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2. Eine Beispielanalyse zur Einführung: SMS

neue Schriftlichkeit

Beginnen wir mit einem Beispiel. Wir wählen die Kommunikationsform telefonische Textnachrichten (per WhatsApp bzw. Short Message Service SMS), weil sie täglich Hunderte von Millionen Mal genutzt wird (s. z.B. <http://de.statista.com>) und mit ihren monomodal schriftlichen kurzen Botschaften leicht zu beschreiben ist. Zugleich können wir eine neue Art von Schriftlichkeit erwarten, die aus medialen Eigenschaften des Mobiltelefons rührt. Denn herkömmliche schriftliche Texte (z.B. in Schulaufsätzen, Briefen oder Büchern wie diesem) waren und sind als stark zeitversetzte (asynchrone) und oft monologische Distanzkommunikation in der Regel gut durchdacht; und man achtet auf möglichst ausgereift strukturierte und formal korrekte Abfassung, damit die Leserin oder der Leser sie unabhängig von einer speziellen Situation verstehen und ggf. mehrfach lesen kann. Die viel kürzeren SMS-Nachrichten hingegen (außer von kommerziellen Absendern mit großem Empfängerkreis) werden auf einer kleinen (Knopf- oder Touchscreen-) Tastatur meist spontan, unter Zeitdruck und für einen kurzfristigen Zweck verfasst. Jenseits des konkreten Anlasses (oft also schon wenige Minuten oder Stunden später) verliert der Text jede Bedeutung. Häufig ist die Nachricht in einen gemeinsamen Handlungsvollzug eingebettet (z.B. bei Pizzabestellung oder Terminvereinbarung). Oft stehen Sender und Empfänger auch jenseits des Mediums in persönlichem Austausch; dann erwartet man schnelle Antwort, und bei Flatrate (wenn also nicht jede SMS einzeln bezahlt werden muss) ergeben sich trotz der räumlichen Entfernung gesprächsähnliche Dialoge in schriftlicher Form.

Hier pflegen zwei 18 bzw. 19 Jahre alte miteinander befreundete Studentinnen ihren Kontakt über WhatsApp. Die Initiative der Jüngeren (oben rechts in Abb. 1) bleibt über die Ostertage eine Woche lang unbeantwortet; der dann folgende Dialog in acht Zügen erstreckt sich über gut sechs Stunden. Die kürzest mögliche Begrüßung „Hi“ in Nachricht #1 kommt ohne namentliche Anrede aus. In brieflicher oder mündlich-telefonischer Kommunikation kommt das so gut wie nicht vor und gälte als äußerst unhöflich. Nur in direkter persönlicher Begegnung kann man bei lockerer Umgangsform auf die namentliche Identifikation verzichten, weil man einander ja von Angesicht zu Angesicht erkennt. Im vorliegenden Fall erkennt die Empfängerin die Absenderin vermutlich über eine automatische Namensanzeige auf dem Display ihres Smartphones. Doch auch der weitere Verlauf des getippten Dialogs zeigt, dass die beiden Partnerinnen einander genügend nahestehen, um auf die üblichen Konventionen ausformulierter Schriftlichkeit verzichten zu können.

Effizienz und Nähe

Es geht um Effizienz und kommunikative Nähe. Nachlässige Rechtschreibung, teils konventionalisierte Abkürzungen sowie partielle Orientierung an Gepflogenheiten aus mündlicher Kommunikation sind die Folge.

Schon der erste Satz enthält, wie auch die folgenden Zeilen, mehrere Rechtschreibfehler, die niemanden stören. Auch im Folgenden nutzen beide Schreiberinnen die schriftsprachlich übliche Unterscheidung in Groß- und Kleinbuchstaben nur vereinzelt; und eine maschinelle Rechtschreibkorrektur scheint gar nicht am Werke zu sein. Strukturell orientiert sich der erste Satz aber an Schriftsprachlichkeit, indem alle relevanten Informationen kompakt zusammengefasst werden; mündlich würde man das eher auf zwei oder drei grammatische Einheiten verteilen. In ähnlicher Weise changiert der folgende und bereits letzte Satz dieser Nachricht zwischen schriftlichen und mündlichen Konventionen: Im lockeren persönlichen Zwiegespräch könnte eine so dicht gepackte Information leicht etwas gestelzt wirken, während umgekehrt das umgangssprachliche „ne“ und die Abkürzung „choreo“ für „Choreographie“ in anderen schriftlichen Kommunikationsformen als SMS und Chat aus dem Rahmen fielen. Die schnell hingeworfene Präposition „durch“ lässt zwar den kreativen Prozess aufblitzen, würde bei schriftsprachlicher Redaktion (z.B. für einen Programmzettel) aber eher durch „mit“ oder, besser, komplexere Formulierungen ersetzt werden. Das abschließende (in der Datenbank aus technischen Gründen nicht darstellbare) Smiley schließlich ersetzt sowohl den schriftsprachlich erwarteten Satzende-Punkt als auch eine in brieflicher Kommunikation erwartete Grußformel. Außerdem nutzt es visuelle Darstellungsmittel, die in mündlicher Kommunikation allenfalls mimisch simuliert werden könnten und in herkömmlicher schriftlicher Kommunikation nur in sehr speziellen Textsorten (z.B. Kinderbriefen) vorkamen.


