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Der Herrscher, Karte IV der Heldenreise

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Zur Aufgabe des Herrschers gehört es, aktiv in Geschehnisse einzugreifen. Sein Ziel ist Regelmäßigkeit, Ordnung, Klarheit und Umgang mit Kraft und Energie. Der Herrscher schenkt uns nichts. Wir sind es, die jetzt die Dinge in die Hand nehmen, und Struktur in unser Dasein bringen. Die hohe Kunst des Lebens wird gefördert.

Gelingt es uns nicht, herrscht er über uns.

***

Aram

Der mittlerweile erwachsene Aram rebellierte. Brachte er als Junge noch ein begrenztes Maß an Gehorsam auf, nahm Anweisungen als gegeben hin, hinterfragte er jetzt alles. Seine heroischen Phantasien endeten schlagartig an der Akademie, die eher einem Gefängnis mit Freigang glich, als einer gehobenen Lehranstalt. Hier unterwiesen sie ihn nicht nur in höherer Bildung, sondern auch in niedrigen Künsten, die der Genfer Konvention nicht standgehalten hätten. Bald erkannte er, dass er den falschen Platz gewählt hatte.

Drei Beweggründe motivieren einen Menschen, eine Militärlaufbahn einzuschlagen: Patriotismus, Gene, oder sie suchen einen legalen Weg, um zu töten.

Zwei davon trafen auf Aram zu. Nur trat er Machthabern mit ständigem Misstrauen entgegen, und er ließ sich schwer führen.

Die ersten Wochen bestanden aus Schikanen der übelsten Art. Aram wurde noch härter gepeinigt als die anderen, denn es war keine leichte Aufgabe, ihn zu brechen. Selbst im Halbschlaf war er noch ein Gegner, dem man lieber nicht zu nahe kam.

Führten seine Kameraden am Wochenende stolz ihre Uniformen spazieren, jagten sie ihn durch die Bahnen, ließen ihn Liegestützen stemmen, Hauswand rauf, Sprung in den Dreck, Gesicht in den Matsch, und nochmals und nochmals, bis er vor Erschöpfung heulte. Wie ein Wellnessurlaub fühlte es sich nicht an. Er wurde solange gequält, bis er lernte, die Faust im Sack und nicht vor der Nase der Ausbildner zu ballen.

Es erwies sich auch nicht als hilfreich, dass er ursprünglich aus Albanien stammte. Er musste schneller rennen als die anderen, um seine Herkunft abzuschütteln. In Jugoslawien empfand jeder Staat seinen Nachbarn als den natürlichen Todfeind. Slowenien vertrat die Meinung, sie ernährten den Rest des damals sozialistischen Jugoslawiens. Dabei versprühten sie nicht Slawische Freundlichkeit, sondern Rassenverachtung. Arams Lehrmeister war Slowene.

Aram wiederum war bestrebt, diesen möglichst lange zu beschäftigen, denn auch der Ausbildner bekam erst Feierabend, wenn Aram am Boden lag, und das dauerte bei diesem „Bauerntrampel“ schon mal etwas länger. Er verfügte über beinahe unerschöpfliche Kraftreserven und ausgezeichnete Reflexe. Eigenschaften, die ihm mitgegeben wurden wie Haarfarbe oder Körpergröße. Kombiniert mit jahrelangem Training und erlernter Kampftechnik wurde er zu einer gefährlichen Waffe, was das angestrebte Ziel dieser Schmiede für Einzelkämpfer war: Soldaten, die zu Fuß vorwärts drangen, deren Körper als tödliches Kampfgerät eingesetzt wurde und deren Waffen eine Verlängerung ihrer Körperglieder waren.

Diese Ausbildung war der Preis, den er für sein Interesse an Mathematik, Chemie und Geschichte bezahlte. Diese Bildung war es, die ihn hierhergebracht hatte. Ein Ausstieg wäre für die Familie eine Schande gewesen. Dazu erwarteten sie Geld von ihm, denn ihm als Ältesten oblag die Ausbildung der jüngeren Geschwister. Zähneknirschend blieb er weiterhin in der Anstalt, in der aus Kadetten Männer gemacht werden und graduierte.

