Читать книгу Da! - Ulrich Wessinger - Страница 6

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Hoffnung

Das mit der Milchpumpe ist eine gute Idee. Die Arbeit übernimmt jetzt eine Maschine. Nicht mehr der weniger starke Mund des Kindes muss die Milch aus der Brust saugen sondern dieser im immer gleichen Rhythmus arbeitende Motor, der seltsame Laute von sich gibt und wie eine Dampflok vor sich hin stampft und ab und zu schmatzende Geräusche erzeugt, wenn Sophie die Lage des Saugnapfes verändert. Der Rhythmus der Milchentnahme kann vom Rhythmus des Milchtrinkens entkoppelt werden, die Milch wird in Flaschen in den Kühlschrank gestellt und muss bei Bedarf nur noch erwärmt werden. Die Maschine ist ziemlich teuer, aber Sophie hat eine Service-Agentur gefunden, die Maschinen verleiht.

Die Februarsonne liegt milchig im Zimmer, Anna hat einen dick gefütterten Ganzkörper- Anzug an, liegt auf dem Rücken in ihrem Bettchen und schaut mich angestrengt an, ihre Augen wandern hin und her gegenläufig, sie schielen, so könnte man das nennen. …..ihr Mund ist in ständiger Bewegung als kaue oder schlucke sie etwas, aus ihrem bewegten und leicht leidenden Gesichtsausdruck lese ich, dass sie mir etwas mitteilen möchte, aber sie weiß nicht wie.

Plötzlich fällt es mir ein, wie ich als kleines Kind in einem Bettchen lag…..ich konnte mich nicht viel bewegen und lag da wie krank und stundenlang kümmerte sich niemand um mich.

Wie ewig langsam, wie quälend langsam die Zeit verstrich und an der Zimmerdecke war nichts mehr Neues zu entdecken, ja dort eine kleine Ritze und ein Schatten, der wanderte von der Sonne getrieben langsam über diese graue Fläche dort oben und die Geräusche von draußen, ein Gelächter, Gespräche, Geklapper von Geschirr aus der Küche, bellende Hunde, eine Stimme von unten auf der Straße, ein schreiender Hahn…. und ab und zu kamen die beiden Brüder vorbei, der eine zwei, der andere fünf Jahre älter als ich und gackerten etwas über die Brüstung der Gitterstäbe aus Holz hinweg in mein kleines Reich hinein, warfen mir etwas zu wie einem gefangenen Tier im Zoo, lachten über mich, über den kleinen dummen Tollpatsch dort unten, der blöd aus der Wäsche guckt, tief traurig, weil er so einsam ist und sich kaum regen kann und seine Welt so klein….

Ich fühlte mich maßlos unterschätzt und behandelt wie ein Sklave, der eine Strafe verbüßen muss tief unten in einem Verließ. Die Welt war schlecht zu mir. Und was dachten die eigentlich wer ich bin, ein Idiot? Schon war ich da mit meiner ganzen Seele groß und weit und voll unermesslicher Möglichkeiten, aber gefangen in einem winzigen plumpen Körper in einem kleinen Gitterbett in einem Reihenhaus in einem kleinen Dorf im Norden Badens.

Meine Mutter hatte sehr wenig Zeit für mich, sie hatte noch zwei andere Kinder, ein großes Haus und dessen Haushalt zu versorgen, dazu noch eine Menge Land geerbt von Vaters Vater, der einst Bauer gewesen war. Auf diesem Land pflanzte meine Familie Obst und Gemüse an, außerdem Blumen, die Gärten waren weit verstreut in verschiedenen Gegenden, manche waren nur durch einen halbstündigen Fußmarsch zu erreichen. Die Gärten wurden nicht nur zur Selbstversorgung betrieben, sondern auch zum Verkauf auf dem städtischen Markt, in den Sommermonaten vor allem zogen Vater und Mutter jeden Samstag Morgen zum Markt in die Stadt, um Blumen, Obst und Gemüse zu verkaufen.

Eine Haushaltshilfe gab es nicht, die Eltern meiner Mutter lebten weit weg, zweihundert km entfernt und die Eltern meines Vaters hatten eine Landwirtschaft zu betreiben und keine Zeit.