Abb. 1: SMS-Dialog #3305 aus der von Wolfgang Imo verwalteten SMS-Datenbank MoCoDa <https://www.uni-due.de/~hg0263/SMSDBA> (eingesehen am 14.7.2014)

schriftlicher Dialog

Die Antwort kommt eine Woche später. In mündlicher Kommunikation wäre die lange Wartezeit undenkbar, in schriftlich-brieflichem Austausch die sprachliche Form sogar unverständlich. Sie wirkt wie das wörtliche Protokoll einer unmittelbaren Antwort im mündlichen Gespräch; selbst der in der ersten Nachricht abgekürzt angebotene (mündlich unmögliche) „sa“ wird komplett ausformuliert als „samstag“ aufgenommen. Ob der Antworterin bewusst ist, dass die Fragerin sich auf den bereits vergangenen Samstag bezog, bleibt unklar; sie muss jedenfalls den jetzt folgenden meinen.

Die anderthalb Stunden später folgende Reaktion verschriftlicht im Ansatz (nämlich ohne Fragezeichen) eine sonst nur mündlich vorkommende Interjektion („Hä“), die allgemeines Unverständnis ausdrückt. Allmählich wird klar, dass beide Seiten eine Flatrate nutzen. Einzeln bezahlte SMS, wie früher üblich, hätten wohl kaum zu einem derart engmaschigen Dialog mit so kurzen Beiträgen geführt; vielleicht wären diese Verhandlungen auch eher in einem Telefonat erledigt worden. Fünf Minuten später, noch ohne Antwort, fasst die Initiatorin nach: „Hast du denn mql zeit fur moi??“ Es geht nicht mehr um den ursprünglichen Anlass (Choreographie), sondern um Kontakt überhaupt. Die Schreibfehler in „mql“ und „fur“ verdanken sich schnellem Tippen, während „moi“ (französisch für „mich“) wohl eher ein sanft einschmeichelndes Bitten ausdrückt, wie es in einer ähnlichen Konstellation auch mündlich (kaum aber brieflich) möglich wäre. (Im Sinne von: ‚Ich scheine für dich zwar nicht gerade im Mittelpunkt zu stehen, möchte aber auch nicht ganz vergessen werden.‘)

Gut anderthalb Stunden später geht die ältere Freundin in drei Worten darauf ein, als sei es das Selbstverständlichste der Welt. Gefühle auf beiden Seiten, wie sie in unmittelbarer Interaktion möglicherweise zum Ausdruck gekommen wären, bleiben verborgen. Obwohl Nähe gesucht wird, schützen die technischen Bedingungen des Mediums (Smartphone) und die entsprechenden Gepflogenheiten der Kommunikationsform (Kurzmitteilung) vor zu großer.

Die zustimmende kurze Antwort am späten Abend in Nachricht #6 enthält eine zeitliche Einschränkung („nicht unter der Woche“), die in den binnen weniger Minuten nun folgenden drei Mitteilungen wechselseitig redundant bestätigt wird, ohne dass es zu einem festen Termin kommt. Das einfache Smiley am Ende der letzten Nachricht schließt (wie Interpunktion und Layout bei geschriebenen Texten und beiderseitige Abschiedsformeln bei Gesprächen) die gesamte Sequenz ab.

sprachliche Merkmale

Alles in allem blieb die ursprüngliche und vergleichsweise sehr ausführliche Initiative der jüngeren Freundin unerledigt. Erst nach einer Woche schloss sich ein getipptes Gespräch an, dessen acht Beiträge in der Tendenz immer schneller aufeinander folgten und immer kürzer ausfielen. In der gesamten Sequenz kommen nur vier grammatisch vollständige Sätze vor (zwei davon in Nachricht #1, einer in der zweiten und einer in der vierten Nachricht). Dementsprechend finden sich nur sechs Verben, wobei die vier finiten („Hättest“, „wollen“, „hab“, „hast“) eher als strukturell notwendige Funktionswörter mit schwacher Eigenbedeutung auftreten und auch die beiden infiniten („kommen“, „ausdenken“) nur in nachgeordneter Weise zur Gesamtbotschaft beitragen.

