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Akazienallee

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Die Allee duftender Bäume im Bois de Boulogne, in dem der Erzähler als Kind Madame Swann, die Mutter seiner geliebten ►Gilberte, immer wieder beobachtet, erscheint ihm wie die Kulisse eines Tiergeheges, vor der sich erst die aufregende Schönheit der bewunderten weiblichen Kreatur in ihrer ganzen Pracht entfaltet. Die wechselseitige Verstärkung von Schönheit der Natur und Schönheit der Frau in den Augen des (in Mutter wie Tochter) verliebten Kindes illustriert zwei nicht hintergehbare Prinzipien der Wahrnehmung, die immer wieder vom Roman vorgeführt werden: erstens die Abhängigkeit der Wahrnehmung von der augenblicklichen, subjektiven Befindlichkeit des Wahrnehmenden – nur mit den Augen der Liebe gesehen scheinen Madame Swann und die Allee füreinander geschaffen zu sein –, aber zweitens auch die Relativität und Unzuverlässigkeit einer solchen subjektiven Perspektive. Die Erscheinung, die auf das Kind noch perfekt, erhaben und unnahbar wirkte, kann der rückblickende Erzähler im gleichen Atemzug als verblühende Lebedame entlarven: »in der Hand einen malvenfarbenen Schirm, auf den Lippen ein vieldeutiges Lächeln, in dem ich nichts anderes sah als das Wohlwollen einer Hoheit und in dem doch ganz und gar die Herausforderung einer Kokotte lag …« Mit dem hier zur Schau gestellten Wissensvorsprung des gealterten Erzählers wird zugleich auch die Vergänglichkeit seiner eigenen Schönheitsempfindung schmerzhaft spürbar. Als der Erzähler Jahre später die Akazienallee wieder besucht, erlaubt ihm sein nun abgeklärter Zustand nicht mehr, in der neuen Mode jene Schönheit wahrzunehmen, die ihn an Madame Swann bezauberte: »Und in alle diese neuen Akte des Schauspiels vermochte ich nicht mehr den Glauben zu setzen, um ihnen Zusammenhang, Einheit, Existenz zu verleihen; sie zogen verstreut an mir vorbei, zufällig, inhaltsleer, enthielten keinerlei Schönheit, die meine Augen, so wie damals, hätten versuchen können zusammenzufügen.« Der Erzähler erkennt aber, dass diese Trostlosigkeit nicht etwa an der mangelnden Schönheit der neuen Kleider und Frauen liegt oder an der veränderten Natur, sondern am Verlust der verliebten Stimmung: »Doch wenn ein Glaube verwelkt, so überlebt ihn – und zunehmend lebhafter, um den Mangel an Kraft, die uns verlorengegangen ist, zu kaschieren, den neuen Dingen Wirklichkeit zu verleihen – eine götzendienerische Anhänglichkeit an die vergangenen Dinge, die er beseelt hatte, als ob in ihnen und nicht in uns das Göttliche wohnte […].« Nur in der ►Erinnerung, in der die damalige subjektive Stimmung und die wahrgenommene objektive Wirklichkeit eines vergangenen Zeitpunkts gemeinsam aufbewahrt sind, ist die vergangene Schönheit wiederzubeleben. Am Übergang von Auf dem Weg zu Swann zu Im Schatten junger Mädchenblüte lässt die Beschreibung der Akazienallee schon deutlich spüren, wie neben dem Thema der Erinnerung allmählich jene Überlegungen zu ►Alter, Vergänglichkeit, ►Vergessen und der Begrenztheit der menschlichen Wahrnehmung an Gewicht gewinnen, die sich in Sodom und Gomorrha noch verstärken und in Die Entflohene und Die Gefangene den Roman ganz beherrschen.

Das Proust-ABC

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