Manchmal schrie ich lange und weinte bittere Tränen, aber oft nützte das alles gar nichts und dann gab ich es auf, verstummte und weinte vor mich hin bis auch diese Tränen vertrockneten und ich begann, mich mit meiner Lage abzufinden und ich entdeckte, dass es so schlimm gar nicht war. Ich konnte meine Hände betrachten, die sich bewegenden Finger spielen sehen und das Holz der Gitterstäbe mustern, die verspielten Maserungen, die ornamentalen Verschlingungen im Gewebe des Holzes, ich konnte das kleine hölzerne Spielzeug in meinen Händen begutachten, herumdrehen, hin und her wenden, auch mich selbst herumdrehen, den Kopf hin und her drehen und ich wunderte mich, was ist hier los?

Wer bin ich? Wo bin ich? Was ist das eigentlich, was da um mich herum ist? Vage konnte ich mich an den Moment erinnern, als ich den Mutterleib verließ, eine Art Durchquetschen und dann Sturz durch eine Höhle in eine grelle andere Welt, die sehr laut war und unbequem, im Vergleich zu dem zufriedenen Herumgeschaukelt werden im dämmrigen Halbschlaf.

Dann die seligen glückseligen Momente wenn die Tür aufging und Mutter oder Vater endlich erschienen wie strahlende Götter und mich auf nahmen, emporzogen und in ihren Armen herumtrugen…. Emporhoben der Sonne entgegen. Die begütigenden Worte meiner Mutter, ihre weichen Arme, die klebrige Masse zwischen den Beinen, aus der sie mich befreite und die Meute der eifersüchtigen Brüder, die wie scharfe Hunde um die Mutter herumhechelten und emporbellten, um mich von dem bevorzugten Platz aus Mutters Armen zu vertreiben, mich vom Thron auf Mutters Schoss herabzuziehen.

Alleine ist Anna nicht. Es ist immer jemand in ihrer Nähe, so bald sie laut wird und klagt, wird sie in die Arme genommen. Manchmal sitze ich stundenlang mit ihr in unserem Lehnstuhl und halte sie, dämmre vor mich hin, schlafe ein, wache wieder auf. Es ist ein schönes Gefühl, dem kleinen Menschen alle meine Wärme und Nähe zu geben....

Ich lasse eine Hose, deren Naht am Beinende aufgegangen ist, bei einer älteren Frau reparieren, die nicht weit von unserem Wohnbezirk entfernt in einem kleinen Verschlag an einer Strassenkreuzung ihre Werkstatt eingerichtet hat. Sie arbeitet an einer Fussbetriebenen „Singer“-Nähmaschine, wie sie meine Mutter noch hatte, als ich ein Kind war. Sie ist eine freundliche, etwas dicke Frau, warm eingepackt in mehrere lange Röcke, von einem kleinen Heizgerät aus der Ecke bestrahlt, sitzt sie vor übereinandergestapelten Hosen, Röcke, Jacken, die ganze kleine Bude ist voll von abgetragenenen Kleidungsstücken, Kleiderhaufen, Kleiderbündeln, so dass nur Platz ist für die dicke Frau vor der Nähmaschine. Kunden stehen an der Tür. Ich muss ein bisschen warten, weil vor mir grade jemand etwas abohlt. Der Verkehr an der dicht befahrenene Strasse braust an uns vorbei. Dann bin ich an der Reihe, sie schaut mich freundlich an mit klugen blitzenden Augen. Aha Ausländer...Aus Deutschland? „Wie gefällt es Ihnen hier?“ „Die Leute sind nett, aber die Stadt, zu groß für mich, ich bin ein Junge von Land, mag die Stadt nicht so“ Sie lacht. Vor meinen Augen surrt das Schwungrad, in ein paar Minuten ist die Hosennaht geschlossen. Sie will drei Yuan, ungefähr vierzig Cent Ich gebe ihr mehr, sie protestiert, aber ich fahre einfach weg. Sophie erzählt mir später, ihre Mutter habe schon öfters bei der Frau Kleider reparieren lassen und ihr habe sie erzählt, dass sie jeden Yuan zusammenspare für ihre Tochter, die studiert. Im Fernsehen sah ich zufällig bei Sophies Mama einen Bericht über eine Mutter, die Lumpen, Gerümpel, Flaschen und Pappe sammelt, wie es die Ärmsten tun, für ihren Sohn, der studiert. Sie lebt armselig in einer Hütte, ißt sehr einfach und gönnt sich nichts, nur damit ihr Sohn es einmal besser haben kann. Alles in Bildung zu investieren ist eine uralte Tradition in China, wo schon in den kaiserlichen Dynastien der Aufstieg in die höhere Beamtenschaft allen offen war, die die entsprechenden Prüfungen schafften.

