Читать книгу Da! - Ulrich Wessinger - Страница 3

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Geburt

Am Morgen um neun Uhr muss Sophie auf die Entbindungsstation, denn jetzt muss das Kind raus, zu viel Fruchtwasser ist schon entwichen. Ich begleite sie mit den notwendigen Habseligkeiten in Taschen zur Tür der Geburtsräume, betreten darf ich sie nicht. Das würde erst in der letzten Phase der Geburt, wenn das Kind dabei ist, heraus zu kommen, erlaubt. Sophie würde mich rufen, wenn es so weit sei. Ich spüre mein Handy in meiner Hand, das ist jetzt meine Verbindung zu ihr, küsse sie und sehe wie die Tür vor meiner Nase zuklappt. Jetzt muss ich warten wie alle anderen auch, die mit bangen Mienen auf den roten Plastikschalen hocken.

Ich gehe spazieren und wandere im Schneetreiben durch die Strassen, vorne an der Ecke bei der U-Bahnstation wächst ein riesiger Koloss in den grau verwehten Himmel empor, zwei mächtige Türme ragen in den weissen Nebel hinein. Lächerlich winzig wie aus einem mittelalterlichen Dorf sehen dagegen die kleinen Häuschen aus Kolonialzeiten aus, die in derselben Straße noch stehen. Ich habe mich schon oft gewundert und ich tue es immer noch und immer wieder, wie die etwas schmächtigen, in der Mehrzahl kleinen, jedenfalls was die ältere Generation betrifft, kleinen Menschen solche gigantischen Ungetüme aus Stahl, Glas und Beton bauen können, die in Shanghai und den großen Städten überall herumstehen in großer Zahl und ständig kommen neue dazu. Allerdings habe ich, wenn ich sie sehe, meistens das Gefühl, als seien sie nicht echt, sie kommen mir vor wie aus Pappe, Kartenhäuser, die jeden Moment einstürzen könnten.


Sophie bekommt eine Infusion und die Schmerzen setzen schnell ein in einer Intensität, die weit höher scheint als das was sie beim ersten Versuch erlebt hat. Auch die Geschwindigkeit mit der die Atempausen zwischen den Schmerzintervallen verschwinden ist höher. Wenn Sophie daran denkt, dass dies erst der Anfang ist und es dann meistens viele Stunden dauert bis die Geburt einsetzt, kann sie die Schmerzen kaum mehr ertragen. Eine Frau neben ihr brüllt immer wieder wie ein Tier und schreit dazu nach einer Operation, die sie endlich von der Raserei erlösen soll. Aber die Schwestern kennen das schon und lassen sie mit ein paar tröstenden Worten wieder allein und weiterschreien.

Ich hatte gehofft, dass gegen Mittag die frohe Botschaft kommt und ich in die Entbindungsstation gerufen werde, aber um zwei Uhr ist immer noch keine Nachricht gekommen. Immer wieder schaue ich auf das Display, überprüfe ob das Handy auch genug Strom hat, das Handy scheint völlig in Ordnung, aber ist Sophie in Ordnung? Ich rufe an und Sophies Stimme scheint weit weg zu sein, völlig erloschen, am Ende ihrer Kräfte. Ich mache ihr Mut so gut ich kann, je länger es dauert, desto näher kommt die Geburt, sage ich, Sophie weint.

Gegen drei kommt ihre SMS, dass sie es aufgegeben habe, eine natürliche Geburt zu erwarten, jetzt könne nur eine Operation noch helfen. Sophie ist verzweifelt, die Schmerzen halten ungemindert an. Ich stehe draussen auf der Strasse und schaue den im Rohbau stehenden Turm entlang nach oben in den verhangenen Himmel und eine dunkle Wolke der Angst und Bedrückung liegt über mir. „Bitte Vater, hilf Sophie, dass alles gut geht, dass das Kind gesund zur Welt kommt und Sophie das gesund überlebt! Bitte Bitte! lass die Geburt endlich losgehen!“ rufe ich still nach oben in den Nebel hinein.

Gegen vier tauchen zwei Frauen auf, eine Ärztin und eine Schwester, die Sophie Hoffnung geben, die Vagina sei schon zwei Finger weit offen, wenn sie drei Finger weit offen sei, könne man den Geburtsvorgang einleiten. Ausserdem sagen sie Sophie, dass die Schmerzen bei der eigentlichen Geburt nicht stärker sondern geringer seien als jetzt. Sophie fällt ein Stein vom Herzen: Wirklich? Sie kann es nicht glauben, außerdem würde sie ganz sicher auch ein Schmerzmittel bekommen. Und eine Hebamme sei bei ihr, eine Ärztin stehe auch bereit. Die beiden kommen ihr wie Engel vor.

Gegen fünf plötzlich Sophies Anruf, ich soll kommen, es geht los!

