Читать книгу Reiterhof Dreililien Sammelband - Ursula Isbel - Страница 26
5
ОглавлениеUm ein Haar verschlief ich die Reitstunde. Es war so friedlich im Obstgarten. Ich lag in der Hängematte zwischen den Apfelbäumen, die schon grüne Früchte trugen; ein leichter Wind ging, und aus Kirstys Werkstatt kam das leise Geräusch der Töpferscheibe. Herr Alois lag unter mir im Gras, die Schnäuze auf den Vorderpfoten, und schnarchte.
Ich schlief ein und träumte, daß Jörn und Mikesch gemeinsam einen Kindergarten auf Dreililien leiteten, und daß Matty ein Kaffeekränzchen für die Mütter veranstaltete. Das fand ich so komisch, daß ich im Schlaf lachen mußte und von meinem eigenen Gekicher aufwachte.
Die Sonne stand schon hinter dem Hausdach. Der Obstgarten lag im Schatten. Da wußte ich, daß ich lange geschlafen haben mußte.
Ich kroch aus der Hängematte und ging zur Werkstatt, noch schwindlig vom Schlaf. Ein paar von Kirstys Krügen und Schüsseln standen auf Steinen und umgestülpten Kisten zwischen Gras und Blumen zum Trocknen. Der Geruch von nassem Ton hing in der Luft. Ich hörte Kirsty summen.
Durch die geöffnete Tür sah ich sie vor ihrem Arbeitstisch am Fenster stehen, in ihrer verklecksten Latzhose, ein Tuch um das goldbraune Haar gebunden. Sie hatte einen großen Henkeltopf vor sich stehen.
„Du, weißt du, wie spät es ist?“ fragte ich.
„Fünf vorbei, würde ich sagen. Hast du geschlafen?“
„Ja“, sagte ich eilig und war schon wieder aus der Tür. „Ich muß los. Um fünf hab ich Reitstunde!“
Sie rief mir etwas nach, was ich nicht verstand, doch ich nahm mir nicht die Zeit, umzukehren. Ich raste ins Haus, die Treppe hinauf und in mein Zimmer, zog Jeans an, holte dann die Reitstiefel aus Gummi unter der Hausbank hervor und kürzte zum zweitenmal an diesem Tag den Weg über die Koppeln ab.
Hazel sah mich schon von weitem. Sie kam zu mir, blies mir ins Haar, wie sie es immer machte, und wartete darauf, daß ich sie streichelte, aber ich sagte: „Jetzt nicht, mein Mädchen. Wir haben’s eilig. Komm mit in den Stall, du mußt mal wieder meine Reitversuche über dich ergehen lassen.“
Ich faßte sie an der Mähne. Willig ging sie neben mir her. Als wir das Gatter hinter uns geschlossen hatten und zur sogenannten Schwammerlwiese kamen, auf der wir für gewöhnlich die Reitstunden abhielten, stand Jörn schon am Zaun.
Matty war nicht bei ihm; dafür war Carmen da. Die beiden waren so ins Gespräch vertieft, daß sie mich und Hazel erst bemerkten, als wir vor ihnen standen.
Ich war ziemlich überrascht gewesen, als ich Carmen vor einigen Wochen kennenlernte und feststellte, daß sich hinter dem spanischen Vornamen keine rassige Schönheit verbarg, sondern ein etwas dickliches Bauernmädchen mit rotblonden Zöpfen, runden, braunen Augen und Pausbacken. Eine Schönheit war Carmen wirklich nicht, doch ich entdeckte sehr bald, daß sie andere Vorzüge hatte. Ich mochte Carmen; sie war liebenswert und feinfühlig, jemand, auf den man sich verlassen konnte. Und daß sie offenkundig bis über beide Ohren in Jörn verliebt war, verstand ich nur zu gut. Ich nahm es ihr auch nicht weiter übel. Das lag allerdings nicht daran, daß ich besonders großzügig und edel gewesen wäre. Ich wußte ganz einfach, daß Carmen für Jörn nicht mehr als ein guter Kumpel war.
