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2.3.2 Bildung und Erziehung

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In diesem Kapitel soll die Sprachpädagogik weiter behandelt werden. Spezifische sprachdidaktische Fragen werden dann in Kapitel 6 wieder aufgenommen. Da ja in der pädagogischen Leitorientierung unseres Faches nicht lediglich die Behandlung, Behebung oder Kompensation eines Störungsbildes im Mittelpunkt steht, sondern der Mensch in seiner Sprachlichkeit als Ausgangsbasis und Zielkategorie einer Verstehens- und Handlungsperspektive definiert wurde, steht die Sprachpädagogik unter dem „Primat der Sprachlichkeit“. Die sich daraus ergebenden übergeordneten Aufgaben im Bezugsfeld illustriert das Modell des „sprachpädagogischen Dreiecks“ (Abb. 13). Die zentralen Aufgaben der Sprachpädagogik sind (Abb. 12):

 auf der Ebene des Individuums die Integration sprachlicher Identität,

 auf der Ebene der Gesellschaft die Inklusion sprachlicher Heterogenität und

 auf der Ebene der Kultur die Ermöglichung von sprachlicher Bildungsteilhabe.


Abb. 13: Das sprachpädagogische Dreieck

Diese übergeordneten Aufgaben müssen nun durch Rezeption und Adaptation der genannten klassischen pädagogischen Grundfragen der Bildung und Erziehung (u.a. Gudjons 2012; Raithel 2005; Brezinka 1978) auf Prozesse des Bildens und Erziehens bei Personen mit sprachlich-kommunikativen Beeinträchtigungen spezifiziert werden (Abb. 14).

Balance der Interdependenz

Diese vielfältigen Bildungs- und Erziehungsprozesse spalten sich im sprachpädagogischen Feld – dargestellt am pädagogischen Dreieck (Abb. 13) – zwischen den personalen Polen der SprachpädagogIn bzw. der SprachtherapeutIn oder LogopädIn einerseits und der Person mit sprachlich-kommunikativen Beeinträchtigungen andererseits am gemeinsamen Lerngegenstand Sprache und Kommunikation auf. Charakterisiert sind diese Prozesse durch Interdependenz (gegenseitige Abhängigkeit) und Reziprozität (Wechselwirkung) (Abb. 14), die von beiden Polen ausbalanciert werden müssen (Homburg / Lüdtke 2003).


Abb. 14: Interdependente und reziproke Bildungs- und Erziehungsprozesse bei sprachlichkommunikativen Beeinträchtigungen

Es erweist sich als besondere Herausforderung, eine Balance aufrechtzuerhalten, da komplexe Teilaspekte miteinander in permanent sich verändernder Wechselwirkung stehen. Wie diese in ihren Grundzügen charakterisiert werden können, wird im Folgenden anhand der fünf wichtigsten reziproken sprachpädagogischen Prozesse erläutert.

Auftrag und Verantwortung – Bildsamkeit und Bereitschaft

Bildungsauftrag

Zu Beginn eines jeden sprachpädagogischen Bildungs- und Erziehungsprozesses steht die sprachpädagogisch oder sprachtherapeutisch tätige Fachkraft vor der Aufgabe, für die Personen mit sprachlich-kommunikativen Beeinträchtigungen einen Bildungsauftrag zu erfüllen und die Verantwortung dafür zu übernehmen (Abb. 14).

Daraus ergeben sich komplexe, sehr grundsätzliche sprachpädagogische Fragestellungen (Lüdtke / Bahr 2005), die von den Fachkräften permanent im Bildungsprozess reflektiert werden müssen (Kap. 1) (Abb. 7):

 Inwieweit kann, darf und muss ich die Verantwortung für diesen konkreten sprachpädagogischen Bildungs- und Erziehungsprozess übernehmen? Wo fängt dabei die Eigenverantwortung der Schülerin, der Eltern oder des Patienten an?

 Gehört diese spezielle Verantwortlichkeit überhaupt zu meinem Bildungsauftrag? Oder gehe ich zu weit?

 Ist diese Person mit sprachlich-kommunikativen Beeinträchtigungen überhaupt mit diesem Bildungsauftrag einverstanden? Oder entzieht sie sich vermeintlich der Mitverantwortung, weil sie mir diesen Auftrag eigentlich nie selbst erteilt hat?

 Habe ich angemessene Bildungsangebote gemacht, in denen wir Auftrag und Verantwortlichkeiten gemeinsam klären und vereinbaren konnten?