Ich renne hoch zur Entbindungsstation. Sophies Mutter steht besorgt an der Tür. Sie ist schon informiert, drückt mir eine Tasche mit Wasserflaschen und Papiertaschentüchern in die Hand. Ich werde hineingelassen, muss blaue Kunststoffhüllen über meine Schuhe ziehen. Sophie kommt mir entgegen, einen blauen Bademantel um, ihr Gesicht aufgelöst in Tränen, sie sinkt in meine Arme. Ich bin dankbar dass ich das jetzt erleben darf, irgendetwas Grosses geschieht und ich bin Teil davon.

Mühsam schleppt sie sich von mir gestützt in einen der Entbindungsräume, es gibt vier oder fünf auf dieser Station. Dann wird sie tatsächlich auf so einen Liege gehoben, wie ich sie schon in Filmen gesehen habe. Links und rechts Stützen für die Beine, die Beine weit auseinander, ich werde zum Kopfende des Bettes bugsiert, wohl damit ich nicht so genau sehen kann, was dort unten los ist, wo das Kind jetzt sehr bald rauskommen muss, so hoffen wir. Zwei, drei Schwestern kümmern sich jetzt um Sophie. Rechts von mir hinter einem blauen Plastikvorhang ist eine andere Frau dabei, ein Kind zu gebären. Eine Schwester, vielleicht eine Hebamme feuert die Schwangere an mit „ Laile Laile Laile Laile Laile Laile Laile!“

Es kommt es kommt es kommt es kommt es kommt!

Und immer wieder in voller Lautstärke: „Laile Laile Laile Laile Laile Laile Laile!“

Mit hoher fasst kreischender Stimme wie ein irrer Singsang... „Laile Laile Laile Laile Laile Laile Laile!“

Jetzt sagt die Geburtshelferin zu Sophie, sie solle rythmisch einatmen und dann drücken mit aller Kraft, und ausstoßen das Bündel.... und „Laile Laile Laile Laile Laile Laile Laile!”

Jetzt ruft auch eine der unseren Schwestern den beschwörenden Gesang in den Raum.

Immer wieder versucht es Sophie, aber nichts bewegt sich.

„Laile Laile Laile Laile Laile Laile Laile!”

Die Bewegungen der Schwestern um uns herum sind schnell, hektisch, als ob es ganz eilig wäre, wollen sie nach Hause? Warten in anderen Zimmern andere Gebärende auf sie? Die Stimmen fliegen schrill im Raum herum, der ringsum blau gekachelt ist, auch der Boden, eine weiße große Uhr so groß wie eine Bahnhofsuhr an der Wand. Ein halbvoller blauer Plastik-Abfalleimer neben mir. Neonlicht hell. Geräusche von Metall auf Stein oder Eisen scheppern.

Und wieder: „Laile Laile Laile Laile Laile Laile Laile!”

Sophie gibt sich Mühe, schreit vor Schmerz, atmet, drückt, eine Ärztin greift in die Öffnung, scheint sie zu weiten mit rotierenden Bewegungen. Aber die Öffnung ist noch nicht weit genug. Dann bekommt Sophie das Schmerzmittel, ein Einstich im Schulterbereich, eine Infusion....Sophie entspannt sich, endlich....Nach wenigen Minuten schaut sie mich glücklich an...Die Schmerzen sind weg.

Und dann weiter atmen, arbeiten, drücken, pressen, herausdrücken....oh Gott, komm raus, mein Stossgebet zum Himmel! „Laile Laile Laile Laile Laile Laile Laile!”

Plötzlich ein heftiges Warnsignal, ein laut schnarrender Ton rhythmisch sich wiederholend, ein rotes Lämpchen leuchtet dazu alarmierend an einem Messgerät auf, das den Herzrhythmus des Kindes anzeigt. Ich schrecke zusammen, alle schrecken zusammen, was ist los?

Eine Ärztin stürzt herein, alle schauen sie an, sie gibt knapp und schnell ein paar Anweisungen, eine Atemmaske wird Sophie über das Gesicht gestülpt, sie soll tief einatmen, Sauerstoff, der Herzschlag, der Herzschlag des Kindes soll sich verlangsamt haben, Lebensgefahr, wenn das zu lange dauert, muss sofort unten aufgeschnitten werden, ist es jetzt so weit oder soll man noch einen Augenblick warten? Das Lämpchen leuchtet rot und gefährlich auf und ab und der Alarm-Ton schrillt mir in den Ohren, ich starre wie gebannt auf die Ärztin, die unglaublich schön ist, mir scheint, ich habe noch nie so eine schöne Frau gesehen…Sophie atmet heftig unter der transparenten Maske, ich kann ihr lautes Schnaufen hören, der Lärm das rote Lämpchen …die heftigen Atemzüge Sophies, unser Kind…..