„Hallo, Nell“, sagte sie und strahlte mich an. „Das klappt also mit dem Mikesch? Ich bin schon furchtbar gespannt auf ihn. Ist er wirklich so schön?“
Ich zwinkerte ihr zu. „Sehr. Aber ich glaube, er ist in Ordnung. Ab Montag kannst du ihn bewundern.“
„Wir werden uns wahrscheinlich bald vor liebeskranken Reitschülerinnen nicht mehr retten können, die bloß herkommen, um Mikesch anzuhimmeln“, sagte Jörn spöttisch. „Nell ist ja gleich vom ersten Augenblick auf ihn geflogen, und Carmen wird ihm bestimmt auch nicht lange widerstehen können!“
„Ich? Da täuschst du dich aber!“ sagte Carmen entschieden.
Ich lächelte verstohlen und sagte gar nichts. Mir war inzwischen eingefallen, daß es vielleicht gar nicht schaden konnte, Jörn in dem Glauben zu lassen, ich schwärmte für Mikesch. Er war sowieso manchmal etwas zu selbstherrlich und hielt sich vielleicht sogar für unwiderstehlich.
„Da siehst du’s!“ sagte Jörn zu Carmen. „Sie sagt nichts. Das ist so gut wie ein Eingeständnis.“
Ich kicherte und führte Hazel in den Stall, um sie zu Sätteln. Als ich nach zehn Minuten wieder auftauchte, war auch Matty da. „Versuchst du’s heute wieder mit dem kurzen Galopp?“ fragte er.
Ich hätte am liebsten den Kopf geschüttelt. Doch einmal mußte ich es ja lernen. Bis jetzt hatte es gar nicht geklappt, aber deshalb durfte ich wohl nicht gleich die Flinte ins Korn werfen. „Ja“, sagte ich zögernd. „Obwohl . . . Ich weiß nicht, ob ich das jemals schaffen werde.“
Matty sah zu, wie ich mich in den Sattel schwang. Wenigstens das ging jetzt schon mühelos. Dann sagte er zu Jörn: „Laß mich das mal versuchen. Ich bring’s ihr schon bei.“
Jörn lachte nicht besonders freundlich und zuckte mit den Schultern. „Wenn du meinst, daß du es besser kannst . . .“, erwiderte er gedehnt.
Ich sah unbehaglich von einem zum anderen. Eigentlich war es mir lieber, wenn Matty mir Unterricht gab. Nicht, weil er ein besserer Lehrer als Jörn gewesen wäre. Der Grund dafür war ganz einfach, daß ich bei ihm unverkrampfter war und nicht dauernd befürchtete, Fehler zu machen und mich zu blamieren. Bei Jörn hatte ich immer das Gefühl, etwas beweisen zu müssen – daß ich mutig war oder besonders geschickt, schnell von Begriff, eben eine begabte Reitschülerin. Dabei war ich in Wirklichkeit höchst mittelmäßig begabt. Matty durfte das wissen, Jörn aber nicht.
Jörn wandte sich ab und schlenderte davon, die Hände in den Hosentaschen. Diana folgte ihm. Carmen kauerte auf dem obersten Balken des Zaunes und sagte trocken: „Er wird’s schon verschmerzen.“
Matty sagte gar nichts. Ich drehte eine gemütliche Runde mit Hazel über die Schwammerlwiese. Dann begann ich langsam mit dem kurzen Galopp. Ich gab mir wirklich Mühe, aber es ging nicht – und das lag bestimmt nicht an Hazel.
„Ich kriege nicht das richtige Sitzgefühl“, sagte ich nach einer Weile atemlos. „Ich hopse hoch und plumpse wieder in den Sattel, und davon kriege ich Seitenstechen. Es funktioniert einfach nicht.“
„Versuch dir vorzustellen, daß du in einem Schaukelstuhl sitzt“, sagte Matty ruhig. „Du mußt deinen Körper von den Knien aufwärts völlig entspannen. Und drück nicht gegen die Steigbügel! Dabei wirst du nur stärker hochgeworfen. Du brauchst nur die Knie anzuspannen und kannst alles andere locker lassen.“
Ich versuchte es. Minutenlang hatte ich das Gefühl, wirklich fest im Sattel zu sitzen. Dann wurde ich plötzlich wieder hochgeschleudert. Es war zum Verzweifeln.
„Wieder nichts!“ sagte ich mit Grabesstimme und stöhnte.
