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2.2.2 Vulnerabilität und Differenz der Sprachlichkeit als Auftrag und Verantwortung

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Die nachfolgenden Überlegungen gehen der anthropologisch relevanten Frage nach, welche Auswirkungen sprachlich-kommunikative Beeinträchtigungen auf das betroffene Individuum, die Gesellschaft und die Kultur haben und welche Veränderungen daraus resultieren (Lüdtke 2012a). Daraus folgernd werden jeweils (sprach)pädagogische Prämissen skizziert, wie innerhalb pädagogischer Bildungsprozesse mögliche personale Beschädigungen verhindert oder aufgefangen werden können. Die Kernidee, die Vulnerabilität und Differenz der Sprachlichkeit als grundsätzlichen Auftrag und Verantwortung unseres pädagogisch geleiteten Faches zu betrachten, wird im nachfolgenden Unterkapitel über die pädagogischen Grundlagen (Kap 2.3) weiter ausgeführt

Individuum: Integration sprachlicher Identität

Personwerdung: De- und Rekonstruktion des sprachlichen Selbst

Grundsätzlich stellt die Philosophische Anthropologie Überlegungen zur Stellung des Menschen als sprachfähigem Wesen an. Eine erste Bestimmung der Sprachlichkeit des Menschen aus anthropologischer Sicht erfolgt auf der Ebene des Individuums bzw. des Selbst mittels des zentralen Konzeptes der „Sprachlichen Identität“ (Lüdtke 2012a). Diese wird hier postmodern als permanente De- und Rekonstruktion des sprachlichen Selbst zwischen den Achsen Zugehörigkeit / Abgrenzung und Selbstwahrnehmung / Fremdwahrnehmung konzeptualisiert und ist unabdingbare Voraussetzung der Personwerdung (Abb. 11).

Schon in einem Lebensvollzug ohne sprachlich-kommunikative Beeinträchtigungen ist sprachliche Identität das Ergebnis eines inter- und intrapersonalen sozio-emotionalen Balanceaktes und Integrationsprozesses, in dem alltägliche Konflikte, Widersprüche, Divergenzen und Disharmonien zwischen internen und / oder externen sprachspezifischen Fremd- und / oder Selbstbildern aufgelöst werden müssen

Depersonalisierung: Kohärenz-Auflösung und Identitätszerfall

Die auftretende sprachlich-kommunikative Beeinträchtigung eines Menschen führt aber meist zu einem folgenschweren Teufelskreis: Der Mensch verletzt durch seine Beeinträchtigung massiv die gesellschaftlichen Sprachnormen Die Gesellschaft sanktioniert den Affront gegen die kollektiven Spracherwartungen mit Stigmatisierungs- bzw. Ausgrenzungsprozessen. Diese negativ erlebten individuellen oder institutionellen Erfahrungen haben Stigmaqualität, da sie als Bedrohung des sprachlichen Selbst interpretiert werden. Diese Bedrohlichkeit verursacht Irritationen in den Interaktionen, Einschränkungen der verbalen Partizipation und letztlich emotional hoch bedeutsame sprachspezifische Identitätsprobleme Die dadurch erlebte Gefährdung kann die Gefühle der Verlorenheit und KohärenzAufl.ösung bei empfundenem Identitätszerfall hervorrufen und mittelfristig zu einer beschädigten sprachlichen Identität und damit letztlich zu einer Depersonalisierung führen (Abb. 11).

Raum für Rekonstruktion beschädigter Sprachlichkeit

Oberste pädagogische Prämisse zur Verhinderung von Identitätsbeschädigungen bei Menschen mit sprachlich-kommunikativen Beeinträchtigungen muss deshalb die Integration sprachlicher Identität sein Raum für eine Rekonstruktion desintegrierter Sprachlichkeit kann von sprachpädagogisch und sprachtherapeutisch tätigen Personen auf drei verschiedenen Wegen ermöglicht werden. Erstens können der sprachlich-kommunikativ beeinträchtigten Person identitätsrekonstruierende Lösungswege über das Erleben der eigenen sprachlichen Kompetenz vermittelt werden, indem z.B. die sprachlich-kommunikativ beeinträchtigte Person einer anderen Person ein Rätsel stellt und sich damit in einer kompetenten, überlegenen Position befindet Zweitens kann sich in Förderung, Unterricht, Therapie oder Beratung statt an einem sprachwissenschaftlich bestimmten normativen Bildungsziel der linguistischen Homogenität zukünftig an einem sprachpädagogisch bestimmten autonomen Bildungsziel der Differenzanerkennung orientiert werden (Lüdtke 2004a, 2004b), indem z.B. eine sprachlich-kommunikativ beeinträchtigte Person bei der Planung des individuellen Förderziels selbst einbezogen wird. Und drittens sollte eine permanente Reflexion möglicher identitätsbeschädigender Akte der sprachpädagogischen bzw. sprachtherapeutischen Fachkraft selbst erfolgen, indem z.B. die Fachkraft das eigene Sprachhandeln und davon ausgelöste Wirkungen wahrnimmt und überprüft (Abb. 11).

