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Niemand begegnete mir, als ich das Haus verließ und zum Stall ging. Hazel stand einsam in ihrer Box.

Ich ging zu ihr und umarmte sie. Sie legte die Nase auf meine Schulter und blies mir ins Haar.

Lange standen wir so. Dann sagte ich leise: „Alles wird wieder gut, mein Mädchen. Du brauchst keine Angst zu haben. Wenn die Entzündung verheilt ist, kommst du wieder zu den anderen Pferden auf die Weide. Du brauchst dich nicht mit den Reitschülern herumzuplagen. Jetzt gehörst du mir. Ich werde dafür sorgen, daß es dir gutgeht. Nichts kann dir passieren. Keiner wird dir etwas tun. Jetzt wird alles wieder gut.“

Mit gespitzten Ohren hörte sie mir zu. Sicher verstand sie mich nicht; zumindest wußte sie nicht, was meine Worte bedeuteten. Doch vielleicht beruhigte sie der Klang meiner Stimme, mein Tonfall. Oder sie spürte ganz einfach, wie glücklich und erleichtert ich war. Tiere wissen so etwas, da bin ich ganz sicher.

Ich drückte mein Gesicht an ihre weichen Nüstern und schloß die Augen. Ich hatte etwas getan, was mich große Überwindung kostete, und es hatte sich gelohnt.

Noch während ich da stand, hörte ich Hufgetrappel und Stimmen vom Innenhof her. Die erste Reitstunde war vorüber.

Rasch richtete ich mich auf. Im Augenblick hatte ich überhaupt keine Lust, fremden Menschen zu begegnen und mich neugierigen Blicken auszusetzen. Ich ging in die Sattelkammer und setzte mich auf die Bank zwischen die Pferdedecken.

Die Stalltür wurde geöffnet. Eine Stute wieherte schrill. Ich hörte Jörn sagen: „Vorsicht hinter Julka! Abstand halten!“

Dann erklang Frau Mayreders besorgte Stimme: „Die armen Kinder sind so erschöpft. Sie werden sie doch jetzt nicht auch noch absatteln lassen?“

„Keine Sorge“, sagte Mikesch. „Abgesattelt wird heute nicht mehr, das besorgen wir schon selbst. Wir bringen die Pferde nur in ihre Boxen, Für heute war’s genug, würde ich sagen.“

Die Zwillinge protestierten. Eine Boxtür knarrte, und die Stimmen gingen im Hufgeklapper, im Stampfen und Schnauben der Pferde unter.

Nach einiger Zeit wurde es wieder still im Stall. Die Tür schloß sich. Dann entfernten sich die Stimmen.

Plötzlich erschien Jörn auf der Türschwelle zur Sattelkammer. Er musterte mich und sagte: „Hier sitzt du also. Warum bist du so plötzlich verschwunden? Hast du’s nicht mehr ausgehalten?“

Ich schüttelte stumm den Kopf. „Was ist los?“ fragte er. „Hast du geweint?“

„Nein“, sagte ich. „Mir ist bloß etwas ins Auge geflogen.“

Er lächelte. Dann setzte er sich neben mich, schob sein Stirnband zurecht und sagte: „Hör auf zu lügen. Mir kannst du nichts vormachen. Seit wann bist du so verschlossen?“

„Verschlossen?“ wiederholte ich und musterte ihn anklagend. „Das mußt ausgerechnet du sagen! Seit einer Woche läufst du herum wie ein einsamer Wolf, sagst nicht, was dir nicht paßt, machst ein Gesicht, als hätten wir dir wer weiß was getan . . . Ich dachte, wir wären Freunde.“

„Natürlich sind wir das.“ Unsere Blicke begegneten sich. „Wenn ich nicht sage, was mit mir los ist, dann ist das nicht gegen dich gerichtet. Ich hab’s mir eben nur angewöhnt, vieles für mich zu behalten, weißt du. Bei meinen Eltern hab ich gelernt, daß es sinnlos ist, sich gegen gewisse Dinge aufzulehnen oder Verständnis bei ihnen zu suchen. Deshalb mußte ich alles mit mir selbst abmachen. Und jetzt kann ich mich oft gar nicht mehr anders verhalten, selbst wenn ich möchte. Es ist, als wäre alles in mir wie zugeschnürt.“

