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Albertine (Simonet)
ОглавлениеNach ►Gilberte, Odette Swann und Oriane de Guermantes, für die er mehr oder weniger erfolglos schwärmt, die erste und letzte Geliebte des Erzählers. In der Liebesgeschichte – wie man sie wohl nennen darf, auch wenn sich die Forschung darüber streitet, ob ein tatsächlicher Geschlechtsakt angedeutet wird – zwischen Marcel und Albertine wiederholen sich viele Elemente, die man schon aus den früheren Beziehungen im Roman kennt: Ein unbestimmtes Begehren geht dem Kennenlernen voraus, geweckt durch den Zauber des ►Namens einer Unbekannten (wie bei Gilberte und Mlle d’Éporcheville, die sich wiederum als Gilberte entpuppt); der erste Kontakt zwischen den Liebenden ist nicht unmittelbar, sondern wird über die ►Kunst hergestellt und verklärt (wie durch die ►Musik Vinteuils bei Odette, durch Bergotte bei Gilberte, durch das Theater bei Rahel); die folgende Beziehung schließlich ist von ►Eifersucht und Verzweiflung des Mannes geprägt (wie bei Swann und Odette). Das neue, im ursprünglichen Konzept des Romans nicht vorgesehene Liebesverhältnis verändert und steigert jedoch all diese bereits bekannten Momente, insbesondere das Zusammenspiel von Liebe und Kunst: Albertine wird dem Erzähler von ►Elstir vorgestellt und erscheint von Anfang an als »impressionistische« Schönheit. Der Erzähler sieht das Mädchen mit dem schönen Namen mehr als eine Reihe von Farb- und Stimmungseindrücken denn als Person oder Charakter: eine Silhouette vor dem Meer in Balbec, ein Lächeln inmitten eines Schwarms junger Mädchen, ein vorbeischießendes Fahrrad. Gerade in ihrer Ruhelosigkeit, ihrer ständigen Bewegung liegt ihr Reiz: »Von ihren Augen ging, obwohl sie sich nicht rührten, ein Eindruck von Bewegung aus, so wie an Tagen mit starkem Wind, an denen man der Luft, wenngleich sie nicht zu sehen ist, die große Geschwindigkeit anmerken kann, mit der sie vor dem Blau des Himmels hinwegfegt.« Schon lange bevor Albertine zur »Entflohenen« wird, ist sie eine »Fliehende«. Der Erzähler erfreut sich an den flüchtigen Eindrücken, ja sie wecken sein Begehren und führen zu einer Art Jagdlust, das Zentrum dieser hübschen Impressionen zu erhaschen, und ein kurzer Blick in das Gesicht Albertines, deren Augen den Himmel über dem Meer spiegeln, scheint ihm ein ganzes Universum zu versprechen.
Sobald er aber versucht, diese vielfältigen Impressionen in ein Liebesverhältnis zu überführen, bemerkt der Erzähler die negativen Seiten einer flüchtigen Vielfalt, die sich nicht zu einer Person zusammenfügen will: »Diese besagte Albertine war kaum mehr als ein Schattenriss, alles, was sich darübergelegt hatte, stammte von mir, so sehr überwiegt in der Liebe – selbst wenn man einen rein quantitativen Standpunkt einnimmt – das, was wir selber einbringen, gegenüber dem, was das geliebte Wesen dazu beiträgt.« Die Bilder, die Albertine ihm bietet, gehen über flüchtige Eindrücke nicht hinaus, hinter ihnen befinden sich keine Person, sondern die Phantasien des Erzählers. Auch in der Folge kann er keiner »wirklichen« Albertine habhaft werden; schon beim ersten ►Kuss entzieht sie sich ihm und wiederholt damit das Trauma des verweigerten Gutenachtkusses aus Combray. Die Beziehung wird zunehmend zur Qual und illustriert im Wechsel von besitzgieriger Eifersucht und zufriedener Gleichgültigkeit den tiefen Pessimismus Prousts gegenüber jeder Möglichkeit gelingender Liebe.
Gerade die impressionistischen Reize seiner Geliebten machen deren Besitz für den Erzähler noch unerreichbarer als den von Odette für Swann: Einerseits genießt er den ästhetischen Reiz ihrer Flüchtigkeit, die Vielfalt der aneinandergereihten Eindrücke – die »unendliche Folge eingebildeter Albertinen, die sich in mir stündlich ablösten« gleicht impressionistischen Bilderserien, wie zum Beispiel Monets Heuhaufen oder Kathedralen, die denselben Gegenstand unter immer verschiedenen Bedingungen, in immer neuem Licht und anderen Farben zeigen. Auf dem Fahrrad oder bei den gemeinsamen Ausflügen im Automobil wird Albertine zu einer Göttin der Geschwindigkeit, die den Erzähler die Landschaft wiederum als eine faszinierende Serie rasender Bilder erleben lässt. Andererseits machen diese Flüchtigkeit, dieses Auftreten als Reihe unzusammenhängender Eindrücke jeden Besitz und jede Kontrolle Albertines unmöglich. Dass ästhetischer Genuss sich zwangsläufig mit seelischem Leid paart, wird schon bei den Autofahrten deutlich: Der Reiz einer beschleunigten Landschaft wird aufgewogen durch die Qual der Eifersucht auf den Chauffeur, für den Albertine sich interessiert. In sich ständig wandelnden Bildern entzieht Albertine selbst ihren Körper der eindeutigen Wahrnehmung; auch nach längerer Zeit kann der Erzähler nicht einmal genau sagen, wie sie aussieht. Gerade jene Eigenschaften schwanken, die traditionell als Signalement die Identität einer Person festlegen: Ihre Augen sind einmal grün, ein andermal veilchenblau, ihre Haare einmal braun, ein andermal schwarz.
