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2.1 Pädagogik als Leitwissenschaft

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Das Fach Pädagogik bei Beeinträchtigungen der Sprache und der Kommunikation wird seit Bestehen stets als Integrationswissenschaft verstanden (Knura 1982). Dazu existieren die Pädagogik bzw. Erziehungswissenschaft als Leitwissenschaft (Kap. 1) und weitere Disziplinen als Bezugswissenschaften, welche von der Pädagogik bei Beeinträchtigungen der Sprache und der Kommunikation integriert werden (Abb. 8).


Eine Integrationswissenschaft bezeichnet eine Wissenschaftsdisziplin, die unterschiedliche Teilbereiche anderer Wissenschaftsdisziplinen rezipiert. In der Forschungsarbeit werden Erkenntnisse und Ansätze der anderen Wissenschaftsdisziplinen analysiert und unter dem Fokus und Gegenstandsbereich des eigenen Faches adaptiert und integriert. Derartige Integrationswissenschaften werden auch als interdisziplinär ausgerichtete wissenschaftliche Fachrichtungen beschrieben.

Unter Leitwissenschaft ist eine wissenschaftliche Disziplin zu verstehen, die als maßgebliche Orientierung für ein Fach zu sehen ist. Die Denkmuster und Erklärungsansätze einer leitenden Wissenschaftsdisziplin bestimmen primär die

Ausrichtung eines Faches und den Fokus der Analyse, Rezeption, Reflexion, Adaptation und Integration anderer Wissenschaften.

Eine Bezugswissenschaft liefert theoretische Ansätze und Erkenntnisse, die in einer anderen Disziplin als Wissensgrundlage und Erklärungsmuster genutzt werden können. In der Zusammenführung innerhalb einer Integrationswissenschaft können mit dem Wissen mehrerer Bezugswissenschaften spezifische und komplexe Fragestellungen beantwortet werden.


Abb. 8: Pädagogik bei Beeinträchtigungen der Sprache und der Kommunikation als Integrationswissenschaft

Komplexität der Praxisphänomene

Warum aber hat unser Fach seit jeher diesen integrativen Charakter? Dies wird deutlich, wenn wir uns die Komplexität unserer fachlichen Aufgabenstellungen auf der Ebene der Praxisphänomene anschauen. Dazu wird eine weitere Situation des Jungen aus dem Fallbeispiel 3 Bastian (Kap. 1) geschildert und im Anschluss daran im Hinblick auf Erkenntnisse der Bezugswissenschaften beleuchtet.


Im Unterricht der zweiten Klasse werden Zeichnungen von den Schülerinnen und Schülern über ihre Wochenenderlebnisse angefertigt. Die Zeichnungen fungieren als Grundlage für anschließende Erzählungen der Kinder. Bastian versucht der Lehrerin seine gezeichnete Figur aus dem Fernsehen näher zu erläutern. Die Lehrkraft kann jedoch den undeutlich ausgesprochenen Namen der Figur nicht verstehen. Bastian wiederholt mehrmals den Namen. Auch auf Nachfrage der Lehrerin und Benennungsversuchen ihrerseits gelingt keine eindeutige Aufl.ösung. Ebenso wenig führen Bastians mimische und gestische Unterstützungen zum Erfolg. Er zeigt sich höchst verunsichert, da er doch genau weiß, wie die Figur heißt. Zudem spricht er auch den Namen der Figur mit ganz besonderer Konzentration aus. Bastian schickt nun Hilfe suchende Blicke an seine Mitschülerinnen und Mitschüler. Es dauert eine Weile und wirkt wie eine Erlösung, als ein Mädchen endlich den rettenden Einfall hat und „Spongebob!“ ruft.

Bezugsdisziplinen des Faches

Das oben geschilderte Fallbeispiel wird im Folgenden vor dem Hintergrund der Bezugsdisziplinen des Faches Pädagogik bei Beeinträchtigungen der Sprache und der Kommunikation hinsichtlich einzelner Aspekte analysiert und anschließend pädagogisch zusammengeführt.

Semiotik Soziologie

Der Junge versucht in der Unterrichtssituation mehrmals ein bestimmtes Zielwort – Spongebob – korrekt auszusprechen. Er ist sich dabei über den Inhalt genau im Klaren und möchte darüber etwas erzählen. Er unterstützt sein Sprechen mit den nonverbalen Mitteln der Mimik, Gestik und des Hilfe suchenden Blickkontaktes. Diese vielfältigen kommunikativen Zeichen, die der Junge in der Gesprächssituation auf unterschiedlichen Kommunikationskanälen anwendet, können durch die Wissenschaftsdisziplin der Semiotik erklärt werden.