Bildsamkeit und Bereitschaft

Analog zu dem vorher Gesagten stehen auf der anderen Seite die Personen mit Beeinträchtigungen der Sprache und Kommunikation zu Beginn jedes Therapieoder Förderprozesses ebenso vor einer Grundsatzentscheidung, die sich aus der Prämisse ihrer grundsätzlichen Bildsamkeit ergibt. Sie müssen die Bereitschaft mitbringen, die Bildungsangebote der Lehrenden und therapeutisch Tätigen auch anzunehmen. Sie müssen sich bilden und verändern wollen, denn eine fehlende Bereitschaft hindert den Lernprozess (Abb. 14).

Die Personen mit sprachlich-kommunikativen Beeinträchtigungen stehen demnach zu Beginn des Bildungsprozesses ebenfalls vor Fragestellungen, die je nach Beantwortung in ihrer Interdependenz und Reziprozität auf die pädagogisch-therapeutischen Fachkräfte zurückwirken. Die Reflexion dieser Fragen findet meist eigenaktiv beim Kind, Jugendlichen oder Erwachsenen mit Beeinträchtigung statt. Wo dies nicht selbsttätig geschieht, kann es nötigenfalls auch bei der Person mit sprachlich-kommunikativen Beeinträchtigungen angestoßen werden:

 Kommen die Bildungsbemühungen meiner Lehrerin, meiner Sprachtherapeutln oder meiner Logopädin wirklich bei mir an? Oder erreichen sie mich gar nicht, weil sie beispielsweise nicht zu mir passen oder ich mich eigentlich gar nicht ändern will?

 Was kann ich tun, um meine Bereitschaft zur Mitarbeit herzustellen? Welche Lernblockaden muss ich zunächst Aufl.ösen? Glaube ich, dass es sich lohnt, mich auf den Bildungsprozess einzulassen?

 Übernehme ich Eigenverantwortung für den Bildungsprozess? Oder lasse ich andere „mal machen"?

Ziele und Wagnisse – Bedarf und Bedürfnis

Klare Zielvereinbarungen

Klare Zielvereinbarungen im sprachpädagogischen wie auch im sprachtherapeutischen Prozess helfen, Erfolge im Unterricht und in der Therapie herzustellen und zu sichern. Eine Zielerreichung ist jedoch nicht immer garantiert. Manchmal kann der unterrichtliche oder therapeutische Bildungs- und Veränderungsprozess auch scheitern (Abb. 14). Vielfältige Reflexionsfragen der sprachpädagogisch oder sprachtherapeutisch tätigen Fachkraft helfen, mit dem grundsätzlichen Risiko im Hinblick auf Bildungs- und Erziehungsprozesse umzugehen:

 Habe ich mein Bildungsziel verfehlt? Bin ich hier in meiner sprachpädagogischen Tätigkeit gescheitert? Welchen Einfluss hat das auf meine Person? Wie gehe ich mit Erfolglosigkeit um?

 Habe ich bei dieser Schülerin oder diesem Patienten zu viel oder zu wenig gewagt?

 Waren meine sprachlichen Ziele von Anfang an zum Scheitern verurteilt? Hätte ich alles anders machen müssen?

 Habe ich den Mut und das Vertrauen, es in dieser Klasse noch einmal zu wagen?

 Sehe ich noch einen Sinn darin, es bei dieser Person mit sprachlich-kommunikativen Beeinträchtigungen mit den gleichen oder anderen sprachlichen bzw. sprachpädagogischen Zielen weiter zu versuchen?

Förderbedarf und -bedürfnis

Ebenso müssen beim sprachpädagogischen Bildungsprozess die Personen mit sprachlich-kommunikativen Beeinträchtigungen reflektieren, welcher von außen festgestellte sprachliche Bedarf, welches von außen vorgegebene Ziel und welches innere Bedürfnis zur Veränderung und Zielerreichung vorhanden ist bzw. ob dazu das Wagnis einer Veränderung eingegangen werden soll (Abb. 14) Denn auch wenn ein festgestellter sonderpädagogischer Unterstützungsbedarf im Bereich der Sprache oder ein sprachtherapeutischer Förderbedarf zur Behandlung einer Aussprachestörung vorliegt, so muss der diagnostizierte Bedarf nicht immer dem Bedürfnis der betreffenden Person entsprechen. Eventuell erscheint dem Kind das sprachpädagogische oder sprachtherapeutische Vorhaben nicht bedeutsam, da z. B. ein in Aussicht stehender Kompetenzzuwachs im Bereich der Artikulation gar keine Würdigung im Umfeld erfährt. Die Familie findet z.B. das Lispeln eigentlich sehr „süß“.