Aram erachtet das Militär nach wie vor für notwendig: „Willst du Frieden, so rüste auf! Es wird immer Idioten geben, die glauben, nur mit einem Gewehr in der Hand ihr Recht einfordern zu können. Ob es uns gefällt oder nicht, andere Völker bewaffnen sich. Dann genügt es nicht, wenn du mit dem Finger auf sie zielst und rufst: Peng, du bist tot.“

Ihm missfiel einiges. Ehre, Ehre, Loyalität brüllten sie in einer Welt, in der kein Wert auf Ehre gelegt wurde.

Je höher er in der Hierarchie aufstieg, umso mehr zählte die Partei. Aber er war ein Krieger, er wollte Wände hinaufklettern und nicht die Karriereleiter.

Da Aram eher klein gewachsen, schlank, zäh und flink war, setzten sie ihn dort ein, wo andere nicht durchkamen. Er galt als der ideale Mann, um hinter der Linie zu kämpfen und unter dem Radar wegzutauchen. Er wurde nicht aus lärmenden Helikoptern abgeseilt, er agierte leise.

Kleinere Personen werden unterschätzt, doch in seinem Körper steckte eine unglaubliche Schnelligkeit. Er war schlau, hatte eine hervorragende Beobachtungsgabe und einen sechsten Sinn für Gefahren, den er seiner eher primitiven Herkunft verdankte.

In jeder Armee existiert die Truppe der Zähen, woraus wiederum die Truppe der ganz Zähen herausgefiltert wird. Da landete Aram. Doch seine Gegner waren ebenfalls hart und schnell. Überleben kann nur, wer noch härter und schneller wird. Ihr Trainingsprogramm war, um es nett auszudrücken, rau, wobei 60 % die Fortbildung nicht durchhielten, und keiner von diesen war durchschnittlich.

Es ging darum, jederzeit über hundert Prozent Muskelkraft zu verfügen. Nur weil ihre Schenkel wie Feuer brannten, der ganze Körper zitterte, war das nicht die Grenze. Irgendwann war die Kraft dahin, alles schüttelte sich. Dann ging es nur noch ums Durchhalten. Wer aufgab, war draußen. Danach gehörten sie zu den Besten.

Hier lernte er, den Feind zu eliminieren, bevor dieser ihn eliminieren konnte. Ihm aber auch mit Vorsicht, Respekt und dem Wissen, wozu dieser fähig ist, zu begegnen. Hier lernte er Angst zu überwinden, sie aber gleichzeitig anzunehmen, denn ihre Kraft hilft, ihn am Leben zu erhalten.

Für Aram stand noch eine weitere Ausbildung an: Wie halte ich einem Verhör stand, wenn der andere nicht besonders nett zu mir ist.

Doch in unserem Leben entscheiden nicht nur Geschick und Kraft, auch zufällige Mächte spielen mit. Wer erkennt, wann er verloren hat, wer erkennt, dass er gut, aber nicht kugelsicher ist, und sich vor dem Schicksal verneigt, hat auch gewonnen.

Aram wechselte nie auf die dunkle Seite. Nach langer Tradition sozialistischer Staaten wurde das Militär für eigene Zwecke instrumentalisiert und nicht nur zum Schutz der Bevölkerung eingesetzt. Die hohe Kunst der Liquidation wurde eingesetzt, und kommunistische Regierungen handelten nach dem Grundsatz: Zuerst schießen, dann fragen. Menschen wurden eliminiert, politisch unbequeme verschwanden.

Aram wusste, dass es lediglich noch eine Frage der Zeit war, bis sie diese Anweisung von ihm verlangten, und dann?

Die Konsequenz einer Verweigerung kannte er. Die Partei beobachtete ihn bereits, da zwei seiner zahlreichen Großonkel lange vor seiner aktiven Zeit ein Attentat auf Tito verübt hatten. Der Balkan vergisst nie!

Tito überlebte, die Onkel wurden exekutiert, doch ihr Widerstand wirkte in Aram weiter.