Soziologie

Weiter zeigt das Fallbeispiel, dass der Schüler sprachlichen Normen, hier der korrekten Aussprache bzw. Artikulation, nicht entsprechen kann. Da Bastian spürt, dass die Lehrerin ihn deshalb nicht versteht, verstärkt sich sein bereits bestehendes Störungsbewusstsein. Auch wenn die Lehrerin ihrerseits alles tut, um Bastians Leidensdruck durch ihre Reaktion auf seine beeinträchtigte Aussprache nicht noch zu verschlimmern, so ist sie wiederum in der Zwickmühle, dass sie sowohl seine mündlichen Unterrichtsbeiträge als auch deren ebenfalls fehlerhaften Verschriftlichungen leistungsmäßig mit Noten beurteilen muss Dieses komplexe Rahmenthema der Vermittlung sprachlicher Normen sowie deren institutioneller, gesellschaftlicher und kultureller Kontext kann mit der Bezugswissenschaft der Soziologie, insbesondere der Sprachsoziologie (Erforschung des Wechselverhältnisses von Sprache und Gesellschaft), reflektiert werden.

der korrekten

Versucht man die nicht-gelingende Kommunikation zwischen Bastian und seiner Lehrerin auf einer noch tiefer liegenden Ebene zu verstehen, so stößt man auf das existenzielle Grundthema aller Personen mit sprachlich-kommunikativen Beeinträchtigungen: die Verletzlichkeit bzw. Vulnerabilität der Person in ihrem Kern. Aber auch die Lehrerin ist mit dem Thema Vulnerabilität konfrontiert, und zwar nicht nur mit der des Jungen, sondern auch mit ihrer eigenen, beispielsweise in Form ihrer Ungeduld oder Befremdungsreaktion im Umgang mit Beeinträchtigungen. Mit der Reflexion des individuellen wie gesellschaftlichen Umgangs mit Anders-Sein bzw. sprachlicher Differenz befasst sich die Philosophie, speziell die Sprachphilosophie.

Linguistik, Medizin, Neurowissenschaften

Im Fallbeispiel wird deutlich, dass die Aussprache des Jungen stark beeinträchtigt ist. Dagegen entspricht seine Sprach- und Kommunikationsfähigkeit den Erwartungen, da er die alternativen Benennungsangebote der Lehrerin – „Kung Fu Panda“ und „Star Wars“ – unmissverständlich als falsch zurückweist. Es gilt also herauszufinden, ob Bastians unverständlicher Lautbildungsprozess seine Ursachen beispielsweise in der Mundmotorik, in der auditiven Wahrnehmung oder in der phonematischen Differenzierung hat. Mit den Erkenntnissen der Linguistik, Medizin und Neurowissenschaften können solche Aspekte der Sprachrezeption, Sprachverarbeitung und Sprachproduktion – hier auf Ebene der Phonetik und Phonologie – erklärt werden

Psychologie

Die Situation, nicht verstanden zu werden und damit auch noch unangenehm im Mittelpunkt zu stehen, kann verletzen. Bastians Emotionen und seine Motivation weiterzusprechen werden davon negativ beeinflusst. Erst durch das Verständnis und die Hilfe des Mädchens kann sich sein Selbstwertgefühl wieder stabilisieren. Die wesentliche Rolle solcher relationaler Emotionen im sozial-intersubjektiven Kommunikationskontext kann mit der Bezugswissenschaft der Psychologie, v.a. der Entwicklungspsychologie und Neuropsychologie, analysiert werden

Pädagogik / Erziehungswissenschaft

Wird das Fallbeispiel in der Gesamtheit betrachtet, zeigt sich die pädagogische Dimension: Auswirkungen der sprachlichen Beeinträchtigungen des Jungen zum einen auf den gesamten schulischen Lernprozess, zum anderen auf seine Identitätsbildung, seine Peergroup-Zugehörigkeit und seine gesellschaftlich-kulturelle Teilhabe sind mehr als nur zu erahnen Auch die Lehrerin braucht Unterstützung, den Lernprozess in dieser wie in anderen Situationen günstig zu beeinflussen. Die Pädagogik bzw. Erziehungswissenschaft liefert hierzu Ansätze, die sich mit theoretischen und anwendungsbezogenen Aspekten von Bildung und Erziehung beschäftigen Lehren und Lernen unter besonderen Bedingungen, wie beispielsweise bei sprachlich-kommunikativen Beeinträchtigungen, wurde dabei von jeher als „Pädagogik und nichts anderes“ (Moor 1974, 273) verstanden (Lüdtke / Bahr 2005).