Personen mit sprachlich-kommunikativen Beeinträchtigungen sollten sich folgende Reflexionsfragen stellen:

 Habe ich ein inneres Bedürfnis nach Weiterentwicklung meiner sprachlichkommunikativen Fähigkeiten? Oder fühle ich mich in meiner Sprachlichkeit, in meiner sprachlichen Identität trotz eines von außen festgestellten Förderbedarfes sehr wohl?

 Will ich bleiben, wie ich bin? Will ich die „Hilfe“ bzw. „Zuwendung“ der SprachtherapeutIn oder der LogopädIn eigentlich gar nicht?

 Stehen gesellschaftliche, staatliche oder elterliche Bildungsziele bzw. Bildungsbedürfnisse“ über meinen persönlichen? Kann ich über mein eigenes sprachliches Lernbedürfnis bestimmen oder zwingt man mir Bildungsziele auf?

Inhalte und Beziehungen – Norm und Freiheit

Beziehungsgestaltung zu Lernenden

Eine weitere Komponente der sprachpädagogischen Bildungs- und Erziehungsprozesse ist die Vermittlung sprachlicher Inhalte im Rahmen einer Beziehungsgestaltung zwischen Lehrenden und Lernenden (Abb. 14). Im Bereich der Pädagogik bei Beeinträchtigungen der Sprache und Kommunikation kann eine Verschränkung der Inhalts- und der Beziehungsebene für den Erwerb sprachspezifischer Kompetenzen genutzt werden. Beispielsweise erhöht eine Therapiesituation mit einer angenehm entspannten Atmosphäre für die sprachtherapeutische Fachkraft wie auch für den Erwachsenen mit einer Stottersymptomatik die Chance, Techniken zur Überwindung der Sprechblockaden zu erlernen. Reflexionsfragen hierzu sind:

 Kann ich die interdependente Verschränkung von Inhalts- und Beziehungsebene speziell für das Erlernen meiner aktuellen sprach- und kommunikationsspezifischen Bildungsinhalte nutzen?

 Sind in meiner Gestaltung sprachpädagogischer Bildungs- und Erziehungsprozesse beide Ebenen ausgewogen? Oder ist mein Vorgehen zu sach- oder zu beziehungsorientiert?

 Besitze ich sowohl genügend Inhalts- als auch genügend Beziehungskompetenz? Oder spiegeln mir meine Schülerinnen und Schüler, meine Patientinnen und Patienten oder meine Kolleginnen und Kollegen, dass ich in einem Bereich an der Professionalisierung meiner Kompetenzen arbeiten muss?

Leidensdruck oder Individualität

Aus der Sicht der Lernenden spielt ferner die Balancierung der Aspekte der Norm und der Freiheit eine große Rolle (Abb. 14). Personen mit sprachlich-kommunikativen Beeinträchtigungen weisen zum einen ein hohes Störungsbewusstsein mit einem großen Leidensdruck auf. Zum anderen ist manchen Betroffenen die sprachliche Auffälligkeit überhaupt nicht bewusst oder sie empfinden sie nicht als Problem. Somit besteht im sprachpädagogischen Unterstützungsprozess einerseits die Möglichkeit, die vorhandenen sprachlichen Realisierungsmöglichkeiten als Teil der Individualität und sprachlichen Identität anzuerkennen. Andererseits kann aber Freiheit gerade durch den Erwerb sprachlicher Normen und einer klaren Orientierung an sprachlichen Zielstrukturen entstehen. Um diese Fragen für sich zu klären, gilt es folgende grundsätzliche Fragen zu reflektieren:

 Empfinde ich meine Sprache oder Kommunikation eigentlich als „unnormal"? Oder erlebe ich mich trotz meiner Beeinträchtigung als sprachlich frei?

 Will ich meine verlorene sprachliche Freiheit dadurch zurückgewinnen, dass ich sprachpädagogische oder sprachtherapeutisch-logopädische Unterstützung annehme, um meine Sprache entsprechend den Normen unserer Sprachgemeinschaft zu „verbessern"?

