Читать книгу Das Proust-ABC - Ulrike Sprenger - Страница 23
Arzt
ОглавлениеVater Adrien Proust mit Sohn Robert (sothebys.com)
Proust stammt aus einer erfolgreichen und renommierten Medizinerfamilie, ►Vater wie ►Bruder waren zu seinen Lebzeiten weit bekannter als er: Sein Vater war Generalinspektor des französischen Gesundheitswesens und setzte den hygienischen »Sperrgürtel« durch, der die Weiterverbreitung der Cholera in ►Europa verhindern sollte. Sein Bruder war Chirurg, führte die erste erfolgreiche Prostataentfernung Frankreichs durch und beschäftigte sich auch mit dem ►Hermaphrodismus. In seinen Schriften zur Hygiene zeigt der Vater Adrien Proust sich ganz entschieden dem Humanismus und der Aufklärung verpflichtet: Sein Hygienekonzept sucht in Anlehnung an die antike Selbstsorge einen harmonischen Ausgleich zwischen ►Körper und Geist; die christliche Körperfeindlichkeit sieht er als einen zivilisationsgeschichtlichen Rückschritt. In den Roman gehen immer wieder zeitgenössische Kenntnisse der Medizin ein, die Proust aus der umfangreichen Bibliothek seines Vaters bezieht. Gerade an den Arztfiguren wird jedoch deutlich, dass er dessen optimistisches Körper- und Menschenbild nicht teilt: Den Ärzten gesteht Proust im Roman wenig Kompetenz und Würde zu. Widersprüchliche Diagnosen und Therapievorschläge entlarven die Willkür ihrer Kunst; ihr Interesse gilt weniger einer korrekten Diagnose oder der Heilung des Patienten, als ihn als Kunden an sich zu binden. Die Ärzte des Romans fallen immer wieder durch moralische Zweifelhaftigkeit oder spezifische Dummheit auf: Keiner kann die Großmutter retten, auch wenn jeder eine andere bedeutungsvoll vorgetragene Diagnose ihrer Krankheit bietet; Professor E vermag kaum zu verbergen, dass er den Tod seiner Patientin nicht als Unglück, sondern als Erfolg sieht, insofern dieser seine Diagnose bestätigt, und Cottard als einziger Arzt, dessen medizinische Kompetenz öfter gelobt wird, kann keinen Satz formulieren, ohne eine falsche Redewendung zu gebrauchen.
Mit seinen lächerlichen Arztfiguren knüpft Proust direkt an die Tradition europäischer Komödien an, in denen es vor geldgierigen und geltungssüchtigen Quacksalbern wimmelt. Die geschilderten Eigenschaften belegen darüber hinaus zwei Gesetzmäßigkeiten des menschlichen Wesens, die der Roman immer wieder geltend macht: Erstens gibt sich, wenn der Arzt nur heilt, um Ruhm und Geld zu gewinnen, die Nächstenliebe einmal mehr als verkappte Eigenliebe im Sinne der ►Moralistik zu erkennen. Zweitens zeigt sich besonders bei Cottard in der Kombination von fachlicher Kompetenz und sozialer Dummheit, dass der Mensch nicht als personale Einheit existiert, sondern sich aus verschiedensten Teilen zusammensetzt, die nicht einmal miteinander kommunizieren müssen. So wie Charlus einen Mann und eine Frau in sich beherbergt, so wie im erwachsenen Erzähler das Kind weiterexistiert, wohnen in Cottard eben ein Genie und ein Dummkopf zusammen. In ►Jean Santeuil fällt Prousts Karikatur der Medizin noch ausgewogener aus: Hier profitieren die Ärzte – wie in den klassischen Komödien – nicht zuletzt von der überspannten Imagination und Hypochondrie ihrer Patienten, den Künstlern.