Die Verbindung der Liebesgeschichte mit Elstir und der Kunst des ►Impressionismus ist dabei nicht Ursache für die Erkenntnis des Erzählers, dass wahre Liebe und echte Kommunikation zwischen Personen immer illusorisch sind, schon für Swann und Odette oder Marcel und Gilberte war dies deutlich. Das Zusammenspiel von Malerei und Liebe formuliert hier den neuen Gedanken, dass gerade das, was wir an der Kunst bewundern und genießen, sich im Leben grausam gegen uns wenden kann: Heuhaufen- und Kathedralen-Serien mögen schön sein, die ›Albertinenserie‹ macht gleichwohl unglücklich. Die Flüchtigkeit und Ungreifbarkeit Albertines sind heillos und können nicht einmal im Nachhinein durch die alles verklärende unwillkürliche ►Erinnerung wiedergutgemacht werden. Diese kann einen Gegenstand oder eine Person auferstehen lassen, ja sie lässt eigentlich erst erfahrbar werden, was der Alltagswahrnehmung im Augenblick des Erlebens entgangen ist. In der Wiederauferstehung wird auch ein verlorengegangener Teil der Persönlichkeit des Erinnernden miterweckt, er erkennt nicht nur den Gegenstand, sondern weiß plötzlich, wer er selbst damals war. Bei Albertine misslingt nicht nur die nachträgliche Offenbarung ihrer Identität in der Erinnerung, sondern die identitätszersetzende Wirkung der impressionistischen Eindrücke überträgt sich auch auf den Erzähler. Im Kontakt mit »der unendlichen Folge eingebildeter Albertinen« löst er sich selbst in eine unendliche »Serie von Ichs« auf, die seine Erinnerungen nicht mehr zusammenfügen kann. Da das Verhältnis zu Albertine schon zu deren Lebzeiten nur aus einer Reihe einander überlagernder und einander ersetzender Bilder bestand, bleibt es auch in der Erinnerung immer unabgeschlossen.
Wollte man Albertine allerdings auf Eifersucht, Schmerz und Vergessen reduzieren, auf eine »femme fatale«, deren unlösbares Geheimnis ihren Geliebten in die Verzweiflung treibt und ihm auch noch die Erinnerung raubt, so würde man Prousts lustvoller Demontage seines eigenen Erzählers nicht gerecht. Immer wieder entlarvt Albertine dessen Obsessionen, und es wird deutlich, dass er sich in seiner grenzenlosen Eifersucht und seinen ständigen Verdächtigungen von jeder Realität entfernt hat – zuletzt benimmt er sich wie ein Gefängniswärter. Und sie weist den Leser nicht nur auf die charakterlichen Unzulänglichkeiten des Erzählers hin, sondern kratzt auch an seinem idealisierten Kunstbegriff. Sie macht sich lustig über seinen Sprachstil und imitiert diesen in einer sprachlich völlig überzuckerten Beschreibung der Eiskreationen des damals berühmtesten Konditors von Paris, Rebattet. Die Sinnlichkeit von Albertines Beschreibungen ist einerseits eine ironische Anspielung auf die Unfähigkeit ihres Gefängniswärters, körperlichen Genuss zu verstehen oder zu erleben. Indirekt trifft sie damit aber auch den manchmal bis zur Schwerfälligkeit und Lächerlichkeit überladenen Stil Prousts; Albertine wird zum Medium einer kunstvollen und witzigen Selbstkritik. Nicht Theater oder Romane findet sie schön, ihre Liebe gilt den plump gereimten Rufen der Gemüse- und Fischhändler, und auf diese Weise stellt sie wieder den Vorrang einer schriftlich fixierten Sprachkunst in Frage, wie Marcel (und Proust) sie schätzt. Mit ihrer ordinären Sprache, ihren Lügen, ihrem instinktiven, ungebildeten Sinn für Schönheit, ihrer unbeschwerten Treulosigkeit, ihrer Sinnlichkeit und ihrer Respektlosigkeit vor den Werten des Erzählers fügt Albertine diesem nicht nur Leid zu, sondern bildet ein ständig relativierendes Gegengewicht zu seinen idealistischen oder auch pessimistischen Reflexionen. Gerade weil sie nicht zu fassen ist und keines der Urteile über sie sich letztlich bestätigen lässt, sorgt sie auch in entscheidender Weise dafür, dass der Erzähler nicht zu einem Verkünder von Wahrheiten erstarrt und der Roman die gleiche schillernde und reizvolle Offenheit behält wie Albertine selbst.