Es klingelt. „Jin Jin!“ sagt Sophie. Ihre Augen leuchten. Endlich! Jin Jin ist gekommen.


Sie öffnet die Tür und späht hinaus. Ich gehe auch zur Tür, Anna auf meinem Arm, die ebenfalls ganz gespannt zur Tür blickt. Dann hören wir Schritte, die Treppe hoch und eine junge Frau kommt uns entgegen, zwei schwere Taschen tragend, lächelnd, Sophie und Jin Jin fallen sich in die Arme, reden aufgeregt aufeinander ein, Sophie hat Tränen in den Augen, Jin Jin ist gekommen, ihre Cousine und engste Freundin.

Sie lebt seit einem halben Jahr in Chu Hai, einer Stadt ganz im Süden Chinas, in der Nähe von Hong Kong, direkt am Meer, gegenüber dem Glücksspiel-Paradies Macao. Gestern ist sie angekommen, über Nacht bei Onkel Shu Shu, dem Koch, geblieben, bei dem sie vorher jahrelang mit ihren Eltern gelebt hatte und jetzt am nächsten Morgen zu uns gekommen. Zuerst wird natürlich die kleine Anna begrüßt, Jin Jin darf sie sogar in den Arm nehmen, aber Anna scheut ein bisschen und weint, da wird sie an mich zurückgegeben, schutzsuchend klammert sie sich an mich und äugt dann ängstlich aber auch neugierig aus meiner Armbeuge zu dem neuen Menschen in der Wohnung. „Komm erst mal richtig an hier“ sagt Sophie und zeigt Jin Jin das Zimmer, in dem sie die nächsten vier Wochen bei uns leben wird. Ein kleiner Raum mit einem großen Bett und einem Fenster, das ein wenig schattig ist, weil es etwas zurückgesetzt von vorspringenden Mauern umgeben ist und der gegenüberliegende Häuserblock nicht allzu weit entfernt. Aber Jin Jin ist zufrieden, die letzten Jahre hatte sie nachts auf einem Sofa in dem Zimmer bei ihrem Onkel geschlafen, wo jedes Jahr das Frühlingsfest stattfindet. Und das ist ein Durchgangszimmer, weil der Onkel, wenn er aus seinem Schlafzimmer zur Toilette, zum Ausgang oder in die Küche gehen will, durch ihr Zimmer gehen muss. Immerhin hat sie bei uns ein eigenes Zimmer, und im Schrank Platz für ihre Kleider. Eine Kungtiao, ein Heizgerät über ihr an der Wand. Das Bett ist gemütlich und von dicken warmen Decken belegt. Draussen ist es kalt und regenerisch, Anfang Februar.

Zuerst muss Jin Jin natürlich erzählen, wie es ihr denn jetzt geht in der großen Stadt im Süden.

