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Vorwort

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Ein wesentlicher Teil der Moderne entstand und entsteht immer erneut aus der Ernsthaftigkeit von Verhältnissen und der Not. Dabei gibt es auch die Imitatio, die Verschiebung der Notzeit über die Generationen hinweg. Der Vater Marcel Prousts war ein Arzt. Er war verantwortlich für Frankreichs Abwehr der vierten und der fünften Attacke der Cholera. Eine seiner Antworten war die Quarantäne. Diese Abschottung wiederholt sich dann in den Räumen, in denen der Poet Marcel Proust, sein Sohn, lebte und arbeitete. Kork-Täfelung, schwere, schalldichte Vorhänge, Verdunkelung gegen die Werbewelt, Hysterie, die Elektrizität und Unruhe der Gegenwart: Davor schützt das abgeschottete Zimmer den Dichter. In dieser Trennung von der Aktualität gedeiht seine Einbildungskraft.

Die Quarantäne, die wir derzeit erleben, ist nicht freiwillig gewählt. Neben der Spiegelung des Ernstes der Lage ist eine solche Quarantäne aber auch heute ein »literarisch wirksames Instrument«. Die Abschottung begünstigt die Konzentration. Sie potenziert das Organ des Poetischen: die Introspektion. Es geht um die Neuordnung der Eindrücke, das Entstehen neuer Übersichtlichkeiten in den Labyrinthen der Erfahrung. Das ist das Thema von Auf der Suche nach der verlorenen Zeit. Für den Dichter ist die Abschottung ein Instrument der Wahrnehmung. Wie eine der Optiken im aufkommenden Zeitalter des Stereoskops, der Fotografie und des Films.

Dem Gehäuse, in dem der Hieronymus Proust dichtet, und auch der Abgeschlossenheit, zu der wir derzeit gezwungen sind, entspricht, wie gesagt, der Cordon Sanitaire, den der Vater Marcel Prousts als Arzt entwarf. Er identifizierte Ägypten als Einfallstor der Erreger der Cholera. Er half, einen Ring der Abwehr zu errichten, reichend über Persien und Südrussland. Die Krankheit tötete die Hälfte der Befallenen.

Der verborgene Ort, die Höhle, die Bibliothek der inneren, mentalen und emotionalen Kontinuitäten, dieses ORGANON DER EINBILDUNGSKRAFT, in das sich der Sohn des Epidemiologen einschloss, ist ein öffentlicher Raum, in dem die intimen und die öffentlichen Erfahrungen ihre Orgien, ihre legitimen Heiraten, ihre One-Night-Stands vollziehen und zugleich ihre absolute Sehnsucht ausdrücken nach Kontinuität und nach Ewigkeit der Liebesverhältnisse. Das ist weder als Heterotopie noch als Utopie etwas Reales. Noch nie aber hat sich die Sehnsucht nach Realismus gerichtet.

Das Kind Marcel Proust, das kurze Zeit nach der Niederschlagung des Aufstands der Commune von 1871 in Paris geboren wird, ist kein Kind der Revolution. Proust ist konservativ strukturiert. Literarisch bleibt er aufsässig und rebellisch. Nach wie vor gilt meine Aufmerksamkeit dem Raum, in dem er schreibt, seinem Beobachtungsinstrument. Wie Proust arbeitet auch Johannes Kepler. Der Astronom war kurzsichtig. Allein durch das Fernrohr kann er seine Einsichten nicht gewonnen haben. Um die Ellipsenbahnen der Planeten zu bestimmen, kann er nicht auf seine beschädigten Augen vertraut haben, sondern er stützte sich auf seine Kenntnis der platonischen Körper und auf aristotelische und physikalische Bewegungsgesetze. Ähnlich Marcel Proust: Er erahnt, erspäht, kontextualisiert, füllt in Worte, setzt in Zusammenhang, was ihm die lebendige Erfahrung gebot. Er verwandelt die ihm anvertraute Erfahrungswelt (wie Ovid) in dauerhafte Texte.