Am Fallbeispiel 2 Anna (Kap. 1) wird nachfolgend die Integration sprachlicher Identität durch Akzeptanz der Erstsprache verdeutlicht

Anna, die zu Hause mit ihrer Familie Russisch spricht, sucht sich in der Kindertagesstätte Spielkameradinnen, die ebenfalls Russisch sprechen. Dieser Kontakt und diese Kommunikationsmöglichkeit bedeuten für sie eine Sicherheit im Prozess des täglichen Ankommens, stellt aber auch eine wichtige Basis dar, um sich generell in der neuen zweisprachigen Umgebung zurechtzufinden. Anna fällt der Schritt in die neue Sprache und die veränderten Kommunikationsformen aus einer gefestigten Position heraus leichter. Sie bildet somit allmählich eine zweisprachige Identität aus. Würde man den Kindern verbieten, in der Kindertagesstätte Russisch zu sprechen, dann müsste Anna ihre Erstsprache Russisch sozusagen an der Eingangstür „ablegen". Sie führe dann nur einen Teil ihrer Identität mit. Die Kita mit ihrer wertschätzenden bilingualen Kommunikationskultur sowie der Gebrauch verschiedenster Erstsprachen durch pädagogische Fachkräfte mit Migrationshintergrund unterstützen die sprachpädagogische Prämisse der Integration sprachlicher Identität.

Gesellschaft: Inklusion sprachlicher Heterogenität

Partizipation durch sprachliche Normentsprechung

Die zweite Dimension, durch die sich das Verhältnis Person-Sprache bestimmt, ist die Gesellschaft (Lüdtke 2012a). Maßgeblicher konstitutiver Faktor sind dabei ihre jeweiligen sprachlichen Normen, welche unter den Aspekten ihrer Aufstellung, ihres Austausches und ihrer Vermittlung makro- wie mikrosystemisch in Soziolinguistik und Soziosemiotik (soziologische Teildisziplinen der Sprach- und Zeichenwissenschaften) sowie der Sprachsoziologie konzeptualisiert werden.

In einer soziolinguistischen Perspektive ist beispielsweise relevant, dass sprachliche Normen als Teil übergreifender sozialer Normen Konsens einer bestimmten Sprachgemeinschaft sind (Jaspers 2012). Für die Person, und damit auch sämtliche Menschen mit sprachlich-kommunikativen Beeinträchtigungen in der gesamten Lebensspanne, bedeutet dies, dass für die gesellschaftliche Partizipation eine sprachliche Normentsprechung Voraussetzung ist (Abb. 11).

Marginalisierung sprachlicher Defizite

In einem solchen normativen System können Personen, die aufgrund ihrer sprachlich-kommunikativen Beeinträchtigungen abweichende, nonkonforme sprachliche Äußerungen oder kommunikative Akte produzieren, wegen ihrer sprachlichen „Defizite" marginalisiert (Abb. 11), d.h. an den Rand der Gesellschaft gedrängt werden. Im gesellschaftlich geprägten Bildungs- und Gesundheitssystem kann dies im Rahmen sprachdiagnostischer Prozesse geschehen. Die Klassifizierung bzw. Etikettierung von identifizierten Sprachentwicklungsverzögerungen hat beispielsweise für Schülerinnen und Schüler personale Relevanz, da sie ein präskriptives Normenverständnis impliziert. Die durch Spracherwerbstests festgestellte sprachliche Standardabweichung wird somit als Defizit, als Makel bzw. als schlecht attribuiert. Es kann damit zu einem Attribut werden, das seinem Träger als subjekt-inhärentes Merkmal zugeschrieben wird und sein Person-Sein wie seine Sprachlichkeit defizitär definiert: „der Sprachbehinderte“, „der Stotterer“, „die Schülerin mit Förderbedarf“ (Kap. 1).