Sophie und Jin Jin hocken sich zusammen am Esstisch und ich setze mich in der Nähe mit Ana aufs Sofa, die immer ihre Augen bei Jin Jin hat. Die ist ein wenig traurig und enttäuscht, weil sie Ärger hat mit ein paar Mitgliedern ihrer Kirchengemeinde, für die sie für geringen Lohn arbeitet. Es ist keine offizielle Kirche, sondern eine so genannte Hauskirche, wie es sie zu Tausenden in China gibt. Die offiziellen Kirchengemeinden benutzen die alten Kirchenbauten aus Kolonialzeiten, oder dürfen neue bauen, werden aber streng kontrolliert von den staatlichen Behörden, die Hauskirchen sind nicht staatlich kontrolliert, werden widerwillig geduldet und sind ständig Schikanen und Repressalien ausgesetzt, verbreiten sich aber vielleicht gerade deswegen rasant im ganzen Land. Diese Gemeinden treffen sich in Wohnungen, Hotelsälen und angemieteten Räumen. Die Hauskirche, der Jin Jin angehört, ist ziemlich klein, bei Gottesdiensten sind zwanzig bis dreißig Leute versammelt, manchmal auch fünfzig, ein paar Hundert Leute verstehen sich als Christen im Umkreis dieser Gemeinschaft. Vor einem Jahr ist Jin Jin zu einem Bibelkurs in die Berge gezogen, in einer entlegenen einsamen Gegend in der Provinz Zhezjang, wo sie mit 20 anderen jungen Leuten in einem Haus auf engem Raum drei Monate lang zusammen lebte. Es war Winter und kalt, auch im schlecht beheizten Haus, aber es war, wie sie sagte, eine intensive und schöne Zeit, vor allem das Gemeinschaftsleben hat sie sehr genossen. Dort traf sie auf Leute aus Chu Hai, die sie einluden, zu kommen und bei der Gemeindearbeit zu helfen. Onkel Shu Shu, bei dem sie wohnte, war entsetzt. Er hat mit dem Christentum nichts am Hut. Er hatte gehofft, dass sie bei ihm bleibt und ihn in seinem Alter versorgt und pflegt. Außerdem hatte sie in Shanghai eine nicht gut bezahlte aber sichere Stelle in der Verwaltung eines Wohnbezirks, ihre Verwandten und ihre Sicherheit. Das alles wollte sie aufgeben für eine kümmerliche bezahlte Stelle irgendwo im Süden bei Christen?

Jin Jin ist eine hübsche, schlanke, junge Frau, mit schönen Gesichtszügen, großen feingeschwungenen Augen und langen samtschimmernden Haaren. Leider ist sie jetzt schon knapp über dreißig und noch Jungfrau. Das ist eine Art Todesurteil für eine chinesische Frau, dreißig ist die Grenze, danach hat sie es sehr schwer, noch einen Mann zu finden. Steuert eine Frau unverheiratet auf die dreißig zu, verfällt sie in Panik, das Tor schließt in wenigen Jahren, Monaten, Tagen, ein Mann muss her, da helfen dann auch die Eltern, Großeltern und Verwandten, in dem sie im Freundes-und Bekanntenkreis Ausschau halten nach einem geeigneten Kandidaten und dann die Kontakte knüpfen. In Shanghai, im Zentrum der Stadt, am Peoples Square, gibt es in einem Park einen Heiratsmarkt, wo Eltern und Großeltern ihre noch unverheirateten Kinder auf Plakaten anpreisen und dann über mögliche Verbindungen palavern. Bei Jin Jin ging mit dem Heiraten etwas schief, wahrscheinlich vor allem deshalb, weil sie jahrelang darin verstrickt war, Vater und Mutter, die beide hinter einander an Krebs erkrankten, in den Tod zu begleiten. Diese traurige Geschichte hat einen gewissen Schatten in ihrem Gesicht hinterlassen und immer noch etwas bitter nach unten ziehende Mundwinkel. „Und wie steht es mit der Liebe, hat sich was Neues getan?“ will Sophie wissen. „Ach je,“ Jin Jin seufzt. Zwei Männer seien jetzt an ihr interessiert, beide aus ihrer christlichen Gemeinde. Aber der, in den sie verliebt sei, habe einen Rückzieher gemacht. Sie zeigt uns das Bild ihres Auserkorenen auf ihrem Handy. Ein großer, stark aussehender junger Kerl mit einem breiten Lachen des Siegers umgeben von ein paar Frauen, die ihn umschwärmen und ein paar Männern im Hintergrund. „Und der andere Mann?“

Der sieht nicht so gut aus. Sehr jung, bübisch, etwas schüchtern. Eine dicke Brille auf einer Knollennase. Auf einem Bild sieht man ihn an einem Schlagzeug sitzen, aber er sitzt dort wie ein Sonntagsschüler in einem Rocker-Club. Ganz vorsichtig hält er die Trommelschläger in der Hand und streichelt damit die Trommelfelle… Er arbeitet in einem Musikladen. Er ist fast zehn Jahre jünger als sie. „Warum hat es denn mit dem anderen nicht geklappt?“

„Ach… er hat mir jetzt gesagt, dass wir irgendwie doch nicht zusammen passen“ Jin Jin schaut traurig in die Tasse Tee, die Sophie ihr vorgesetzt hat. Sie glaubt, dass dessen Vater dabei eine Rolle gespielt habe. Sie sei ihm wohl nicht standesgemäß gewesen. Zu arm, keine ordentliche Familie im Hintergrund.. Offensichtlich kein christlicher Vater. Der Schlagzeug-Junge aber hat christliche Eltern.

