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Aristokratie
ОглавлениеSchon in Combray ist Marcel angetan von den Kirchenfenstern, die in bunten Bildern die ruhmreiche Geschichte ihrer adeligen Stifter, der Guermantes, erzählen. Hier bildet sich in ihm, dem Kind gehobener Bürger, die Vorstellung, hinter den prächtigen Farben und den wohlklingenden Namen des örtlichen Adels verberge sich eine allgegenwärtige, mythische Macht, angesiedelt irgendwo zwischen Himmel und Erde. Später, in Paris, wird die ►Strohmatte im Hauseingang der Guermantes zur symbolischen Grenze, die ihn von der geheimnisvollen und begehrenswerten Welt des Faubourg Saint-Germain trennt. Auch wenn im Laufe des Romans die aristokratische Welt entzaubert wird und sie sich im Wesentlichen als Ansammlung wichtig dahinschwätzender, eitler Durchschnittsgestalten entpuppt, kann sich die kindliche Begeisterung verwandeln in eine Faszination, die gerade die negativen Seiten der Aristokratie, ihre Selbstgenügsamkeit und ihre Beschränktheit, als Bedingungen für ein eigenständiges Universum erkennt: »In dieser Weise schließt der schwergewichtige, kaum von Fenstern durchbrochene Bau der Aristokratie, der wenig Licht einfallen lässt und den gleichen Mangel an emporgerichtetem Schwung, aber auch die gleiche massive, blinde Kraft aufweist wie die romanische Architektur, verdrießlich die gesamte Geschichte in seinen Mauern ein.« Indem die Aristokratie in ihrer Selbstüberschätzung die eigentlichen, großen historischen Ereignisse als Nebensächlichkeiten in ihren »schwergewichtigen Bau« einfügt und sie »nur maskiert, entstellt, verkleinert im Namen eines Besitztums oder in den Vornamen einer Frau« auftreten, wird ein gewohntes Wahrnehmungsschema durchbrochen, der herkömmliche Blick auf die Geschichte relativiert und eine neue Perspektive gewonnen. So beschränkt und verschlossen gegen den gesellschaftlichen Alltag und die Tagespolitik die Aristokratie auch sein mag, sie erfüllt damit im historischen Raum – ohne sich dessen bewusst zu sein – eine vergleichbare Funktion wie die sonst vom Erzähler geschätzten Überraschungen, seien es die unwillkürliche ►Erinnerung, ein plötzlicher Perspektivwechsel oder die Begegnung mit einem unbekannten Kunstwerk.
Ab Sodom und Gomorrha kündet der Roman immer deutlicher vom nahenden Untergang dieser obsoleten Gesellschaftsschicht, die sich in ihre Burg oder auch in ihr ►»Aquarium« gerettet hat: Die adeligen Selbstbestätigungsrituale, die Marcel auf der Matinee und der Soiree der Guermantes erlebt, werden in den Beschreibungen des Erzählers begleitet von Zeichen nahender Zerstörung wie Donnergrollen, Erdbeben oder Schwefelregen. Im Ersten Weltkrieg schließlich vollzieht sich das angekündigte Menetekel, Paris erscheint als ein künftiges Pompeji, das die Lebensweisen der Aristokratie als Kuriosität für Archäologen bewahrt.