Читать книгу Das Proust-ABC - Ulrike Sprenger - Страница 16
Alter
ОглавлениеDas Alter ist neben dem sozialen Auf- und Abstieg die wichtigste Triebkraft der erstaunlichen Verwandlungen, denen Prousts Figuren immer wieder unterliegen. Die Personen scheinen sich im Alter nicht bloß zu verbrauchen oder dahinzuschwinden, ihr Verfall ist vielmehr mit einem körperlichen oder moralischen Identitätswechsel verbunden; charakteristische Eigenschaften verschwinden und neue, ungeahnte bahnen sich ihren Weg. Der elegante, weltgewandte Charlus wird dick, unansehnlich und zuletzt gesellschaftlich geächtet, Saint-Loup wird homosexuell, Odette doch noch wahrhaft elegant, bei Swann schälen sich durch Alter und Krankheit jene jüdischen Gesichtszüge heraus, die sein Leben lang unauffällig waren, und der Erzähler stellt an sich selbst plötzlich Ähnlichkeiten mit seinem ►Vater fest, mit dem ihn kaum etwas verband. Am Ende des Romans treffen sich alle gealterten Figuren zu einem makabren Maskenball; die Spuren der Zeit haben sie zu grotesken Gestalten gemacht, die der Erzähler kaum wiedererkennt: »Bloch war in Sprüngen hereingekommen, wie eine Hyäne.«
Das Altern der Figuren und ihre Metamorphosen weisen nicht nur auf die Vergänglichkeit des Lebens hin, sondern auf die grundsätzliche Inkonstanz und Flüchtigkeit dessen, was man eine Person nennt. Diese besteht eigentlich nur aus wenigen, willkürlich herausgegriffenen und unverlässlichen Eindrücken, die man unter einem ►Namen zusammenfasst: »Ein Name, das ist oft alles, was für uns von einem Menschen bleibt, und zwar nicht erst, wenn er tot ist, sondern auch schon zu seinen Lebzeiten. Und unsere Vorstellungen von ihm sind so undeutlich, oder so absonderlich, und entsprechen so wenig denjenigen, die wir von ihm gehabt hatten, dass wir völlig vergessen haben, dass wir uns um ein Haar mit ihm duelliert hätten, uns aber daran erinnern, dass er als Kind eigenartige gelbe Gamaschen in den Champs-Élysées trug, während er sich umgekehrt trotz aller unserer Beteuerungen nicht erinnern kann, jemals dort mit uns gespielt zu haben.«
Auch dem Entschluss des Erzählers, seinen lange geplanten Roman zu schreiben, geben erst die erschreckenden Spuren des Alters echte Dringlichkeit. Der Erzähler wird sich bewusst, dass er jetzt gegen sein eigenes Altern und den ►Tod anschreiben muss, aber auch, dass er die ►Zeit und ihre Wirkung zum eigentlichen Hauptthema seines Romans machen kann: »Da kam mir plötzlich der Gedanke, dass in meinem Werk, so ich noch die Kraft hatte, es zu vollenden, diese Matinee – wie auch bestimmte Tage in Combray, die einst ihre Wirkung auf mich gehabt hatten –, die mir gerade heute zugleich die Idee für mein Werk eingegeben als auch die Furcht eingeflößt hatte, es nicht verwirklichen zu können, vor allem anderen in diesem Werk jene Gestalt kennzeichnen würde, von der ich schon damals in der Kirche in Combray eine Vorahnung hatte und die für uns gemeinhin unsichtbar bleibt, nämlich die der Zeit.«