Nach zehn Jahren Dienst hatte er genug von durchfrorenen Nächten, schlechtem Essen und schmerzenden Muskeln. Es missfiel ihm, wie ehemalige Kameraden vor ihm salutierten. Rastlos versuchte er, aus dem Vakuum auszubrechen und sein Leben neu zu ordnen. Die mit einer Überdosis Testosteron getriebenen Kerle der Spezialeinheit empfand er nicht als angenehmen Umgang. Niemand ist gefährlicher oder arroganter als ein ganzer Haufen davon, denn die Macht der Gruppe enthebt sie jeder Verantwortung. Sein Großvater nannte diese Einheit die Truppe der Idioten.

Im Urlaub zog es ihn in die Einsamkeit seines geliebten Kroatiens. Tagelang wanderte er ziellos dahin. Versperrten ihm Schlangen oder Bären den Weg, änderte er kurzerhand die Richtung. Manchmal traf er auf abgelegene Höfe, wo ihm, nachdem sie sich gegenseitig beschnuppert hatten, Gastfreundschaft angeboten wurde, wie es die Kultur verlangte. Dann übernachtete er bei Familien, die den hochprozentigen Slibowitz tranken wie Wasser, und brach der Morgen an, zog er erleichtert weiter.

Mit zunehmendem Alter verringerte sich sein Drang zu kämpfen, und er räumte einer neuen Begeisterung Platz ein: Frauen. Er liebte sie, ihre Sanftheit, ihren Duft, ihre Haut, ihre hellen Stimmen, und beinahe alle entzückten ihn.

Dieser neuen Beschäftigung kam er genauso leidenschaftlich nach, wie er zuvor kämpfte. Doch anders als die Alte erforderte die Neue nicht die geringste Anstrengung. Es existierten genug Willige, die mit allen Mitteln versuchten, sich einen Offizier zu angeln und sich damit einen besseren Lebensstandard erhofften.

Zudem verstehen sich Offiziere aufs Küssen. Jede Frau, für die er sich interessierte, fühlte sich auserwählt, denn seine Aura war raumfüllend, seine Präsenz unübersehbar, selbst wenn er ruhig in einer dunklen Ecke stand. Dazu eilte ihm der Ruf des ultimativen Liebhabers voraus, und an diesem arbeitete er fleißig.

Er genoss das Spiel mit den Frauen; und verließ sie wieder. Die Spur gebrochener Herzen, die er hinterließ, war beachtlich. Doch dann verliebte er sich unsterblich.

Sie hieß Vanessa und spielte mit ihm, wie er zuvor mit Frauen gespielt hatte. Tausend Tode starb er, während er hinter ihr herrannte. Sie begehrte keinen Mann aus armem Haus. Nicht gut genug, nicht fein genug, nicht reich genug.

Zwanzig Jahre später begegneten sie sich wieder in einem Spital in der Schweiz. Zufall? Zwei Millimeter sorgten für Arams Kampfunfähigkeit. Über Wochen lag er nach einem Zeckenbiss auf der Intensivstation. Zuerst gaben ihn die Ärzte auf, dann die Familie. Sie organisierte schluchzend seinen Rücktransport, um ihn in heimatlicher Erde begraben zu können.

Doch Arams Zeit war noch nicht abgelaufen.

Einen Tag vor seiner Entlassung schoben sie einen neuen Patienten ins Zimmer. Eine bullige Person, dessen Gewicht nur noch von seiner Blödheit übertroffen wurde.

Wie bei Bettnachbarn üblich, begannen sie ein Gespräch und bald ordnete Arams neuer Bettnachbar ihn als serbischen Landsmann ein: „Du hast Glück, dass du Serbe bist. Als Albaner überlebst du keine Nacht neben mir“, blökte er.

Den Rest des Tages verbrachte Aram verärgert in der Cafeteria, bis ihn die Erschöpfung zurücktrieb.

Am Bett seines Nachbarn saß Vanessa. Sie erkannten sich augenblicklich und verabredeten sich heimlich im Flur. Gemeinsam spazierten sie auf und ab. Aram brauchte nicht erst zu fragen, ob sie jetzt mit diesem Blödmann die bessere Wahl getroffen hatte. Verängstigt und von Verzweiflung gezeichnet beschwor sie ihn, ihrem Mann nichts zu erzählen. Aram schüttelte nur verächtlich den Kopf.