Anerkennung sprachlicher Differenz und Einzigartigkeit

Aus pädagogischer Perspektive ist immer zu bedenken, dass die Einführung von vermeintlich objektiven Wertmaßstäben wie der gesellschaftlichen Sprachnorm immer Auswirkungen auf die ganze Person und ihre Sprachlichkeit hat, welche die subjektive Verkörperung des analysierten linguistischen Sachverhaltes, beispielsweise einer Aussprachestörung, ist. Um personale Beschädigungen innerhalb des Bildungsprozesses zu vermeiden, ist eine erste pädagogische Prämisse, Menschen mit Beeinträchtigungen der Sprache und Kommunikation nicht über die Identifikation sprachlich-kommunikativer Defizite – und dazu gehört beispielsweise ein sprachlicher Förder- und Unterstützungsbedarf von Schülerinnen und Schülern – zu stigmatisieren und zu marginalisieren. Vielmehr ist dafür Sorge zu tragen, ihre Einzigartigkeit als sprachliche Differenz anzuerkennen. Damit können sich sprachpädagogische und sprachtherapeutische Fachkräfte auch des utilitaristischen Grundgedankens der sozialen Verwertbarkeit von Sprache entledigen, der letztlich eine Missachtung der Person und ihrer Sprachlichkeit per se darstellt. Diese paradigmatische Wendung vom Defizit- zum Differenzbegriff (Kap. 1) ist Voraussetzung für die wahre Inklusion sprachlicher Heterogenität von Kindern und Jugendlichen mit Förderbedarf (Kap. 8). (Abb. 11).

Am Fallbeispiel 4 Claudia (Kap. 1) wird nachfolgend die Inklusion sprachlicher Heterogenität durch institutionelle Anerkennung sprachlicher Differenz verdeutlicht


Im Gymnasium steht Claudia nicht abseits, im Gegenteil, sie steht manchmal sogar im Mittelpunkt des Geschehens. Aufgrund des Sprachcomputers, den sie mit den Augen steuert, vermag sie ihre Ideen zum Ausdruck zu bringen. Sicherlich bedeutet diese Form der Kommunikation eine hohe Akzeptanz vonseiten der Mitschüler und Mitschülerinnen. Das war nicht von Anfang an der Fall. Als Claudia den Computer noch nicht perfekt bedienen konnte und die Gesamtsituation für die Schule neu war, gab es deutliche Annäherungsschwierigkeiten. Nach außen hin versuchten zwar die meisten Schülerinnen und Schüler, offen auf Claudia zuzugehen, aber tatsächlich stand sie oft allein am Rand. Echte Freundschaften entwickelten sich erst viel später. Die von den Lehrerinnen und Lehrern vielfältig konkretisierte sprachpädagogische Prämisse der Inklusion sprachlicher Heterogenität brauchte die institutionelle und gesellschaftliche Anerkennung sprachlicher Differenz und viel Zeit.

Kultur: Ermöglichung von Bildungsteilhabe

Menschwerdung: Sprachbesitz als Schwelle zur Kultur

Letzter wichtiger Punkt für eine Bestimmung der Sprachlichkeit des Menschen ist, dass anthropologisch der Sprachbesitz als Schwelle zur Kultur angesehen wird. Kulturbesitz markiert damit die semiotische Schwelle zwischen der Welt der Zeichen und der Welt der Kultur auf der einen Seite, und der nicht-zeichenhaften, kulturlosen Welt beispielsweise der Tiere auf der anderen Seite. Der Besitz der Sprache ermöglicht deshalb nicht nur die kulturelle Teilhabe, sondern ist sogar Bedingung der Menschwerdung und des Mensch-Seins (Abb. 11).

verwehrte kulturelle Teilhabe bei beeinträchtigter Kommunikation

Eine derartige kulturelle Bestimmung der Relation Person – Sprache beinhaltet in ihrer Umkehrung, dass mangelnder oder vermeintlich mangelhafter Sprachbesitz nicht nur die kulturelle Teilhabe, sondern letztlich das Mensch-Sein in Frage stellt und Tendenzen der Dehumanisierung (Abb. 11) auslösen kann (Lüdtke 2012a). Natürlich gab es stets die wissenschaftliche Faszination, „wilden Kindern“ wie Kaspar Hauser oder Victor von Aveyron das Erlernen der Kulturgüter, insbesondere der Sprachkompetenz, durch heilpädagogische Methoden beizubringen (Itard 1801). Historisch betrachtet war und ist jedoch daneben die vorherrschende Reaktion auf eine beeinträchtigte Sprach- und Kommunikationsfähigkeit eine negative soziale Bewertung. „Abnorme“, der Norm nicht entsprechende Sprachkompetenz (langue) und Sprachverwendung (parole) gerade auch bei „Behinderten“ wurde und wird stets sanktioniert. Das Spektrum reicht(e) dabei von der tatsächlichen Tötung (Euthanasie / Holocaust) über das Aussetzen, Verbannen oder Wegsperren (Psychiatrie) bis hin zur subtileren Ausstoßung oder Ausgrenzung („Nicht-Bildbarkeit“) aus der Sphäre der Kultur, Zivilisation, Bildung, letztlich dem Mensch-Sein.

