Читать книгу Das Proust-ABC - Ulrike Sprenger - Страница 21
Aquarium
ОглавлениеZur Entstehungszeit von Prousts Roman herrschte in Paris eine regelrechte Unterwasser-Manie, welche von Architektur über Inneneinrichtung, Theater, Malerei, Literatur, Fotografie bis zum frühen ►Film und Mode nahezu alle kulturellen Bereiche erfasste. Der Jugendstil fand in den zunehmend auch wissenschaftlich erforschten Meereskreaturen ein unerschöpfliches Repertoire organischer Formen und Farben. Für die Weltausstellung im Jahr 1900 wurde in Paris das damals weltgrößte Aquarium gebaut, an dessen Wänden man unterirdisch entlangging; der Eingangsbereich war als rundum bewachsene Unterwasser-Grotte gestaltet. Die beliebte (auch von Proust erwähnte) Theaterform der Feerie, deren Hauptattraktion im furiosen Wechsel überreicher Bühnenbilder und Kostüme bestand, ließ ihre märchenhaften Verwandlungen ebenfalls in imaginären untermeerischen Reichen spielen. Proust folgt dieser Mode und wendet sie zugleich in charakteristischer Weise: Die Unterwasser-Szenerie ist im ►Roman nicht bloß eine jener zeittypischen Kulissen, über die ►Bergotte klagt, sie seien zwar hübsch, verkitschten aber die Leidenschaften der klassischen Tragödien (wie Racines Phädra) zu einer »Liebesaffäre zwischen Seeigeln«. Proust gestaltet die mondäne Welt des Faubourg Saint-Germain in fortgesetzten ►Metaphern zu Unterwasser-Bühnen, ihre ►Salons zu Aquarien, durch die der Erzähler gespült wird: Die ►Farben dieser Räume schillern grünlich oder bläulich, bevölkert sind sie von so pracht- wie geheimnisvollen, merkwürdig undefinierten »Kreaturen«, deren Kleidung und Wohnstätten schillern wie »Schalen aus Perlmutt«. Damit bietet zum einen die mondäne Welt für den Erzähler eine Welt voller überraschender Schönheit, zum anderen aber zeigt sie sich als eine Welt der Zweideutigkeiten und Geheimnisse: Die Kreaturen dieser Feenreiche wandeln ständig ihre soziale oder auch geschlechtliche Identität, ihr wahres Gesicht ist hinter ihren vielgestaltigen Erscheinungen nicht zu erkennen. Die bizarre Unterwasserwelt wird so zur Metapher für die Unergründlichkeit und Scheinhaftigkeit der Salongesellschaft. Die eigentümliche Zwittrigkeit der Meereskreaturen führt den Erzähler zugleich auf die Spur von ►Hermaphrodismus und ►Homosexualität. Das Wogen und Werden des mondänen Ozeans ist getrieben von uneingestandenen, ja verbotenen und damit immer auch potentiell vernichtenden Leidenschaften.
Prousts Salonbeschreibungen überblenden die zeitgenössische Unterwasser-Mode mit der viel älteren Wasser-Symbolik der ►Moralistik, dem »Ozean der Leidenschaften«, wie ihn die klassische französische Tragödie des 17. Jahrhunderts, insbesondere die in Sodom und Gomorrha oft erwähnte Phädra Racines, in Szene setzt. Auf diese Weise gibt Proust seinen Salon-Aquarien jene abgründige Tiefe zurück, die Bergotte in den modischen aquatischen Inszenierungen vermisst: Wenn er das mondäne Aquarium mit seinen reizenden Nereiden und Okeaniden zugleich als Palast des Neptun beschreibt, ist auf Prousts Bühne jene rächende, strafende Gottheit präsent, jene Verkörperung rasender Leidenschaft, die bei Racine Phädra vernichtet; als ihre Inkarnation im Roman erscheint immer wieder der unberechenbar in schäumenden Zornessturm ausbrechende ►Charlus. Bei Marcels zweitem Balbec-Aufenthalt wirkt der »Speisesaal […], der gefüllt war mit grüner Sonne« wie ein Aquarium, dessen Bild Proust hier eine sozialkritische Note abgewinnt: Der Erzähler bemerkt, wie die arbeitende Bevölkerung sich die Nase an den Scheiben plattdrückt, und fragt sich, »ob die gläserne Wand auf Dauer das Gelage der wundersamen Bestien schützen wird und ob nicht die Schattengestalten, die gierig in der Nacht zuschauen, kommen werden, um sie in ihrem Aquarium einzufangen und aufzuessen«.
Auf dem mondänen Aquarium lässt der Erzähler mal einen faszinierten, selbst von mondänen Ambitionen und Leidenschaften getriebenen Blick ruhen, mal den eines an ►Balzac geschulten ›Zoologen‹, der den letzten Zufluchtsraum einer aussterbenden Spezies beobachtet.