Die Abwehr gegen die Attacken der Cholera erforderte schwere Schlachten. Den preußischen Behörden war diese Abwehr des tückischen Erregers in den frühen Jahren des 19. Jahrhunderts misslungen. Überall hatten die Behörden die Landesgrenze gesperrt. Die Flüsse und die Kanäle und die dortige Schifffahrt hatten sie übersehen. So drang der Erreger nach Berlin. Ein Strunk kalter Trauben, die der Philosoph Hegel eigentlich gar nicht begierig war zu essen, von denen er aber naschte, brachte den großen Philosophen um. Nur die fromme Lüge der Wahrheitssucher von der Humboldt-Universität zu Berlin, dem Tod Hegels liege keine Cholerainfektion zugrunde, und die Agitation seiner Frau Marie einschließlich Falschbehauptung, dass nichts von Cholera Ursache dieses Todes gewesen sei, bewahrten den berühmten Philosophen vor dem Massengrab mit Zutat von viel Kalk. Es hätte Marcel Proust sicher gefallen, dass hier ein Schwindel notwendig war, um den Mann vor dem Kalk im Massengrab zu bewahren. Das Massengrab mit Kalk ist Chiffre für das, was nach der Zeit Prousts an Schrecken in den 1940er Jahren im Osten Europas noch bevorstand.

Das PROUST-ABC von Ulrike Sprenger hat mich schon in der früheren Auflage entzückt. Bei der Einteilung der Genres der Literatur in Epik, Dramatik und Lyrik fehlt immer eine vierte Rubrik. Ist es die Kritik? Ist es etwas Unbekanntes, eine Neuerung? Was ist es? Ich bin überzeugt, dass das vierte Genre der Literatur mit Kommentierung zu tun hat. Kommentar, Sammlung, gründliche Untersuchung (wie sie die Brüder Grimm betrieben – »Das Poetische heißt sammeln«): Das ist das, was zu den drei Grundkategorien hinzutritt. Zu dieser Formenwelt gehört das Alphabet. Es dient nicht bloß der Aufzählung der Buchstaben. Es enthält einen Such-Algorithmus für das Sammeln, eine Chance der Gliederung und der Verkürzung. In den TV-Gesprächen, die ich mit Ulrike Sprenger, dieser eigensinnigen Ausgräberin poetischer Besonderheiten, führte, habe ich den vierten Begriff der Literatur immer wieder studieren können.

Das PROUST-ABC beginnt mit »A« wie Abraham, dann Académie française, Agostinelli, Aimé (das sind Liebhaber von Proust, in seinen Texten ins Weibliche transfiguriert), Akazienallee, Céleste Albaret (die letzte Haushälterin Prousts), Albertine (die erste und letzte Geliebte), Alkohol, Allegorie, Allergie, Alter, …, Angst, Apfelbäume, Aquarium, Arzt … Das ist nur ein Ausschnitt für den Buchstaben »A«. Ihm entspricht im Talmud und in der antiken Tradition Griechenlands das Alpha und somit auch die »dunkle Seite des Alpha«. Das ist der »verlorene Buchstabe«, nach dem die Poetik, aber auch die Menschheit, sucht. Man sieht, dass ein Überblick mit der optischen Verzerrung des Alphabets die Neugier weckt.

Bei »Z« finden wir in diesem PROUST-ABC nur zwei Eintragungen: »Zimmer« (siehe oben die Stichworte Quarantäne, Wahrnehmungsinstrument der Erfahrung, Cousin des Stereoskops, Dunkelkammer, Korkzimmer) und »Zeit, verlorene«. Das gehört schon zum Titel von Marcel Prousts Hauptwerk. Mit dem Raster des ABC lassen sich weite Ebenen und ganz knappe Grate und Gipfel einer literarischen Landschaft kartographieren. Das Buch, schlage ich vor, sollte der Leser wie eine Landkarte 1:300.000 lesen, der Karte in dem Maßstab, in die sich im ernsthaften Krieg die Generalstäbler und Leiter des Geschehens vertiefen.

Marcel Proust zeigt mir (neben so viel anderem), welche Autorität die Literatur besitzt. Ich illustriere das an einem Detail. Die Tochter des Komponisten Jacques Fromental Halévy hieß Geneviève Halévy. Proust war mit ihr vertraut. Geneviève Halévy wurde später die Frau von Georges Bizet. Nach dessen Tod heiratete sie einen reichen Mann aus dem Hause Rothschild. Das Ehepaar errichtete einen Palast im Zentrum von Paris, im Stil des Fin-de-Siècle. Diese Frau voller Gegenwart wurde bei Proust zur Herzogin von Guermantes und Hauptperson des zweiten Bandes seiner SUCHE NACH DER VERLORENEN ZEIT. Es handelt sich um eine Jüdin. Sie ist neureich. Sie ist durch ihre Gegenwart charakterisiert. Bei Proust wird sie zum Juwel des französischen Uradels. Zu einem Diamanten der Vergangenheit, zurückreichend zu den Adelsfamilien, die das Königreich Jerusalem begründeten und später Zypern regierten. Damit schließt sich der Kreis zu der bezaubernden Oper des Vaters der Geneviève, Jacques Fromental Halévy, Die Königin von Zypern. Sie ist zugleich eine »Tochter der Republik Venedig«, eine Gründerin eines Intelligenzkreises der Renaissance. Nur poetische Autorität und textuelle Energie vermag in dieser Weise Namen und Lebensläufe zu transmutieren, Mythen zu schaffen und zu bezaubern.