Nachdem am nächsten Morgen die Austrittsformalitäten erledigt waren, zog Aram langsam einen Stuhl hinter sich her und setzte sich ans Bett des Genossen. Bedächtig schlug er ein Bein über das andere, zupfte die Bügelfalten zurecht und wischte ein Stäubchen von den Oberschenkeln. Langsam zog er seinen Pass aus der Hemdtasche und überreicht ihn dem Nachbarn. Danach lehnte er sich zurück.

„Warum gibst du mir deinen Pass, was soll ich damit?“, reagierte dieser ärgerlich.

„Oh, du kannst nicht lesen? Das dachte ich mir schon. Da steht geschrieben, dass ich Albaner bin. Ich war anständig zu dir. Weshalb bist du es nicht auch zu mir?“

Mit bohrenden Augen fixierte er ihn. „Ich bezweifle nicht, dass du in Satans Diensten stehst. Dein Herr würde sich freuen, wenn du den Krieg wieder aufleben lässt. Nur, falls alle so dumm sind wie du, verliert ihr ihn erneut. Ach, übrigens. Wurde dir nie beigebracht, den Gegner zuerst zu taxieren?“

Langsam krempelte er den linken Ärmel seines Hemdes hoch, wobei er exakt Umschlag für Umschlag faltete, bis eine Tätowierung sichtbar wurde. Die Körpersprache beherrscht Aram hervorragend. „Was siehst du da? Erkennst du den Stempel der jugoslawischen Militärpolizei? Ja, ich stelle fest, das tust du. Nicht ich hatte Glück, sondern du. Was du dir erträumt hast, habe ich gelernt. Schnell und effizient. Oder auch langsam.“

Mit der Zeit trat in der jugoslawischen Armee eine Veränderung ein, die keiner zu benennen vermochte. Plötzlich begann das Militär ihre Kanonen von hier nach da, und von da nach hier zu verschieben. Alle ahnten, dass etwas im Anzug war, aber niemand nannte genaues, und die Luft schwirrte vor Nervosität.

Aram war erwachsen geworden. Soldaten werden es unweigerlich, wenn sie das erste Mal den Sarg eines Kameraden zu Grabe tragen. Seine Zeit war abgelaufen. Er brauchte frische Luft und Freiheit. Solange noch keine Narben, keine Schatten sichtbar waren, wollte er verschwinden. 30 Jahre alt war er und mit Ausnahme der ersten zwölf hatte er eine Uniform getragen.

Noch einmal saß er auf der Stadtmauer von Dubrovnik und blickte in die untergehende Sonne, bis nicht mehr zu erkennen war, wo die Erde endete und der Himmel begann.

Er stand vor dem Nichts. Zum zweiten Mal verließ er seine Heimat, doch die Erleichterung darüber, auf unblutige Hände blicken zu dürfen, war größer als die Trauer. Nicht mehr überall Feinde wittern, wo keine waren, nicht mehr in jeder Spalte nachsehen und ständig unter Strom stehen.

Zuerst Frieden für die Seele finden und danach eine eigene Familie gründen, das war sein Ziel.

Nun doch ein wenig wehmütig schwor er der Stadtmauer, eines Tages zurückzukehren und in den Kaffees zu warten, bis seine Frau gekocht hatte.

In der Ferne erwartete ihn eine Seelenverwandte, das wusste er. Er musste sich nur noch auf den Weg begeben und das rote Band aufwickeln, das sie verband. An einem Zeichen, auf das er nie mit dem Finger deuten könnte, würde er sie erkennen.

So war es schon immer und so wird es immer wieder sein.

Danach reiste er, wohin ihn der Weg führte, und wenn es ihm an einem Ort gefiel, blieb er für eine Weile, um sich Geld für die Weiterreise zu erarbeiten. Zwei Jahre dauerte seine Wanderschaft.

Als seine Barschaft wieder zu Ende ging, suchte er sich vorübergehend eine Arbeit in der Schweiz.

Der siebte Skarabäus

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