Das Veto des Vaters hat starkes Gewicht bei jungen Männern und Frauen. Chinesische junge Leute sind ganz anders als deutsche viel stärker noch in die Familie eingebunden, leben meistens noch zu Hause bis zur Heirat, sind auch viel stärker von ihren Eltern finanziell abhängig. Vor allem die Söhne, weil sie eine eigene Wohnung brauchen, wenn sie heiraten wollen. Und das wollen sie. Ohne offizielle Heirat zusammen zu leben, ist zwar jetzt in China möglich und wird langsam immer mehr gesellschaftlich akzeptiert, aber es ist doch im Augenblick noch eine verschwindend kleine Minderheit in den großen Städten, die das ausprobiert. So wie eine Frau keine Chancen bei Männern hat, wenn sie über dreißig ist, hat ein Mann keine Chancen bei Frauen, wenn er keine Wohnung oder Haus hat. Und in der Regel braucht er dafür die finanzielle Hilfe der Eltern. Zumal die Wohnungspreise in den Städten enorm in die Höhe geschossen sind in den letzten Jahren. Nur bei den Christen sind diese Regeln nicht so wichtig, so sagt man. Es geht sogar das üble Gerücht um, es würden deswegen viele Männer Christen, weil sie keine Wohnung hätten und hofften, bei christlichen Frauen landen zu können, die mehr an charakterlichen als an materiellen Werten interessiert seien.

Um elf verschwindet Jin Jin in der Küche und man hört christliche Weisen aus der Küche durch die Wohnung tönen, weil sie einen kleines Musikgerät mitgebracht hat. Ich lausche an der Tür, weil ich die Musik interessant finde, amerikanisch angehauchter Pop mit Gospelelementen, das Ganze auf Chinesisch, soll aus Taiwan kommen, sagt mir Jin Jin, sei in ihrer Gemeinde sehr beliebt. In ihrer Suppe liegen dicke Knochen mit Fleisch ummantelt, typisch chinesische Angewohnheit, das Fleisch in der Küche nicht von den Kochen zu trennen und das dem armen Esser zu überlassen. Sophie hat das schon längst mir zu liebe aufgegeben… Aber ansonsten schmeckt ihr Essen gut. Sophie ist glücklich, weil sie einige Zeit lang zwar gerne kochte, aber weil sie so viel für mich kochte die letzten Jahre ist ihr die Lust an dieser Kunst vergangen. Außerdem hat sie dann mehr Zeit für das Kind. Ich sitze mit Jin Jin allein am Esstisch, weil Sophie im Schlafzimmer Anna stillt. Ich bin ein bisschen befangen, weil Jin Jin eine schöne Frau ist. Normalerweise hätte ich mit ihr jetzt geflirtet, die Mutter meines erwachsenen Sohnes in Deutschland könnte ein Lied davon singen. Aber ich bin jetzt Christ, da darf ich das nicht mehr. Schade.