Komplexität des Faches

Die interdisziplinäre Analyse des Fallbeispiels macht deutlich, dass Studierende und professionell tätige Personen des Faches Pädagogik bei Beeinträchtigungen der Sprache und der Kommunikation auf Erkenntnisse aus den Bezugswissenschaften der Semiotik, Soziologie, Philosophie, Linguistik, Medizin, Neurowissenschaften und Psychologie Bezug nehmen und diese pädagogisch geleitet integrieren müssen, um die vielen sprachpädagogischen und sprachtherapeutischen Aufgaben der Praxis lösen zu können. Diese spezifischen Aufgaben betreffen u.a. Diagnostik (Kap. 5), Prävention und Förderung (Kap. 7), Unterricht (Kap. 6 und 8), Therapie

(Kap. 6 und 9), Beratung (Kap. 8), Bildung und Erziehung (Kap. 2), Evaluation sowie Innovation (Kap. 3).

pädagogische Ganzheit

Die Notwendigkeit, viele einzelne Wissensmomente dabei nicht additiv nebeneinanderzustellen, sondern zu einer pädagogischen Ganzheit zu integrieren, gilt nicht nur für Bastian, sondern für alle Personen mit sprachlich-kommunikativen Beeinträchtigungen in der gesamten Lebensspanne vom Säuglingsalter bis hin zum älteren Menschen (Abb. 8).


Literaturempfehlungen zu den Bezugswissenschaften

Ammon, U., Dittmar, N., Mattheier, K. J., Trudgill, P. (Hrsg.) (2005): Soziolinguistik. Ein internationales Handbuch zur Wissenschaft von Sprache und Gesellschaft. 2. Aufl. de Gruyter, Berlin Fiori, A., Deuster, D., Zehnhoff-Dinnesen, A. G. am (2012): Hören und Sprechen. In: Braun, O., Lüdtke, U. (Hrsg.): Behinderung, Bildung, Partizipation. Enzyklopädisches Handbuch der Behindertenpädagogik. Bd. 8. Sprache und Kommunikation. Kohlhammer, Stuttgart, 277-289 Jaspers, J. (2012): Norm und Differenz. In: Braun, O., Lüdtke, U. (Hrsg.): Behinderung, Bildung, Partizipation. Enzyklopädisches Handbuch der Behindertenpädagogik. Bd. 8. Sprache und Kommunikation. Kohlhammer, Stuttgart, 49-59 Karnath, H.-O., Thier, P. (Hrsg.) (2012 ): Kognitive Neurowissenschaften. 3.

aktual. u. erw. Aufl. Springer, Berlin Kauschke, C., Huber, W., Domahs, F. (2012): Spracherwerb und Sprachverlust. In: Braun, O., Lüdtke, U. (Hrsg.): Behinderung, Bildung, Partizipation. Enzyklopädisches Handbuch der Behindertenpädagogik. Bd. 8. Sprache und Kommunikation. Kohlhammer, Stuttgart, 246-276 Klann-Delius, G. (2008): Spracherwerb. 2. aktual. und erw. Aufl. Metzler, Stuttgart

Kristeva, J., Gardou, C. (2012): Behinderung und Vulnerabilität. In: Braun, O., Lüdtke, U. (Hrsg.): Behinderung, Bildung, Partizipation. Enzyklopädisches Handbuch der Behindertenpädagogik. Bd. 8. Sprache und Kommunikation. Kohlhammer, Stuttgart, 39-48 Newen, A., Schrenk, M. (2008): Einführung in die Sprachphilosophie. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt Nöth, W. (2012): Zeichen und Semiose. In: Braun, O., Lüdtke, U. (Hrsg.): Behinderung, Bildung, Partizipation. Enzyklopädisches Handbuch der Behindertenpädagogik. Bd. 8. Sprache und Kommunikation. Kohlhammer, Stuttgart, 161-176 Nöth, W. (2000): Handbuch der Semiotik. 2. Aufl. Metzler, Stuttgart Rupp, E. (2012): Sprache und Gehirn. In: Braun, O., Lüdtke, U. (Hrsg.): Behinderung, Bildung, Partizipation. Enzyklopädisches Handbuch der Behindertenpädagogik. Bd. 8. Sprache und Kommunikation. Kohlhammer, Stuttgart, 230-245

Schindelmeiser, J. (2014): Anatomie und Physiologie für Sprachtherapeuten. 3. Aufl. Urban u. Fischer, München

Trevarthen, C. (2012): Intersubjektivität und Kommunikation. In: Braun, O., Lüdtke, U. (Hrsg.): Behinderung, Bildung, Partizipation. Enzyklopädisches Handbuch der Behindertenpädagogik. Bd. 8. Sprache und Kommunikation. Kohlhammer, Stuttgart, 82-157

Pädagogik bei Beeinträchtigungen der Sprache

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