„Aber du hattest doch Matty! Warum hast du nicht mit ihm geredet, wenn sonst keiner da war?“

Er erwiderte: „Zwischen Matty und mir war’s nicht immer so wie jetzt. Wir haben früher nicht viel miteinander anfangen können. Das war wohl wegen des Altersunterschieds so.“

Ich nickte. Wir schwiegen einige Zeit und lauschten auf die Motorengeräusche, die sich langsam über die Auffahrt entfernten.

„Sie sind weg“, sagte ich dann. „Es ist gut gelaufen, nicht? Aber . . . weißt du, es tut mir richtig weh, wenn du mich wie eine Fremde behandelst, so, als könntest du mir nicht vertrauen. Wenn’s wegen Hazel war, hätte es uns beiden gutgetan, miteinander zu reden.“

„Sicher“, erwiderte Jörn. „Das ist mir schon klar, Nell. Aber es war auch wegen der Reitschule. Ich hatte wohl Angst vor all dem Neuen. Plötzlich war ich nicht mehr sicher, ob wir es schaffen können. Die viele Arbeit, die Verantwortung, dazu noch die Schule – ich dachte, es wächst mir alles über den Kopf. Ich muß mich doch jetzt vor dem Abitur richtig hineinknien, sonst geht alles in die Binsen. Es ist so wichtig für mich, daß ich bald mit meiner Ausbildung fertig bin, daß ich selbständig werde. Und das mit Hazel . . . das ist auch für dich schlimm, ich hätte daran denken müssen.“

„Es war schlimm“, verbesserte ich. „Aber jetzt ist alles in Ordnung. Ich habe mit deinem Vater gesprochen.“

Er starrte mich ungläubig an. „Du hast mit meinem Vater gesprochen? Soll das ein Witz sein? Vater würde sich nie beeinflussen lassen, schon gar nicht . . .“ Er stockte.

Ich mußte lachen. „Schon gar nicht von mir, meinst du. Nein, das sicher nicht. Aber trotzdem kann man mit ihm reden. Man darf ihm nur nicht mit Gefühlen kommen.“

„Du hast’s erfaßt“, sagte Jörn.

„Jedenfalls, ich hab Hazel gekauft.“

Seine Miene war so verdutzt, daß ich wieder lachen mußte. Ich wurde plötzlich richtig übermütig. „Ja“, wiederholte ich voller Stolz. „Ich hab sie gekauft. Ich zahle deinem Vater dreihundert Mark für sie. Das ist wohl die Summe, die er von der Abdeckerei bekommen würde.“

„Dann wollte er sie also wirklich dorthin bringen lassen? Ich hab’s befürchtet. Aber wieso . . .“

Wieder unterbrach ich ihn. „Das hab ich auch. Und deshalb bin ich zu ihm gegangen. Ich habe Geld gespart, weißt du. Für . . . na ja, das ist jetzt nicht wichtig. Jedenfalls habe ich das Geld, und heute abend bringe ich es ihm. Damit ist das Geschäft abgeschlossen.“

Jörn sagte: „Herrgott! Ich werd verrückt, Nell! – Aber die Kosten für das Futter, die Hufpflege, den Tierarzt – das ergibt monatlich eine ganz schöne Summe. Hast du dir das überlegt?“

„Eigentlich nicht“, gab ich zu. „Weißt du, ich hab gar nicht viel nachgedacht. Ich wollte nur einfach, daß Hazel nicht . . . daß sie hierbleiben kann. Das mit den laufenden Unkosten wird schon irgendwie gehen. Ich bekomme ja Taschengeld, und mein Vater läßt mich bestimmt nicht hängen, wenn’s Schwierigkeiten gibt.“

Jörn nickte langsam. „Und wie steht’s mit dem Stallplatz?“ fragte er. „Was hat mein Vater dazu gesagt?“

„Er hat gesagt, daß Hazel bei euch im Stall bleiben kann, wenn ich weiter wie bisher bei der Arbeit helfe“, erwiderte ich triumphierend.