Offenheit für Vulnerabilität, sprachlicher Synkretismus

Da jegliche subtile oder offene Ausgrenzungs- oder Dehumanisierungsreaktion zu einer Verletzung der Sprachlichkeit von Menschen mit Beeinträchtigungen der Sprache und Kommunikation führen kann, müssen personale Beschädigungen innerhalb des Bildungsprozesses verhindert oder aufgefangen werden Oberste pädagogische Prämisse muss selbstverständlich die Ermöglichung von Bildungsteilhabe sein Dies kann sprachpädagogisch aber nur über eine Offenheit für sprachlichen Synkretismus, d.h. für sprachliche Brüche und Neuschöpfungen gelingen, und damit für die Vulnerabilität, für die grundsätzliche Verletzlichkeit jedweder Sprachlichkeit (Abb. 11).

Am Fallbeispiel 7 Rosa (Kap. 1) wird nachfolgend die Ermöglichung von sprachlicher Bildungsteilhabe auch am Ende der Lebensspanne verdeutlicht.


Rosas Sohn bemüht sich um eine angemessene Kommunikation mit seiner Mutter. Er versucht sich so mit ihr zu unterhalten, wie er es noch vor einiger Zeit getan hatte. Doch es fällt ihm schwer, das Gespräch aufrechtzuerhalten. Viel zu sehr ist er von dem sprachlich-kommunikativen Verhalten seiner Mutter irritiert. Er findet sie nicht mehr so vor, wie er sie von früher her kennt. Aufgrund der Wesensänderung von Rosa besteht die Gefahr, dass sie in ihrem Umfeld und besonders im Kontext der Pflegeroutine nicht mehr die Würde und Achtung als Mensch erfährt. Kommunikative und emotionale Ansprache droht auszubleiben. Die sprachpädagogische Prämisse der Ermöglichung von sprachlicher Bildungsteilhabe muss aber nicht nur in der vorschulischen und schulischen Bildung, sondern gerade auch am Ende der Lebensspanne umgesetzt werden.


Abb. 11: Vulnerabilität und Differenz der Sprachlichkeit als Auftrag und Verantwortung

Sprache und Sprechen ist ein mehrdimensionales Phänomen, das sich nicht auf bloße sichtbare und hörbare Erscheinungen reduzieren lässt Unter der sprachlichen Oberfläche existieren Schichten, die von außen nicht direkt einsehbar sind, die aber entscheidend den Spracherwerb und den Sprachgebrauch des Menschen bestimmen Außerdem kann Sprache nicht losgelöst von der Individualität einer Person sowie von gesellschaftlichen und kulturellen Zusammenhängen gesehen werden Entsprechende Ableitungen auf Problembereiche sprachlich-kommunikativer Beeinträchtigungen ermöglichen den im Fach tätigen Personen eine umfassende und differenzierte Sicht auf ein sicheres pädagogisches Handeln Um die Mehrdimensionalität in Theorie- und Praxisverknüpfungen korrekt erfassen zu können, benötigt das Fach Pädagogik bei Beeinträchtigungen der Sprache und Kommunikation eine Integration diverser Bezugswissenschaften, um daraus Orientierungen für die Sprachpädagogik und die pädagogische Sprach- und Kommunikationstherapie schaffen zu können.


Literaturempfehlungen zu sprachphilosophischen und anthropologischen Grundlagen des Faches

Kristeva, J, Gardou, C. (2012): Behinderung und Vulnerabilität. In: Braun, O., Lüdtke, U. (Hrsg.): Behinderung, Bildung, Partizipation. Enzyklopädisches Handbuch der Behindertenpädagogik. Bd. 8. Sprache und Kommunikation. Kohlhammer, Stuttgart, 39-48

Lüdtke, U. (2012): Person und Sprache. In: Braun, O., Lüdtke, U. (Hrsg.): Behinderung, Bildung, Partizipation. Enzyklopädisches Handbuch der Behindertenpädagogik. Bd. 8. Sprache und Kommunikation. Kohlhammer, Stuttgart, 61-81

Newen, A., Schrenk, M. (2013): Einführung in die Sprachphilosophie. WBG, Darmstadt

Pädagogik bei Beeinträchtigungen der Sprache

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