit diese wissen, wo wir sind und damit sie sich keine Sorgen machen. Sie sind doch sicher einverstanden, oder?

Herr Chiang blinzelte einen Moment, war von Lucys stahlblauen Augen irritiert und stotterte: Ja, ja, natürlich…

Da ließ Lucy ihn mit ihrem Blick los. Herr Chiang fing sich wieder und gab jetzt ziemlich laut auf Chinesisch einen Befehl an seine Untergebenen, die sich verbeugten und mit Shì de (jawohl) antworteten. Ohne weiteren Kommentar drehte sich Chiang um und verschwand.

Als sich die Tür geschlossen hatte, begann eine aufgeregte Diskussion zwischen Dr. Li Zi, Dr. Han, Dr. Yü und Sung auf Chinesisch. Während Lucy dem Ganzen sprachlos zuschaute, begann Justus gleich in dem Handbuch zu blättern, es war auf Englisch und Chinesisch.

Nach einigen Minuten hatten sich die Chinesen wohl geeinigt. Sie sprachen jetzt auf Englisch zu ihnen:

Wir lade Sie ein, eine Inteview vor laufende Kamera zu machen. Das stellen wi dann den sozialen Medien zur Vefügung. Außedem können sie gene eine Video-Botschaft für Ihre Angehörigen aufnehmen. Alledings müssen wi Sie dringend darauf hinweisen, dass zu Ihre eigenen Sicheheit es gut wäre, wenn Sie wede Ihren Aufenthaltsot, noch die Sache mit dem Chip erwähnen und ebenso die Flugzeughavarie. Sie haben am eigenen Leib efahren, wie viele Geheimdienste und Gangste hinte Ihnen he sind. Und wi möchten, dass Sie sich hier siche fühlen. Wenn hier alles gut läuft, können sie vielleicht späte übe Telefon oder Skype mit Ihren Angehörigen sprechen.

Sie lächelten alle etwas gequält. Wahrscheinlich standen auch sie mächtig unter Druck von ihrem Chef.

Ok, sagte Lucy, wir machen Ihnen das Leben nicht schwer, und Sie uns nicht.

Jetzt lächelten alle noch einmal – auch Justus.

Dann führte Sung sie zu ihren Zimmern. Unterwegs meinte Justus:

Ist Dir auch aufgefallen, dass Chinesen schon das „r“ sprechen können, aber gerne mal weglassen. Egal in welcher Sprache. In alten Filmen hört man manchmal, dass sie kein „r“ sprechen können, sondern durch „l“ ersetzen. Das stimmt gar nicht.

Hoffentlich sagen sie irgendwann bald mal: ‚Sie können nach Hause fliegen!‘ Lucy lachte sarkastisch, dazu brauchen sie nicht mal ein „r“.

Lucy in the Sky und die Roten Drachen

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