„Ich will verdammt sein! Das hat er gesagt? Mir scheint, du hast bei meinem Vater einen Stein im Brett, Nell.“

„Ich?“ Jetzt starrte ich ihn an. „Blödsinn! Er kann mich nicht leiden.“

„Wenn er dich nicht leiden könnte, hätte er sich ganz anders verhalten, das kannst du mir glauben.“ Jörn sah mich unverwandt an. „Das ist schön, daß du das für Hazel getan hast“, sagte er dann. „Ich find’s gut, daß du etwas unternommen hast, ganz auf eigene Faust. Sie hat es wirklich verdient.“

Ich nickte nur. Es tat gut, seinen Blick zu spüren, der so voller Achtung und Freundschaft war. Sanft fügte er hinzu: „Aber es ist dir doch klar, daß Hazel nie wieder ein vollwertiges Reitpferd sein wird? Daß du nur Unter bestimmten Bedingungen mit ihr reiten kannst? Ein Pferd mit Hufrehe braucht einen Spezialbeschlag und darf nur vorsichtig und auf weichem Untergrund geritten werden.“

„Das weiß ich alles. Es ist aber nicht wichtig. Ich habe sie ja nicht gekauft, um ein eigenes Pferd zu haben. Wenn ich reiten möchte, kann ich das doch sicher auch mit einem von euren Pferden. Ich habe Hazel gekauft, damit sie weiterleben kann und es gut hat. Sie gehört für mich zu Dreililien, verstehst du?“

„Ich verstehe“, sagte Jörn. „Natürlich. Das war eine dumme Frage.“

Wir lächelten uns an. Plötzlich war wieder alles, wie es sein sollte – so, als hätte es die letzte Woche nie gegeben. Aber nein, es gab diese letzte Woche mit all ihren Schwierigkeiten; und vielleicht hatte sie uns einander sogar ein Stück nähergebracht.

Auf dem Hof erhob sich plötzlich lautes Gekläff, Dann wurde die Hintertür aufgerissen. Diana kam hereingestürmt. Sie sprang an Jörn hoch, als hätte sie ihn mindestens ein Jahr lang nicht mehr gesehen. In der Türöffnung stand Matty. Hinter ihm tauchte Carmen auf.

Matty sagte: „Hier seid ihr! Habt ihr Geheimnisse?“ Es klang vorwurfsvoll.

Carmens Blick ging zwischen mir und Jörn hin und her. Rasch erwiderte ich: „Geheimnisse? Blödsinn. Jörn kam nur gerade zufällig herein, als ich allein hier saß. Und da hab ich ihm erzählt, daß ich Hazel gekauft habe.“

„Du hast Hazel gekauft?“ fragten Matty und Carmen im Chor.

Da mußte ich die ganze Geschichte noch einmal erzählen, und später, als wir die Pferde zusammen mit Mikesch absattelten, auch noch ein drittes Mal. Die Reitschule rückte angesichts der „Rettungsaktion Hazel“ in den Hintergrund.

Am Nachmittag ritten wir dann gemeinsam ins Dorf, setzten uns in den schattigen Wirtsgarten und unterhielten uns bei Bier und Schweinswürstchen mit Sauerkraut über die ersten Erfahrungen mit den Reitschülern.

Mikesch meinte, es hätte überraschend gut geklappt. „Wenn nur die Eltern in Zukunft wegblciben würden“, sagte er. „Die können einem wirklich auf die Nerven gehen.“

„Besonders Frau Mayreder“, warf Carmen ein.