Alles das geschieht bei Marcel Proust, wie schon gesagt, in Klausur. Wie ein Hieronymus im Gehäuse sitzt Marcel Proust in seiner kreativen Höhle. Wir Menschen sind Prärietiere, aber auch Höhlentiere. Nur in Verschlossenheit lassen sich Geist, Peripherie und Zentrum einer Zeit gleichzeitig einfangen. Wie Arachne, die Weberin aus Byzanz, die von der neidischen Konkurrentin Athene in eine Spinne verwandelt wurde, weil sie auf Kleidern die Geschichte ihrer Zeit schöner erzählte als die Göttin, »spinnt« Proust – bis zur Erschöpfung, unter Einsatz seines Lebens – in seinen dunklen Räumen.

Ein im positivsten Sinne »dienender« Text wie das PROUST- ABC, das uns diese erzählende Quelle auffindbar macht und in ihr navigiert, ist ein Geschenk. Er ist ein Lustgenerator für die Wissensbegierde. Ein solches ABC ergänzt auf wohltuende Art das, was Literatur von sich aus vermag. Wir erleben heute Literatur im Kontext der Algorithmenwelt von Silicon Valley: einer riesigen Überredungskunst und einer technischen Verfügungsgewalt. Am Gegenalgorithmus zu dieser Algorithmenwelt arbeiten die Patrioten der »Bibliothek von Alexandria«, die Liebhaber der Literatur. Der Gegenalgorithmus ist den allmächtigen Algorithmen nicht feindlich gesinnt, sondern fähig, einzudringen in die gewaltigen Leerräume, die die Algorithmen offenlassen. Algorithmen funktionieren wie die Hofhaltung im Märchen von Dornröschen. Das goldene Geschirr reicht gerade für 12 weise Frauen im Lande. Also wird die 13. Fee ausgeschlossen. Liebhaber der Literatur bleiben Anwälte der 13. Fee.

Ein ABC scheint zunächst ein technisches Instrument unserer Schriftkultur. Als solches ist es komplex, und im Baskischen funktioniert es anders als im Chinesischen. Dem Alphabet verwandt ist aber auch die DNA, die Schrift unseres Genoms. Wir tragen diese SCHRIFT AUS NUR VIER BUCHSTABEN täglich in uns, in unseren Zellen, in unserem Gehirn, in unseren Ohren und auch auf dem größten Organ, das wir besitzen, der Haut. Der Gegenspieler dieser DNA, ein nicht alphabetisierbares, robustes, primitives, aber dennoch intelligentes System, sind die RNA-Partikel, z. B. das die Quarantäne-Schranke setzende Coronavirus. Letztlich sind aber auch die Schreibweisen des Kosmos und der Quanten Schriften und Alphabete. In dieser Vielfalt als einem Ozean der Verständigungen bewegen sich die Flöße der Literatur. Man wünschte sich viele ABCs, viele Rhizome, deren Wurzeln zum Himmel weisen, hin zu den Texten.

Der abgeschottete Raum, in dem Marcel Proust dichtet und lebendig ist, ist wie ein Fernrohr und zugleich wie ein Mikroskop. Wie ein Innenohr verdichtet er die Töne. Wie in der Zelle eines Schreibers im 12. Jahrhundert sitzt der Autor in seinem abgeschlossenen Raum, seinem räumlichen und zeitlichen Erkenntnisinstrument, seiner astronautischen Laube. Ich glaube, dass unsere Zeit uns, auch mit dem Zeichen des Virus, den Gebrauch unserer Sinne und den Gebrauch der Schrift neu lehrt. Ich bin glücklich, das PROUST-ABC hier vorstellen zu dürfen: ein Instrument, so wichtig wie der Bleistift, wie ein Inhaltsverzeichnis, wie ein Notizblock für neue Einfälle.

Alexander Kluge, im Juni 2020

Das Proust-ABC

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