Читать книгу Reiterhof Dreililien Sammelband - Ursula Isbel - Страница 34
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ОглавлениеEs folgte eine Woche mit Regen und Wind, Vorboten des herannahenden Herbstes. Wir kamen aus den Gummistiefeln und den Regenumhängen kaum noch heraus. Die Pferde standen trübselig auf den Koppeln und mußten jeden Abend trockengerieben werden. Im Obstgarten fielen Äpfel und Birnen in erschreckenden Massen von den triefenden, schwer herabhängenden Ästen.
Ich half Kirsty, Apfelgelee und Birnenkompott einzumachen. Da ich merkte, daß ihr das Bücken schon schwerfiel, sammelte ich allein das Obst ein. Wir schälten pfundweise Äpfel und hängten die Scheiben an Schnüren zum Trocknen aus. Das ganze Haus duftete wie ein Obstgarten.
Die Sonnenblumen im Vorgarten ließen die Köpfe hängen. Ich ging mit Matty und Carmen in den Wald zum Pilzesuchen. Wir kamen tropfnaß, aber mit Körben voller Steinpilze und Braunkappen zurück. Es waren so viele Pilze, daß wir sie gar nicht alle essen konnten. Der Rest wurde aufgeschnitten und getrocknet.
Nell war jetzt schon mit den anderen Fohlen zusammen auf der Weide und tollte herum. Den Fohlen schien das schlechte Wetter nichts auszumachen. Ab und zu drehten sie richtig durch – sie rasten plötzlich wie auf ein geheimes Zeichen alle mit hoch erhobenen Schweifen quer über die Koppel, wie Kinder, die einen Wettlauf machen, oder sie gingen aufeinander los, pufften sich gegenseitig mit den Köpfen, schlugen mit den Hinterbeinen aus und spielten „Fangermandl“, wie Carmen das nannte.
Ich machte trotz des Regens oft am Gatter halt und sah ihnen zu, wenn ich vorüber kam. Dabei ging es mir hauptsächlich darum, festzustellen, was Nell machte. Einmal kam Matty auf Pilar angeritten, schwang sich aus dem Sattel und stellte sich neben mich.
„Hast du Angst, daß Nell sich nicht gegen die anderen behaupten kann?“ fragte er.
Ich sagte: „Ein bißchen schon. Sie ist doch das jüngste Fohlen und noch nicht so besonders stark.“
„Paß bloß auf, daß du nicht wie Frau Mayreder wirst“, erwiderte Matty lachend. „Nell setzt sich schon durch. Und es gibt auch eine Art Rangordnung unter den Pferden, weißt du. Die älteren tun den jüngeren nichts, wenn die ihre Vorrangstellung achten. Das, was manchmal so wild und gefährlich aussieht, ist in Wirklichkeit nur harmloses Spiel und eine Art natürliches Training. Ein Fohlen muß seine Kräfte mit anderen messen können, um stark und ausdauernd zu werden.“
„Ich verstehe“, sagte ich. Aber ich konnte trotzdem nicht verhindern, daß ich jedesmal wieder ängstlich nach Nell Ausschau hielt, die da unter all den ungebärdigen Füllen herumhüpfte wie ein kleiner, argloser Kobold.
Ausgerechnet am Samstag vor dem dritten Anfängerunterricht brütete Mikesch eine handfeste Grippe aus. Er hatte am Tag vorher bei strömendem Regen stundenlang Zäune ausgebessert und hinterher noch im Stall geholfen, obwohl er ganz durchnäßt gewesen war.
Als ich am Samstag morgen nach Dreililien kam, war Mikesch nirgends zu sehen. Matty und Jörn standen „In den Kartoffeln“ und sahen nicht besonders glücklich aus.
„Jörn muß heute den Unterricht übernehmen“, sagte Matty. „Mikesch hat Kopfschmerzen und Fieber und eine Halsentzündung dazu.“
„Habt ihr den Arzt angerufen?“ fragte ich.