Letztes Jahr im Herbst fuhren Sophie und ich mit Jin Jin und ein paar ihrer Verwandten auf einem Auto-Fährschiff zusammen aufs Meer hinaus, um die Asche ihrer Mutter ins Wasser zu werfen. Das machen die armen Leute in Shanghai, ein warmes Plätzchen in der Erde auf einem Friedhof ist inzwischen astronomisch teuer geworden. Die Behörden nutzen schamlos aus, dass die Verwandten bei einem Todesfall zahlen müssen, es gehört sich so. Nur dass das Geld-Couvert in diesem Fall nicht rot, sondern weiß ist. Es war ein sonniger Tag, ein paar Hundert Leute bevölkerten den großen Saal auf dem Oberdeck, Volksfest-Atmosphäre, Sandwich-essende Familien, die ihre kleinen Asche-Urnen diskret in Taschen versteckt mitgebracht hatten. Ein Vertreter der Bestattungsfirma, die diesen Ausflug aufs Meer organisiert, sollte ein Art Toten-Ritual abhalten, sagte Sophie. Aber zu meiner Überraschung prahlte er bei seiner Ansprache am Mikrofon damit, dass jedes Jahr die Zahl der Kunden steige und wie gut seine Firma das alles organisiere und wünschte noch weiterhin eine gute Fahrt auf seinem Super-Schiff! Nach einer halben Stunde, die Küste vor Shanghai in Sichtweite, verlor der Kahn an Fahrt und über Lautsprecher kam die Durchsage, jetzt könne man die Asche abwerfen. Alle gingen nach unten in den großen leeren Raum, in dem sonst Autos parken, die Schritte hallten hohl auf dem eisernen Boden und an dem Geländer waren kleine Kästen angebracht, in die man die Asche leeren konnte, die Kästen hatten unten eine Öffnung. Manche hatten auch Blumen mitgebracht, die sie ins Meer warfen, der Asche hinterher. Wir standen um diesen Kasten herum und ich fotografierte. Jin Jin war gefasst, die Mutter war zu diesem Zeitpunkt schon ein paar Monate tot. Niemand weinte außer Sophie. Sie hat Jin Jins Mutter geliebt, mehr als ihre eigene Mutter. Schon als kleines Kind war sie so oft wie möglich bei ihr, die im Nachbarhaus wohnte. Auch als Erwachsene war sie ihr nah geblieben und hat sie zusammen mit Jin Jin in den Tod begleitet, stundenlang an ihrem Bett sitzend, im Krankenhaus und später zu Hause. Ein Lungenkrebs mit zunehmend unerträglicher werdenden Schmerzen. Sophie und Jin Jin standen Arm in Arm an der Reling und schauten aufs glitzernde Wasser. Vor der Küste standen zahlreiche Schiffe, das ganze Meer um uns war dicht bevölkert mit Tankern und Containerschiffen, auf der Rückfahrt kamen wir an ein paar grauen Kriegsschiffen vorbei, die vor Anker lagen. Als wir das Schiff verließen, krachte und böllerte es plötzlich mehrmals heftig. Die Besatzung wollte böse Geister vom Schiff jagen.

Nach dem Essen räumt Jin Jin die Teller ab, geht in die Küche und fängt an, abzuwaschen, ich will sie vom Waschbecken verdrängen, tu das aber wohl nicht handfest überzeugend genug, sie behauptet ihren Platz und fährt fort. Ich ziehe mich erleichtert zurück.

Am Nachmittag dann die Premiere, Jin Jin nimmt Anna in den Arm. Anna schaut mit großen Augen nach oben, Jin Jin mit großen Augen nach unten. Anna dreht sich weg und weint ein bisschen, aber Jin Jin lässt sich nicht beirren, schaukelt sie sanft auf ihrem Arm hin und her und spricht leise begütigend auf sie ein und schließlich beruhigt sich Anna, atmet auf, fasst Vertrauen und entspannt sich, Jin Jin lacht. Später macht es sich Jin Jin mit Anna in unserem Shu Shu Fu Fu bequem, so haben wir den Ikea- Schaukelstuhl getauft, den ich für Sophie gekauft habe. Shu Shu Fu Fu heisst einfach „bequem“ oder „angenehm“. Und das ist er auch. Man kann sich richtig gut darin entspannen, zurücklehnen und langsam alles gehen lassen und in den Schlaf gleiten, dabei leise hin und her schaukeln mit leichtem Wippen auf den Zehenspitzen…

Den Shu Shu fu fu haben wir aus dem Wohnzimmer ins Schlafzimmer gestellt, damit Sofie dort Anna stillen kann. Jetzt hat sich Jin Jin darin zurückgelehnt, Anna schmiegt sich an sie, scheint zu dösen, wir ziehen leise die Vorhänge vor, damit es dämmrig wird im Zimmer und lassen Jin Jin mit ihrem Kind alleine…

Anna ist jetzt knapp zwei Monate alt, schaut meistens etwas zerknittert in die Welt, irgendwie unglücklich, wie aus einem schlechten Traum erwacht und noch nicht richtig in dieser Wirklichkeit angekommen. Noch nicht so richtig da. Als sei ihr das alles zuwider, als sei die Seele in einem Körper angekommen, den sie als sehr seltsam und fremd empfindet, als lästig. Ihre Augen irren herum und suchen zu verstehen. Sofie beruhigt mich, alle Kleinkinder schielen, wenn man zu nahe an sie herankommt, verengt sich ihr Blickwinkel, sie versuchen zu fokussieren, wahrscheinlich sehen sie die Welt noch als buntes Durcheinander von Farben, Lichtschattierungen und Geräuschen. Andererseits meine ich, klare Erinnerungen zu haben an meine Zeit im Mutterleib. Wie ich gemütlich herumschwamm und dumpfe Geräusche wahrnahm von draußen und allmählich versuchte zu verstehen, was hier los war und wie es mir dann auf die Dauer zu eng und ungemütlich wurde und wie ich herumstrampelte und mir Platz zu schaffen versuchte und wie ich mich dann durch einen engen Kanal zwängte und nur widerwillig hinauskam, herausgezerrt wurde und mit Geschrei empfangen wurde in einer grellen Helle.