„Ich sag dir, was passiert ist“, mischte sich Carmen ein, die mich aufmerksam beobachtet hatte. „Du hast dich so sehr entspannt, daß du wie ein Mehlsack im Sattel gesessen hast. Wenn du’s so machst, verlierst du das Gleichgewicht. Und um das Gleichgewicht wiederzugewinnen, drückst du gegen die Steigbügel. Also kam der Gegenstoß; da bist du wie ein Gummiball in die Höhe geschnellt. Versuch’s noch mal – sitz aufrecht im Sattel, aber entspann dich.“
Ich richtete mich kerzengrade auf und fühlte mich dabei wie ein Zinnsoldat. „Nein!“ rief Matty. „Nicht so, Nell. Schultern hängen lassen!“
Jetzt merkte ich es selbst. Meine Schultern waren richtig hochgezogen, so, als hätte ich vor etwas Angst. Sobald ich sie locker ließ, brauchte ich mich nicht mehr so an die Zügel zu klammern.
„Und jetzt paß dich Hazels Bewegungen an – mit den Hüften, ja, so! Es ist eine rollende Bewegung!“
Plötzlich hatte ich das Gefühl, etwas bequemer im Sattel zu sitzen. „Aber nicht vergessen, die Knie durchzudrücken“, mahnte Matty. „So, das ist gut – probier’s noch mal!“
Der Schweiß lief mir über die Stirn. Hazel, das liebe, gutmütige Tier, ließ meine ungeschickten Versuche immer wieder mit einer Engelsgeduld über sich ergehen. Ohne ein Zeichen des Unwillens setzte sie den kurzen Galopp fort, rund um die Schwammerlwiese, ein ums andere Mal; und nach einer halben Stunde merkte ich endlich, endlich, daß ich es begriffen hatte.
Von da an ging es zusehends besser. Immer öfter hatte ich das Gefühl, richtig im Sattel zu sitzen und mit Hazels Bewegungen mitzugehen.
„Gut“, sagte Matty schließlich zufrieden. „Das reicht für heute. Ihr seid beide ganz verschwitzt. Wir satteln Hazel jetzt ab und reiben sie trocken. Dann bringen wir sie in den Schatten. Hat Jörn dir für heute eine Reitstunde versprochen, Carmen?“
Ich schwang mich aus dem Sattel, lobte Hazel ausgiebig und führte sie durch die Gatteröffnung. Dabei hörte ich, wie Carmen sagte: „Nein, heute nicht. Ich wollte euch eigentlich im Stall helfen. Wir sind für diese Woche mit der Heuarbeit fertig, da hab ich ein bißchen Zeit.“
Ich fand es nett von ihr, daß sie in ihrer knappen Freizeit bereit war, auch noch auf Dreililien zu arbeiten.
„Prima“, sagte Matty erfreut. „Wenn wir zu fünft sind, schaffen wir’s schneller und können hinterher noch zum Baden an den Weiher reiten.“
Ich fuhr mir mit dem Handrücken über die Stirn. „Baden!“ wiederholte ich verzückt und schlug nach einer blutrünstigen Bremse. „Das ist wirklich ein göttlicher Einfall!“
Einer jedoch schien die Idee nicht göttlich zu finden, und das war Jörn. Er half zwar bei der Stallarbeit, sagte dann aber kurz, er käme nicht mit zum Baden, weil er etwas anderes vorhätte.
Vielleicht war er noch sauer wegen der Reitstunde, wer weiß. Vielleicht wollte er aber auch einfach einmal seine eigenen Wege gehen. Man kannte sich da bei Jörn nie so genau aus. Als Matty, Carmen und ich mit den Pferden aus dem Hof ritten, sahen wir ihn mit dem roten VW-Käfer hinter der Wegkreuzung verschwinden.
Die Enttäuschung war Carmen deutlich anzusehen. Sie konnte sich nicht so leicht verstellen. Ich versuchte mir einzureden, daß es mir nichts ausmachte, wenn Jörn einmal nicht dabei war. Doch als ich ehrlich darüber nachdachte, mußte ich mir eingestehen, daß es nicht stimmte. Der Weiher am Waldrand wirkte so verwunschen wie immer, Matty spielte auf seiner Mundharmonika, Hazel watete prustend wie ein Walroß im seichten Wasser und brachte uns zum Lachen, die Lerchen kreisten singend über den Wiesen, das Heu duftete betäubend, und das Moorwasser war kühl und erfrischend nach diesem heißen Sommertag. Und doch fehlte mir etwas. Ich vermißte Jörn.