Читать книгу Das Proust-ABC - Ulrike Sprenger - Страница 26
Autobiographie
ОглавлениеNachdem der Mensch sich im 18. Jahrhundert als freies Individuum entdeckt hatte, beschloss er im 19. Jahrhundert, dies auch für die Nachwelt festzuhalten, und die Autobiographie kam in Mode; berühmte und völlig unbekannte Leute schrieben ihre Lebensgeschichte auf. Als literarisches Modell dienten dabei unter anderem die Confessiones (Bekenntnisse) des Augustinus (354–430), eine christliche Lebensbeichte, die nicht nur über äußere Ereignisse, sondern auch über Bildung, moralische Verfehlungen, Zweifel und schließlich die Bekehrung ihres Autors berichtet.
Prousts ►Roman scheint auf den ersten Blick dieser Tradition – in besonders phantasievoller Weise – zu folgen und ist auch immer wieder als verschlüsselte Autobiographie gelesen worden, in der jedes Motiv im Roman zu einem biographischen Ereignis zurückverfolgt werden kann. Dass eine solche Lesart nicht im Sinne des Autors ist und die – natürlich vorhandenen – Übereinstimmungen zwischen Leben und Werk nicht im Zentrum seines Interesses standen, zeigt sich auf den zweiten Blick darin, dass alle zwingenden Elemente fehlen, mit denen sich eine Autobiographie als solche auszuweisen pflegt: Alle wichtigen Daten des Erzählers, mit denen normalerweise eingeleitet wird, sind im Unklaren: Geburtsjahr und -ort, Namen und Beruf der Eltern sind zwar für Proust bekannt, nicht aber für den Erzähler seines Romans. Nicht einmal dessen Name steht fest; auf über 1000 Seiten fällt er zweimal und auch das nur im Tonfall eines hypothetischen Spiels: »Nennen wir ihn Marcel«. Chronologie und Länge der beschriebenen Lebensabschnitte lassen sich nicht bruchlos rekonstruieren; in Balbec scheint der Erzähler mal noch ein Kind zu sein, dann schon ein sexuell ambitionierter Jüngling. Des Weiteren fehlt die bei allen Autobiographien des 19. Jahrhunderts so beliebte Geste der schonungslos ehrlichen Offenlegung aller Lebensumstände, wie sie das Vorbild Augustinus schon im Titel vorgibt (auch Rousseau schreibt Confessions). Im Gegenteil: Der Ich-Erzähler führt sich bei Proust gleich zu Beginn als jemand ein, dem man aufgrund seines Zustands keinen Glauben schenken kann; er ist ein ►Erwachender, noch im Halbschlaf, der selbst nicht genau zu sagen vermag, an welchem Ort und in welchem Zeitabschnitt seines Lebens er sich befindet. Genauso wenig kann man feststellen, in welchem zeitlichen Abstand der Erzähler sich zu dem befindet, was er schildert, aus welcher Position heraus er erzählt oder schreibt. Mit seinem berühmten ersten Satz beginnt der Roman ganz bewusst in der Unschärfe, setzt sich damit ab von einer Tradition der Wahrheitstreue und schafft stattdessen die neue Gattung der fiktiven Autobiographie – eine »Autofiktion«, in der nicht ein Leben erzählt, sondern eines erfunden werden darf. Dabei knüpft er nicht an die Tradition satirischer Schelmen-Autobiographien der frühen Neuzeit an, sondern spielt mit den traditionellen Mustern »authentischer« Autobiographien, um den Weg zur Erkenntnis der subjektiven Wahrnehmung zu erzählen: Der Roman ist ein bisschen Erlösungs- oder Bekehrungsgeschichte (sein Held kommt auf steinigen Wegen über das Offenbarungserlebnis der unwillkürlichen ►Erinnerung zu seiner wahren Berufung, dem Schreiben), ein bisschen Entwicklungsroman (nach vertaner Zeit und Liebesleid findet er eine sinnvolle Aufgabe) und ein bisschen Autobiographie (Proust tauchte einmal Toastbrot in den Tee), eindeutig zu fassen ist er aber mit keiner dieser Kategorien.