Der österreichische Mystiker Jakob Lorber, der im 19. Jahrhundert lebte, sagte, dass es zwei Wege gebe, Mensch zu werden. Der eine sei durch einen langen Entwicklungsweg aus der dunklen Materie, über mineralisches und pflanzliches Leben, dann durch eines oder mehrere Leben in Tieren schließlich bis zum Erwachen in einem Menschen. Also ein Entwicklungsweg ähnlich dem, was Darwin als Evolution beschrieben hat. Der andere Weg sei der, dass Gott direkt einen sogenannten Engel, also ein geistiges Wesen, herabschicke auf die Erde, um Mensch zu werden und eine bestimmte Aufgabe zu erfüllen, was allerdings selten vorkomme. Lorber nannte sich den Schreibknecht Gottes, weil er eines Tages eine Stimme hörte, die ihm sagte: Nimm einen Stift und schreibe, hier spricht Gott. Er hat so Tausende von Seiten über Jahre hinweg vollgeschrieben und hat heute eine große Gemeinde von Verehrern. Aber andere sagen, er sei ein geisteskranker Spinner gewesen.

Sophie und ich sind froh, dass Jin Jin uns ab und zu Atempausen verschafft, indem sie Anna übernimmt. Manchmal lassen wir sie zu lange alleine im Schlafzimmer und dann muss sie ihren Stuhlgang in sich behalten, obwohl der nach außen drängt oder spürt Schmerzen, weil sie sich schlecht regen kann mit Anna auf ihrem Schoss oder ist hungrig und durstig und niemand kommt, um sie zu erlösen. Aufstehen und Anna aus ihrem Schlaf reisen will sie auch nicht, so wartet sie geduldig, bis jemand von uns kommt und sie ablöst. Mir ist das allerdings auch schon öfters passiert, dass ich mich völlig vergessen fühlte wie ein alter im dunklen Abstellraum vergammelter Stuhl. So schnell sie nur konnte, machte Sofie die Tür hinters sich zu und machte es sich im lustigen kinderlosen Leben draußen gemütlich, während ich vor mich hin schimmelte mit dem Kind auf meinem Arm. Andererseits ist das auch etwas ganz Kostbares und Schönes, mit dem Kind auf seinem Leib lange eng verbunden zusammen zu sitzen und dann gemeinsam vor sich hin zu dösen….

Nicht nur Jin Jin sondern auch die Milchpumpe ist jetzt in unser Leben getreten und sorgt für große Erleichterung, weil der ganze Stress mit dem künstlichen Nippel reduziert werden kann. Sophie gibt Anna nur noch ab und zu ihre Brust, meistens wird sie mit der Flasche ernährt, die entweder mit Muttermilch gefüllt ist oder mit künstlicher Milch. Am Anfang saugte die Maschine nur wenig aus Sophies Brüsten, aber je mehr sie in Dienst gestellt wird, desto mehr kann sie auch liefern. „Das ist Gottes Design“ sagt Sophie. „Je mehr du gibt’s, desto mehr fließt nach“ War nach einer Sauge-Sitzung am Anfang die Flasche nur zu einem Drittel gefüllt, ist die Flasche schon eine Woche später halb voll.

Abends zieht sich Jin Jin in ihr Zimmer zurück und wir hören ihre christlichen Popsongs leise durch die Tür schallen, sie sitzt auf dem Bett und liest in der Bibel oder in christlicher Literatur oder schreibt Messages auf ihrem Handy an alle möglichen Leute aus ihrer christlichen Gemeinde. Als Gemeindehelferin ist sie jetzt auch Ansprechpartnerin für Sorgen und Nöte und sucht, so gut sie kann zu helfen.

