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Balzac, Honoré de (1799–1850)

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Proust schätzte Balzacs Werke sehr, kritisierte aber auch seinen nachlässigen Stil, seinen Hang zum Melodram und seine vulgäre Ausdrucksweise. In ►Contre Sainte-Beuve, den ersten, essayistischen Entwürfen zum Roman, ist der Herzog von Guermantes ein passionierter Balzac-Leser; er kann sich kaum zwischen einer Balzac-Lektüre und seiner zweiten Leidenschaft entscheiden, der Benutzung des ►Stereoskops. Diese analog gesetzten Leidenschaften des Herzogs geben Aufschluss darüber, was Proust an Balzac schätzt: In seinem Romanzyklus der Comédie humaine erzielt Balzac einen der optischen Wirkung des Stereoskops vergleichbaren Effekt eines mehrschichtigen Raums, indem er in den ansonsten voneinander völlig unabhängigen Teilen die gleichen Personen wiederkehren lässt. Dieser Kunstgriff, den Balzac selbst nicht von vornherein geplant hatte, gibt dem Werk im Nachhinein den Charakter eines in sich geschlossenen, umfassenden Universums, ohne die Eigenständigkeit der einzelnen Episoden und Romane zu beeinträchtigen. Eine ähnliche künstlerische Einheit, welche »nicht die Vielfalt beengt«, eine solche Geschlossenheit, die gleichzeitig einen Eindruck von Unabgeschlossenheit und Unfertigkeit vermitteln kann, da sie nachträglich ist, erzielt für Proust auch Wagners ►Musik durch die Technik der Leitmotive: »Wagner, der aus seinen Schubladen ein hinreißendes Stück zog, um es als ein im Rückblick unverzichtbares Thema in eine Oper einzufügen, an die er noch gar nicht gedacht hatte, als er es komponierte, der nach der ersten mythologischen Oper eine zweite und dann noch weitere komponierte, bis er plötzlich merkte, dass er dabei war, eine Tetralogie zu schaffen, muss etwa der gleiche Schwindel ergriffen haben wie Balzac, als er auf seine Werke den Blick zugleich eines Außenstehenden wie auch eines Vaters warf und […] sich plötzlich im Licht dieser rückwärtsgewandten Betrachtung darüber klar wurde, dass sie noch schöner wären, wenn er sie zu einem Zyklus, in dem die gleichen Personen wiederkehren, vereinigen würde und durch diesen Zusammenschluss seinem Werk den letzten und erhabensten Pinselstrich hinzufügte.« Das Prinzip einer nachträglichen Einheit, die nicht willkürlich aufgesetzt wirkt, da sie sich aus der Betrachtung der bereits vorhandenen Teile erst ergibt, begeistert Proust auch deshalb so, weil es der Entstehungsgeschichte seines eigenen Romans entspricht: Die Geschichten, Beschreibungen, Reflexionen und Themen aus Auf der Suche nach der verlorenen Zeit – von den Natureindrücken über die verschrobenen Personen bis zu einzelnen Episoden – trägt er bereits seit seinen allerersten Schreibversuchen in sich, aber erst das Thema der Erinnerung ermöglicht es ihm, sie locker und doch im Innersten zusammengehörig zu verbinden.

Der Auftakt von Sodom und Gomorrha, also jenem Romanteil, den Proust erst spät in das ursprüngliche Romankonzept einfügte, entspringt nicht mehr einer Erinnerungssituation (wie der Auftakt von Combray), sondern er entwirft eine Beobachtungsposition des Erzählers: Von der Treppe des Stadthauses der Guermantes blickt er auf die Hügel und Dächer von Paris, die ihm wie geologische Formationen erscheinen, auf denen sich als winzige Lebewesen die zu ihren Arbeitsstellen strebenden Dienstboten bewegen. Kurz darauf wird der Erzähler auf seinem Beobachtungsposten geheimer Zeuge des Liebesspiels zwischen Jupien und Charlus, das er mit der Befruchtung einer Orchidee durch eine Hummel vergleicht. Der neuere Romanteil zitiert damit erkennbar jenen »naturwissenschaftlichen« Blick auf das Panorama der Gesellschaft, den Balzac als die eigentliche Aufgabe des Romans formulierte. Selbst der sich hier ankündigende Einbezug der ►Homosexualität in die gesellschaftliche ►›Botanik‹ findet seine literarischen Vorbilder bereits bei Balzac, wie dessen Leser Charlus an anderer Stelle ausdrücklich bemerkt.

Das Proust-ABC

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