Читать книгу Das Proust-ABC - Ulrike Sprenger - Страница 20
Apfelbäume
ОглавлениеAls direkte thematische Verwandte der ►Weißdornhecke bescheren in Sodom und Gomorrha auch blühende Apfelbäume dem Erzähler eine unverhoffte Begegnung mit dem Schönen. Das Erlebnis hat alle Merkmale einer ekstatischen Offenbarung wie sonst nur eine unwillkürliche Erinnerung: eine plötzliche, unerwartete Begegnung, die nicht bewusst herbeigeführt werden kann, ein Augenblick, der die Essenz eines bestimmten Zeitabschnitts – hier des Frühlings – festhält. Damit gehört der Anblick der Apfelbäume zu jenen Begebenheiten, die eine indirekte Aufforderung an Marcel enthalten, Schriftsteller zu werden und die Schönheit schreibend festzuhalten. Erst sehr viel später jedoch versteht er diese Botschaft, die von den Apfelbäumen genauso wie von der Weißdornhecke, Unwettern oder►Venedig an ihn ergeht.
Ein wesentlicher Unterschied zwischen Apfelbäumen und Weißdornbüschen wäre jedoch hervorzuheben: Zwar erinnern auch die Apfelbäume an entzückende junge Mädchen in Ballkleidern, aber es regnet und sie stehen mit den Füßen im Schlamm: Wie in seiner Kindheit erlebt der Erzähler einen Augenblick vollkommener Schönheit, er erlebt ihn jetzt indes vor einem düsteren Hintergrund, vor dem Hintergrund des gerade erst in einer ►»Unstetigkeit des Herzens« erfahrenen Verlusts der Großmutter und in Vorwegnahme des künftigen Schmerzes, den Albertine ihm noch bereiten soll. Sehr viel später im Roman, nach Albertines Tod, wird er seinen immer wieder unerwartet aufwallenden Schmerz vergleichen mit einem »kalten Wind wie jener, der in Balbec über die schon rosigen Apfelbäume gestrichen war«. Waren die Weißdornbüsche noch vornehmlich aus der Perspektive eines von der natürlichen Schönheit überwältigten Kindes beschrieben, so sehen wir die Apfelbäume durch die Augen eines Erzählers, der den Schmerz kennt und die Qualen der ►Eifersucht erfahren hat.