Vor allem die sechs Nachrichten #3 sowie #5 bis #9 sind derart knapp und elliptisch (d.h. nicht in grammatisch vollständigen Sätzen) formuliert, dass sie außerhalb dieses Dialoges völlig unverständlich wären. Diese Eigenschaft teilen sie mit großen Teilen alltäglicher mündlicher Kommunikation (vgl. Schwitalla 2012). Partner in Face-to-face-Gesprächen nutzen zwar konventionalisierte Kurzformen (durch Elisionen) wie „ne“ (Nachricht #1), „hab“ (#2) und „mal“ (#4), nicht aber Abkürzungen wie „sa“ und „we“ (für „Samstag“ und „Wochenende“ in #1 und #7). Vor allem aber versichern sich mündliche Partner parallel auch über Mimik, Gestik und Prosodie (also Akzent, Intonation, Pausen und ähnliche artikulatorische Mittel zur Gliederung der Rede) wechselseitigen Verstehens, was in dieser technisierten Kommunikationsform ausgeschlossen ist. Dennoch reichen in diesen sechs Kurzmitteilungen unter Freundinnen 48 Buchstaben in 13 Wörtern plus vier Anschläge für zwei Fragezeichen und ein Smiley aus: Nachdem der Austausch einmal in Gang gekommen ist, dient die auf Effizienz angelegte Kommunikation ja nur der Verabredung eines persönlichen Treffens.

Die medial bedingte Distanz erlaubt beiden Partnerinnen, wenngleich für die jüngere auf vorübergehend irritierende Weise, unverbindlichen Abstand bei dennoch wechselseitiger Versicherung fortwährenden Kontakts mit der Aussicht auf zukünftigen Medienwechsel und persönliche Nähe. Diese private Konstellation und diese technischen Bedingungen führen zu einer eigentümlichen Mischung herkömmlich gesprochensprachlicher und herkömmlich schriftlichsprachlicher Mittel.

medienlinguistisches Interesse

Medienlinguistik interessiert sich für die besonderen Eigenschaften von Sprachgebrauch in technischen Medien. Bestimmte Medien ziehen bestimmte Kommunikationsformen mit jeweils speziellen, oft auch neuartigen sprachlichen Merkmalen nach sich. Im hier betrachteten Beispiel wären Zeit und Mühe ineffizient verschwendet, wenn die Partnerinnen für einen derart banalen und kurzfristigen Zweck auf ausgefeilte Formulierungen, aufwendige grammatische Konstruktionen und perfekte Orthographie und Zeichensetzung geachtet hätten. Telefonische Anrufe hingegen müssten auf bestimmte Zeiten achten und könnten dennoch unerwünscht „die Lebenswelt des Angerufenen […] durchbohren“ (Flusser 1994: 187). Schriftliche Kurznachrichten per Mobiltelefon bieten sich als schonende Alternative an.

Wie im hier besprochenen Beispiel richten Kommunikationsteilnehmer es normalerweise so ein, dass kommunikative Absicht, äußere Umstände, technische Bedingungen und sprachliche Form mehr oder weniger gut zueinander passen. Medienlinguistik untersucht, wie das geschieht.

Aufgabe 1

(a) Überprüfen Sie an selbst gewählten Beispielen, inwieweit die hier beschriebenen Merkmale auch auf andere SMS-Nachrichten (oder Kurzmitteilungen per WhatsApp, Viber o.Ä.) zutreffen. Fallen Ihnen noch weitere sprachliche Besonderheiten auf? Worin könnten sie begründet liegen?

(b) Wenn Sie in Aufgabe (a) Beispiele aus Ihrer eigenen SMS-Kommunikation betrachtet haben: Bitten Sie Ihren jeweiligen SMS-Partner, das Gleiche zu tun. Diskutieren Sie dann – gern per SMS –, warum Sie teilweise zu anderen Ergebnissen gekommen sind.

(c) Notieren Sie, auf welche Weise sich welche herkömmlich gesprochensprachliche Mittel mit welchen herkömmlich schriftlichen Mitteln verbinden.

Einführung in die Medienlinguistik

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