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In der Höhle der Roten Drachen

Als sie von Sung geführt bei Lucys Zimmer ankamen, sagte Lucy zu Justus auf Deutsch:

Lass uns für das Interview etwas ausdenken, woran unsere Angehörigen und Freunde erkennen können, wie es um uns steht. Wir müssen denen unseren Status vermitteln, ohne dass unsere Freunde hier etwas davon mitbekommen.

In jedem Gang sahen sie Kameras. Die Zimmer waren so eingerichtet, wie Chinesen denken, dass es Europäern gefallen könnte. Die Gardinen schienen allerdings aus den 60er Jahren zu sein, Tapeten mit Blumenmustern und eine dunkle Holz- dekordecke. Ein Bett mit beiger Bettwäsche. Ein Stuhl, ein Tisch, eine kleine Kommode aus Kunststoff, auf der ein Fernseher stand. Kugelschreiber mit einem roten Drachen. Papier, ein Plastikbecher und eine Plastikflasche mit Wasser lagen und standen auf dem Tisch. Die Fenster ließen sich nur einen Spalt öffnen. Sie waren vergittert. Ein Spiegel, ein Wasch-becken, es gab nur kaltes Wasser. Es glich eher einer Gefängniszelle, dachte Lucy. Ob hier auch irgendwo eine Kamera angebracht war? Sie schaute sich um, konnte aber nichts finden.

Sie setzte sich aufs Bett. Gerade wollte sie aller Mut verlassen, da sah sie einen kleinen grünen Zweig, der durch das Gitter und das offene Fenster herein wuchs. Ja, dachte Lucy, ich darf nicht verzweifeln, ich will hoffen wieder auf einen grünen Zweig zu kommen.

Nach einer Weile klopfte es. Frau Sung trat ein. Sie brachte Kleidung, Handtücher und einen Plan. Lucy bekam einen grauen Overall, Unterwäsche und Sportschuhe. Der Plan enthielt Zeitangaben für den Tagesablauf. Zwischen Frühstück und Nachtruhe gab es zwei Arbeitsblöcke mit Frau Dr. Yü. Dann noch kleinere Blöcke mit Tai-Chi am Morgen, Fitnessraum am Abend und Besprechung mit dem Projektteam. Alles eng getaktet, keine Zeit für Fluchtpläne schmieden oder Gespräche mit Justus.

Frau Sung lächelte sie an und sagte: Ich führ jetzt herum und alles zeige.

Ihr Englisch war nicht so perfekt wie das der anderen, aber Lucy konnte sie gut verstehen. Während sie nun herumgeführt wurde – Kantine, Garten für Tai-Chi, Fitnessraum, Besprechungszimmer, fiel ihr auf, dass Frau Sung sie immer wieder wie zufällig berührte, sei es, wenn sie sie in einen Raum eintreten ließ oder wenn sie ihr etwas zeigte. Auch schaute sie sie oft an. Ungewöhnlich, dachte Lucy, aber vielleicht hat sie noch nicht oft blonde Europäerinnen gesehen.

Währenddessen hatte Justus in Gedanken schon einen Plan des Geländes und des Gebäudes angelegt. Jeden Gang, den er betrat, nahm er in diese innere Karte auf. Noch gab es viele weiße Flecken auf seinem Plan. Von nun an würde er sich mit seinem Chinesisch zurückhalten, dachte er. Wenn die Chinesen den Eindruck hätten, er würde sie nicht verstehen, wären sie vielleicht nicht so vorsichtig, wenn sie sich untereinander unterhielten.

Er setzte sich auf sein Bett. Es knarzte, die Matratze war hart. Ja, er hatte die letzten Stunden nur seinen Verstand eingeschaltet. Aber wie fühlte er sich hier? Auch wenn er hochbegabt war und sich fast nur auf seinen Verstand verließ, war er doch nicht ohne innere Gefühlswelt. Er schaute sich um. Das Zimmer erinnerte ihn an sein Schullandheim. Da hatte er es allerdings mit seinen Klassenkameraden geteilt. Auch damals fühlte er sich ausgegrenzt, weil er so viel wusste und Interesse an Naturwissenschaften und Sprachen hatte, die Mitschüler aber nur über Fußball, Mädchen und Computerspiele reden wollten.

Und nun? Sein Verstand arbeitete auf Hochtouren, seine Gefühle wurden wieder in den Hintergrund gedrückt. Aber da waren auch keine Ängste oder Traurigkeit. Eher ein Gefühl von gefangen sein, eingeschränkt sein. Ja, das war’s. Der Mangel an Freiheit, tun und lassen zu können, was er wollte, das machte ihm zu schaffen. Und, dass man wahrscheinlich Gewalt oder Drogen einsetzten würde, um sie an der Flucht zu hindern.

Aber es gibt immer einen Weg, sagte er sich. Selbst von Alcatraz, der gefürchteten amerikanischen Gefängnisinsel, waren Gefangene geflohen – sie überlebten aber vermutlich nicht.

Lucy in the Sky und die Roten Drachen

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