Als Jin Jin Mitte Februar Geburtstag hat, gehe ich in eine seltsame, vergammelte Verkaufshalle in der Nähe und kaufe einen großen Strauß von Rosen, 20 dunkelrote, ein paar Feuerrote und dazwischen ein paar weiße, 32 insgesamt. Dazu weißes Gespinst, so dass es aussieht als seien die Rosen verschneit. Die Halle hat ein blaues Wellblechdach und muss bestimmt schon fünfzig Jahre alt sein. Gleich am Eingang gibt es ein paar Blumenläden, die ganz vorne sind bestens ausgestattet mit einem großen Angebot von farbenprächtigen Blumen, dahinter sind Läden, die Keramik-Vasen, Gläser und Krüge verkaufen, Möbelläden mit schweren, dunkelrot gedrechselten Tischen, Stühlen und Schränken, dann einige leere Läden hinter heruntergelassenen Rollläden aus Metall, dann taucht ein Trödelladen auf, wo ein alter Mann Bilder von Mao, Statuen von Konfuzius und alte vergilbte chinesische Comic-Hefte verkauft. Ganz hinten gibt es einen Treffpunkt für Vogelfreunde, wo Dutzende von Männern zusammensitzen mit ihren Vögeln, die in Käfige gesperrt schrill herumschreien, während ihre Besitzer rauchend und lautstark über dies und das und ihre Vögel debattieren und dabei einen riesen Lärm erzeugen, der durch den ganzen hinteren Teil der Halle schallt.


Auf der linken Seite der Halle gibt es Haustiere zu kaufen von kleinen Hasen, über Vögel bis zu Schildkröten, Katzen und Hunden. Es stinkt und wenn man durch die engen Gassen wandert fangen alle Hunde an geifernd zu bellen, dass es bis zur weit entfernten Hallen decke hinaufschallt, tanzen verzweifelt in ihren engen Behausungen herum und pressen ihre Schnauzen durch die Gitterstäbe. In kleinen Schönheitssalons werden Hunde gewaschen und geschnitten.

Gegenüber der Halle gibt es einen Müllverwertungshof, den täglich Hunderte von Müllsammlern mit ihren kleinen Fußgetriebenen Dreirad-Lastern ansteuern, meistens haushoch beladen mit Pappkartons und leeren Plastikflaschen. Links davon ein Laden, der Gasflaschen verkauft, daneben ein kleines Restaurant und daran anschließend ein kleiner Puff, es gibt mehrere in dieser Straße. Die Frauen sitzen hinter einer Glaswand auf bequemen Liegen oder Sofas und warten auf Kundschaft. Ich streune gerne in der Gegend herum und bin froh, dass ich ein bisschen mehr Zeit habe als sonst, weil Jin Jin zu Hause sich um den Haushalt und Anna kümmert.

In einem kleinen Supermarkt beim Eingang zu unserem Wohnbezirk kaufe ich eine große Schachtel Pralinen, die ziemlich teuer sind.. Schokolade ist in China sehr teuer. Zu Hause arrangiere ich Strauß und Pralinenschachtel zusammen mit einer Glückwunsch-Karte und einer Kerze zu einem kleinen Tableau auf dem Wohnzimmertisch, entzünde die Kerze und dann warte ich mit Sophie bis Jin Jin aus dem Schlafzimmer kommt, wo sie Anna schlafend in ihr Bettchen gelegt hat und wir singen Händeklatschend: „Happy Birthday to you!“

Jin Jin ist gerührt, lächelt, ist aber ein wenig traurig…als ob ein alter Schmerz nach außen dränge, setzt sich, schaut in die Kerzenflamme, ich würde sie jetzt gerne umarmen und trösten, vielleicht denkt sie an ihre tote Mutter, an den Freund in Chuhai, der sich von ihr abgewendet hat, sie schaut sich die Pralinenschachtel an, Sophie setzt sich zu ihr, umarmt sie, ich mache ein Foto von ihr mit Sophie, die Tränen in den Augen hat, beide lächeln jetzt, ihre Wangen aneinander gedrückt.

Als sie nach vier Wochen uns wieder verlässt, geben wir ihr ein Couvert mit ein paar Tausend Yuan, was ihr gut tun wird bei dem schmalen Gehalt, das sie von ihrer Gemeinde bekommt.

Da!

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