Da...zum Glück, das Warnsignal erlischt, Gott sei Dank, ein Aufatmen geht durch die Schar der Frauen um Sophie. Sie schauen sich erleichtert an. Die Göttin, die schöne Ärztin, lächelt und verlässt wieder den Raum.

Und wieder arbeiten.... „Laile Laile Laile Laile Laile Laile Laile!”

Und drücken und preßen

Sophie ist erschöpft, seit neun Uhr morgens Schmerzen, und jetzt das Schmerzmittel, alles was sie jetzt noch will ist schlafen, sie kann nicht mehr. Aber die Hebamme treibt sie an: „Laile Laile Laile Laile Laile Laile Laile!”

Plötzlich schnarrt das Messgerät wieder los, so laut dass es durch die ganze Station schallt. Sofort erscheint die Göttin wieder. Ein kurzer Wortwechsel, dann sehe ich eine andere junge Ärztin eine große silbern blinkende Schere nehmen. Die Schere erinnert an die riesigen Zangen mit denen man ein Fahrradschloss aufknacken kann. Das muss der berühmte Dammschnitt sein, denke ich noch und dann geht alles ganz schnell, eine schnelle Handbewegung und die Ärztin greift hinein und zieht und zerrt am Hals ein kleines rotes Kind heraus, dessen Schädel merkwürdig verquetscht scheint, aber plötzlich greift die Göttin mit einer Hand nach dem Kopf des Kindes und drückt ihn mit Daumen und Fingern wie einen Schraubstock zusammen, so dass er ganz überraschend eine neue Form gewinnt, der Schädel quillt unter ihrem Griff empor und bildet eine hohe Stirn und einen ausgeprägten Hinterkopf. Ich starre auf das Geschehen wie gebannt, damit hatte ich nicht gerechnet, was macht sie denn? Niemand kommentiert was sie macht, niemand protestiert oder wundert sich....

Dann wird mit ein paar Griffen die Nabelschnur abgetrennt und das Kind abgerieben, vom Blut und weißer Schmiere gesäubert und dann hebt eine Schwester das Kind hoch, streckt uns beiden dessen Unterleib entgegen und ruft: „ Ein Mädchen!“

Überraschung! Ich hatte mit einem Jungen gerechnet, weil ich so ein Gefühl hatte, so eine Vorahnung....naja, was solls, ein Mädchen ist auch gut. Sophie hatte schon jedoch ein Mädchen erwartet, gehofft, es werde ein Mädchen, weil sie darauf hoffte, eines Tages die beste Freundin dieses Mädchens zu sein.

Ich bin enttäuscht, als kurz danach unser kleines Kind einfach weggetragen wird. Es werde gewogen, gemessen, versorgt, registriert....später würden wir es wiedersehen. Aber wie viel später sagt man uns nicht. Ich hatte gehofft, es werde Sophie auf den Bauch gelegt werden, der erste Kontakt direkt nach der Geburt sei sehr wichtig für die emotionale Beziehung zwischen Mutter und Kind hatte ich irgendwo gelesen vor langer Zeit und deshalb würde das jetzt in einigen Kliniken auch so gemacht. Hier jedenfalls nicht.

Jetzt beginnt eine Schwester Sophie unten zu nähen, die aufgerissene Öffnung wieder in die alte Form zurückzuversetzen. Sie geht ganz fachmännisch vor mit einer grossen Nadel und einem langen Faden Garn oder was immer das Material ist. Sophie unterhält sich währenddessen mit mir, als würde nichts geschehen, während die Schwester immer wieder die Nadel einsticht wie in ein Stück Stoff und sie dann durchzieht, den Faden langzieht und wieder einsticht. Sophie lächelt, strahlt, ist glücklich, weint, schaut nicht nach unten, will das nicht sehen, was dort geschieht. Sie ist glücklich, wir haben es geschafft. Wir halten uns die Hände. Mir kommt sie eine Ewigkeit lang vor, die Zeit, die die Schwester braucht für das Nähen, wann hört sie denn endlich auf? Was ist denn da unten alles zerrissen?

Später wird Sophie in einem fahrbahren Bett hinunter auf ihr Zimmer geschoben und dann kommt auch schon unser Kind, in einem kleinen Bettchen wird es zu uns geschoben. Es sieht unglücklich aus, ein kleines rotes verquetschtes Gesicht, das aus den weißen Decken herausschaut, die Augen kaum geöffnet, ab und zu schreit es, kräht sein Unglück in das Zimmer, aber nicht laut, seine Stimme scheint noch weit weg zu sein, noch nicht ganz da. Sophies Vater steht davor, auch ihre Mutter, beide lachen und antworten mit liebevollen Lauten, eine „Ai“, die wir bezahlen, kümmert sich jetzt um das Kind, hebt es aus dem Bettchen, und reicht ihm eine Milchflasche, an der es begierig nuckelt. Es lebt. 28. Dezember 2013. Anna ist da!

Da!

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