 Reflektiere ich die sprachlichen und gesellschaftlichen Normen, die z.B. durch sprachliche „Zielstrukturen“ an mich als bilinguale Person mit Migrationshintergrund herangetragen werden? Oder werden durch die Be- und Zuschreibung einer sprachlichen „Auffälligkeit", „Abweichung“ oder „Störung“ nicht nur sprachlich-kulturelle Teilhabemöglichkeiten, sondern auch ihre Grenzen an mich transportiert?

Wirklichkeit und Wahrnehmung – Partizipation und Isolation

Grenzen der Perspektivübernahme

Im Bildungs- und Erziehungsprozess existiert auf beiden Seiten und natürlich auch unabhängig davon eine „Wirklichkeit“, die von allen Beteiligten jedoch immer nur durch eine bestimmte „Brille“ wahrgenommen werden kann (Kap. 1). Besonders im sprachpädagogischen Handeln mit beeinträchtigten Menschen ergibt sich die Frage, inwieweit sich die Lehrenden durch Empathie und Perspektivenübernahme tatsächlich in die entsprechende Wirklichkeit des Lebens mit einer sprachlich-kommunikativen Beeinträchtigung hineinversetzen können. Oder sind nicht eher durch die Bedingungen der eigenen Lebenswelt Grenzen gesetzt? Es ist sicherlich stets eine große Herausforderung, sich beispielsweise die Sprachlichkeit von Anna, Claudia oder Bastian oder von anderen von Sprachentwicklungsstörungen, Laryngektomie (Kehlkopfentfernung) oder Demenz betroffenen Personen vorstellen zu können. Mit regelmäßigen Reflexionen und evtl. auch Gesprächen über die pädagogische Situation kann die Diskrepanz zwischen Wahrnehmung und Wirklichkeit zumindest ein Stück weit abgebaut werden (Abb. 14):

 Für wie „wirklich“ halte ich meine Beobachtung der Bildungswirklichkeit? Bin ich mir bewusst, dass jede / r Beteiligte sie ganz unterschiedlich wahrnehmen kann?

 Verständige ich mich genug mit meinen Schülerinnen oder Patienten über ihre Sicht der Dinge? Oder präsentiere ich meine Sichtweise als einzig richtige?

 Inwieweit kann ich mich – auch wenn ich mich um Empathie und Perspektivenübernahme bemühe – in die Lebenswirklichkeit eines beispielsweise von Mutismus, Laryngektomie oder Aphasie betroffenen Menschen überhaupt hineinversetzen? Inwieweit sind meiner Erkenntnis durch die Bedingungen meiner eigenen Lebenswelt Grenzen gesetzt?

Grenzen der Partizipation

Auf der anderen Seite des sprachpädagogischen Feldes prägen die Möglichkeiten von Partizipation und Isolation die Lebensbedingungen der Menschen mit sprachlich-kommunikativen Beeinträchtigungen. Konkret werden auch der Unterricht oder die Therapie von diesen Optionen beeinflusst. Für den Fall, dass die sprachpädagogischen Bemühungen um Bildungsteilhabe sich nicht verwirklichen lassen und Reste von Isolation bleiben, müssen Stillstand, Rückschritte und Abbauprozesse von den betroffenen Personen genauso wie von den Fachkräften verarbeitet werden. Zudem können sich z.B. Arbeitslosigkeit oder gesellschaftliche Aussonderung negativ auf den sprachpädagogischen oder sprachtherapeutischen Verlauf auswirken. Sowohl für die Fachkräfte wie gerade auch für sprachlichkommunikativ beeinträchtigte Personen ist es notwendig, über Grenzen von Partizipation zu reflektieren (Abb. 14):

 Was mache ich, wenn es in meiner Therapie nicht mehr aufwärts- oder nicht mehr vorangeht? Wie gehe ich mit Rückschlägen oder stagnierendem Lernen um?

 Wie gehe ich damit um, wenn ich als laryngektomierte Person durch ein Rezidiv vom Tod bedroht bin, wenn ich als Person mit Aphasie einen zweiten Schlaganfall erleide oder wenn ich als Person mit Stottersymptomatik keine Lehrstelle bekomme? Verdränge ich Stillstand, Rückschritte und Abbauprozesse?

 Welche Ressourcen brauche ich, um in einer sich schnell verändernden Lebens- und Berufswirklichkeit mit Grenzen von Bildungsteilhabe umzugehen?

Pädagogik bei Beeinträchtigungen der Sprache

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