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Automobil

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Löst als Mittel der Beschleunigungserfahrung die ►Eisenbahn ab. Sosehr er diese geliebt hat, so skeptisch steht der Erzähler dem die Bewegungsmöglichkeiten in jede Richtung steigernden Automobil gegenüber. Der Zug fährt in festgelegter Abfolge nur die vorgesehenen Bahnhöfe an, er konfrontiert den Reisenden dort nicht mit realen Eindrücken, sondern gibt ihm lediglich über eine Namenstafel symbolisch zu verstehen, wo er sich befindet, und ermöglicht so eine Reise durch die eigene Phantasie, entlang der individuellen und unverwechselbaren, mit jedem ►Namen verbundenen Assoziationen des Reisenden. Das Automobil dagegen löst diese angenehme, die imaginierte Einzigartigkeit eines jeden Ortes respektierende Form der Reise auf: Aus immer anderen Richtungen nähert man sich in rasender Geschwindigkeit den Orten, je nach Blickwinkel scheint ein Ort in mehrere zu zerfallen, oder mehrere Orte fließen durch die Reisegeschwindigkeiten in einen – die Reise im Automobil führt nicht wohlgeordnet von einer Vorstellung zur nächsten, gestützt durch die Assoziationskraft der Namen, sondern hier verschwimmt die Landschaft in einem Rausch namenloser Bilder.

In ihrer Flüchtigkeit, ihrer Unschärfe und ihren illusionistischen Effekten ähneln die Eindrücke einer Autofahrt den impressionistischen Bildern ►Elstirs; je mehr er diese im Laufe seiner Balbec-Aufenthalte schätzen lernt, desto mehr kann der Erzähler auch den Verlust der in seiner Phantasie so scharf umgrenzten Orte verschmerzen und die Ausflüge im Automobil genießen. In der Aufhebung heiliger, jedoch nur in der inneren Welt des Erzählers existierender Orte und Grenzen gleicht damit die Wirkung einer Autofahrt dem Effekt jener Bemerkung ►Gilbertes gegen Ende des Romans, man könne bei einem Spaziergang in ►Combray leicht über eine Abkürzung von Swanns Welt zur Welt der Guermantes gelangen. So wie durch diese unerhörte Zusammenführung völlig verschiedener Gebiete die Weltordnung von Marcels Kindheit zusammenbricht, löst die Erfahrung des beliebigen Perspektivenwechsels bei einer Autofahrt jede Möglichkeit einer verbindlichen, individuellen Topographie auf. Wie bei seiner Begegnung mit dem ►Impressionismus steht der Erzähler dieser »impressionistischen« Beschleunigung seiner Wahrnehmung durch das Automobil zwiespältig gegenüber: Wenn er auch auf die Dauer ihre ästhetische Faszination genießen lernt, so empfindet er sie doch im Zusammenhang mit Albertine immer als bedrohlich: Wie schon das Fahrrad wird das Automobil zum Symbol ihrer Ungreifbarkeit, Undurchschaubarkeit und Flüchtigkeit. Allein die Vorstellung, zu welchen Eskapaden die untreue und geschwindigkeitsversessene Geliebte das Automobil bequem nutzen oder genutzt haben könnte, steigert die ohnehin ständig am Erzähler zehrende ►Eifersucht. Zwar genießen er und Albertine gerade bei ihren Autofahrten Momente ungewohnter Vertrautheit und Sinnlichkeit, der Erzähler ist sich aber bewusst, dass diese Fahrten nur eine Art ›bewegter‹ Gefangenschaft darstellen – indem er Albertines Bewegungsdrang nachgibt und mit ihr fährt, begeben sie sich gemeinsam auf eine ziellose Flucht; nie gelangen sie an einen Ort, an dem er sie kontrollieren und besitzen könnte, er kann lediglich verhindern, dass sie ihm alleine davonfährt. Diese bis zuletzt zwiespältige Haltung zu einem Gefährt, das einerseits die Topographien von Phantasie und Erinnerung zerstört, andererseits einen rauschhaften, flüchtigen Bildgenuss ermöglicht, einerseits die Geliebte in ihrem eigentlichen Element leben lässt, dabei aber andererseits ihre Flüchtigkeit umso schmerzlicher hervorhebt – dieser Zwiespalt unterscheidet Prousts Haltung zum Automobil von der seiner enthusiastischen und technikoptimistischen Zeitgenossen wie zum Beispiel den Futuristen, die es als Mittel zur Befreiung von räumlichen und zeitlichen Zwängen feiern.

Das Proust-ABC

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