Читать книгу Einführung in die Medienlinguistik - Ulrich Schmitz - Страница 17
4.3 Dynamische Medien – träge Gewohnheiten
Оглавлениеalte Beschränkungen und neue Potentiale
Jedes neue Medium erweitert und/oder differenziert alte Kommunikationsräume und -möglichkeiten. Jede neue Kommunikationsform überwindet alte Beschränkungen und schafft neue Potentiale. Daraus erwachsen neue Textsorten mit neuen sprachlichen Möglichkeiten. Wo alte Formen (z.B. komplizierte Flexionsmorphologie) oder Techniken (z.B. Fax) sich überlebt haben, verändern sie sich, sterben aus oder werden von neuen abgelöst. Wie bei allen kreativen Prozessen beobachten wir ein fortwährendes Wechselspiel von überlieferten Mustern und neuer Variation, von Verflüssigung (Altes wird aufgelöst) und Verstetigung (Neues wird konventionalisiert). Letztendlich ist es Goethes „Stirb und werde!“ (1948: 299), das alle Geschichte und eben auch Sprachwandel in Medien kennzeichnet.
Wie aber wird nun das Potential genutzt, das neue Medien eröffnen? Neue Medien (z.B. Fernsehen und Computer) ermöglichen stets auch neue Kommunikationsformen (z.B. TV-Sendung bzw. E-Mail). Doch neue Gesprächs- und Textsorten (z.B. Talkshow bzw. Spam) gehen eher aus (nicht selten medial bedingt) veränderten gesellschaftlichen Konstellationen und Bedürfnissen hervor. Hanks (1987) hat das am Beispiel von Yucatan im 16. Jahrhundert gezeigt. Und auch in neuen Medien orientiert man sich oft an alten Kommunikationsformen und Textsorten, vor allem dann, wenn die kommunikativen Bedürfnisse (z.B. informieren, werben, kaufen, grüßen, danken, plaudern, Termine vereinbaren, Sympathie und Liebe bekunden, dissen, schimpfen, beschweren etc.) das noch zulassen.
Denn bei jedem neuen Medium und jeder neuen Kommunikationsform ist man zunächst überwältigt vom Neuen, nutzt es aber nach alten Gewohnheiten. Das Telefon wurde zuerst für Opernübertragungen eingesetzt; die ersten Filme erscheinen wie stummes Theater. Erst nach und nach werden die technischen und formalen Potentiale jeweils neuer Medien entdeckt und erkundet, so „daß zunächst die alten Inhalte in vertrauten äußeren Formen weiter tradiert werden“ (Füssel 1999: 1). So blieben Hörfunk und Fernsehen „lange Zeit an die schriftlichen Vorbilder von Zeitungstexten gebunden“ (Burger 1990: 21), bevor die Produzenten die medienspezifischen Potentiale für mündliche und akustische bzw. dann auch visuelle Kommunikation zunehmend ausschöpfen lernten. Sogar die Tagesschau im Fernsehen orientierte sich anfangs an der Wochenschau fürs Kino.
stilistisches Trägheitsgesetz
Dieses „stilistische Trägheitsgesetz“ (Bausinger 1984: 81) wirkt auch bei den heute neuen Medien: Die ersten SMS-Botschaften wurden wie kurze Briefe oder Telegramme verfasst; heute sind konzeptionell mündliche Dialoge weit verbreitet, wie sie oben in Kap. 2 besprochen wurden. Homepages waren in den 1990er Jahren vorwiegend schlicht textorientiert gestaltet (für Beispiele <https://archive.org>); heute sind sie meistens komplex multimodal aufgebaut. Übrigens auch Medienlinguisten stürzen sich gern auf scheinbar oder tatsächlich neue sprachliche Erscheinungen und untersuchen sie zunächst mit alten Methoden. Wie sollte es auch anders gehen?
Neues wird gewöhnlich
Im Laufe der Zeit werden sowohl neue Medien als auch neue Kommunikationsformen dann immer gewöhnlicher. Erstens werden sie häufiger und von immer mehr Personen genutzt. Zweitens wird das Spektrum der semiotischen Möglichkeiten nach und nach entdeckt und intensiver ausgeschöpft; dementsprechend werden die Anwendungszwecke und -möglichkeiten, also auch Textsorten und sprachlichen Formen, immer vielfältiger. Drittens wandert die anfangs exotische Kommunikationsform immer tiefer in den Alltag immer größerer Bevölkerungsgruppen ein. Im vergangenen Vierteljahrhundert ließ sich das gut an der Ausbreitung und Nutzung des WWW beobachten: erst in jeder Hinsicht exotisch, heute alltäglich und selbstverständlich.
Langfristig wird auf diese Weise das menschliche Leben immer intensiver durchsemiotisiert. Auch dank paralleler anderer technischer Entwicklungen (neue Werkstoffe, Navigationssysteme, Roboter, Computer etc.) wurden und werden körperliche Handlungen und Auseinandersetzungen immer mehr durch weniger materielle Tätigkeiten und stärker zeichengetragene Kommunikation ergänzt und teilweise ersetzt (vgl. Leroi-Gourhan 1980). So spielen auch sprachliche und andere Zeichen in der Geschichte der Menschheit eine immer größere Rolle in immer vielfältigeren Kontexten und Erscheinungsweisen. Ging es früher mehr um Verfügung über Waren, so heute mehr um Zugang zu Ressourcen (Rifkin 2007).