„Sabine tut mir leid“, äußerte Matty. „Kein Wunder, daß sie so verschüchtert und mausgrau ist. Ihre Mutter sitzt bestimmt wie eine Glucke auf ihr drauf und nimmt ihr die Luft weg.“

Mikesch lachte, wurde aber gleich wieder ernst. „Mancher hat’s eben besonders schwer, sich freizuschaufeln. Ich kenne Leute, die eine ganze Menge Kraft gebraucht haben, um auf die eigenen Beine zu kommen; leider schafft’s nicht jeder. Es gibt Eltern, die bringen es fertig, einen so zu behindern, daß man sich kaum noch aufrappeln kann.“

Das klang bitter. Ich hatte das Gefühl, daß Mikesch nicht nur von Sabine Mayreder sprach. Als ich ihn ansah, bemerkte ich einen Zug um seinen Mund, der mir bisher nie aufgefallen war. Und ich dachte, wie wenig wir doch eigentlich bisher von ihm wußten.

An diesem Abend ging ich während der Stallarbeit noch häufiger als sonst zu Hazel. Als die Pferde getränkt und gefüttert waren, lief ich nach Hause, um das Geld aus der Kommode zu holen. Auch einen Eimer voll Fallobst nahm ich für Hazel mit. Ich dachte, sie würde vielleicht rascher gesund werden, wenn sie von jetzt an möglichst viele Vitamine bekam.

Dann brachte ich Herrn Moberg das Geld und bekam von ihm Hazels Papiere ausgehändigt. Damit war der Kauf besiegelt. Hazel gehörte mir.

Vater und Kirsty waren schon mittags nach München gefahren, weil ein Bekannter von Kirsty, der ebenfalls Töpfer war, eine Ausstellung am Englischen Garten eröffnete. Sie waren noch nicht nach Hause gekommen, als ich um halb zehn Uhr schmutzig und erschöpft über die Schwelle stolperte.

Ich aß noch etwas, duschte zum zweitenmal an diesem Tag und ging ins Bett. Seltsamerweise konnte ich trotz meiner Müdigkeit nicht einschlaferi. Von der Säuberungsaktion „In den Kartoffeln“ taten mir alle Glieder weh, und ich war voller Unruhe. Zu vieles war an diesem Samstag geschehen. Unversehens hatte ich ein eigenes Pferd, obwohl ich an diese Möglichkeit bisher nie gedacht hatte. jetzt, von einem Tag auf den anderen, gehörte mir Hazel – das beste, liebste Pferd, das man sich vorstellen kann. Daß sie nicht gesund und leistungsfähig war wie andere Pferde, daß sie praktisch keinen Marktwert mehr hatte, zählte für mich nicht.

Ich mußte an eine Bemerkung denken, die Kirsty vor kurzem gemacht hatte: „Es gibt Zeiten im Leben, da geschieht gar nichts, und dann wieder Wochen und Monate, in denen passiert praktisch alles auf einmal.“

Sie hatte dabei wohl vor allem an sich selbst gedacht, an ihre Verbindung mit meinem Vater, an den Umzug, das Baby. Doch was sie gesagt hatte, traf auch auf mich zu. Nach dem Tod meiner Mutter war mein Leben lange Zeit in geregelten Bahnen verlaufen, und nichts hatte sich ereignet. Dann aber war Kirsty gekommen und hatte eine große Veränderung hervorgerufen.

Ich hörte den Kies knirschen, als Vater und Kirsty mit dem Auto zurückkehrten. Herr Alois raschelte im Laub des Gartens. Im Mondlicht flatterte ein Nachtfalter gegen mein Fenster.

Dann wurde es wieder still ums Haus. Ich hätte einschlafen können, aber jetzt plagte mich eine Mücke, die hartnäckig um mein Gesicht summte.

Ich raffte mich auf, schloß das Fenster und machte Licht. Dann ging ich auf Mückenjagd, aber das Biest hatte sich verkrochen. Es kam erst wieder zum Vorschein, als ich die Suche aufgegeben hatte und ins Bett zurückgekehrt war. Da ließ ich Mücke Mücke sein, zog mir das Bettuch über den Kopf und dachte an Jörn.

Reiterhof Dreililien Sammelband

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