„Das wollte er nicht“, erklärte Jörn. „Er sagt, er kommt schon von allein wieder in Ordnung und hat keine Lust, sich mit Tabletten vollstopfen zu lassen.“
Ich fragte: „Habt ihr ihm Frühstück gebracht?“
Matty schüttelte den Kopf. „Er wollte nichts essen.“ „Und jetzt liegt er einfach so in seinem Zimmer, und keiner kümmert sich um ihn“, sagte ich. „Das geht doch nicht. Ich sehe mal nach ihm. Aber vorher laufe ich schnell ins Kavaliershäusl und rede mit Kirsty. Sie hat für jede Krankheit irgendein Hausmittel.“
„Gut, mach das“, erwiderte Jörn erleichtert. „Wir versuchen, mit dem Reitunterricht allein über die Runden zu kommen.“
Natürlich wüßte Kirsty Rat. „Wenn Mikesch Fieber hat, darf man ihn nicht einfach sich selbst überlassen“, sagte sie und mischte mir eine Tüte voll Lindenblütenund Holundertee. „Hier, das ist gut gegen das Fieber. Sieh zu, daß er während des Tages mehrere Tassen davon trinkt. Wenn’s trotzdem nicht besser wird, mußt du ihm Wadenwickel machen. Aber vorerst versuchst du es mal mit dem Tee.“
Dann gab sie mir noch ein Glas Honig, eine Flasche Obstessig und Salbeitee. „Und das ist gegen die Halsschmerzen“, erklärte sie. „Es wirkt auch vorbeugend gegen Husten und Schnupfen. Am besten, du kochst ihm ungefähr jede Stunde eine Tasse Salbeitee, gibst einen Eßlöffel voll Obstessig dazu und süßt den Tee mit Honig.“
Ich packte alles in einen Korb und stapfte wie ein Kräuterweib durch den Regen nach Dreililien zurück. Roddy stand schon unter dem Torbogen, obwohl bis zum Reitunterricht noch fast zwei Stunden Zeit waren. Er hatte Handwerkszeug mitgebracht und sagte, er sei eigens früher gekommen, um Julkas Boxtür auszubessern.
„Ich repariere gern Sachen“, erklärte er mir. „Am liebsten würde ich eine Schreinerlehre machen, aber mein Vater will unbedingt, daß ich weiter auf die Handelsschule gehe und später mal sein Textilgeschäft übernehme.“ Er seufzte.
Ich ging über die steile alte Holztreppe zur Fuhrknechtskammer und klopfte an die Tür. Eine Weile erfolgte gar nichts. Erst als ich noch einmal lauter klopfte, gab Mikesch Antwort.
Er lag auf einer großen Matratze auf dem Boden und hatte die Decke bis zur Nasenspitze hochgezogen. Ich merkte, daß er fror. Wie er da lag, sah er sehr jung und irgendwie verletzlich aus.
Ich sagte: „Kirsty hat mir Kräutertee für dich mitgegeben – gegen das Fieber und die Hlalsschmerzen. Hast du Schüttelfrost?“
„Gewissermaßen“, gab er zu, grinste kläglich und klapperte mit den Zähnen. „Das ist wirklich nett von dir und Kirsty, aber ihr braucht euch nicht um mich zu kümmern. Ich komme schon von selbst wieder auf die Beine.“
„Blödsinn“, erwiderte ich kurz. „Du würdest uns umgekehrt auch nicht allein liegen lassen, wenn wir krank wären, oder? Kalt ist es hier!“
Ich sah mich um. Wie sehr hatte sich hier alles verändert! Ich kannte die Fuhrknechtskammer nur flüchtig aus der Zeit, ehe Mikesch nach Dreililien gekommen war. Damals wurden dort Futtersäcke gelagert. Inzwischen hatte Mikesch das Dachinnere mit Holz verkleidet und die alten Tragebalken so mit Brettern verbunden, daß er sie als Regale benutzen konnte. Bücher, ein paar Fotos und Geschirr standen darauf. An Stelle eines Tisches gab es einen dicken, durchgesägten Baumstamm, und ein paar große Kissen dienten als Sitzgelegenheit. Von der Decke baumelten getrocknete Blumensträuße und Zwiebelzöpfe. An der Wand hing ein Plakat mit einer Friedenstaube.
Mitten im Raum stand ein alter, eiserner Ofen, der aus dem Speicher von Dreililien stammte. Davor lag Feuerholz in einer Kiste. Ich stellte meinen Korb auf den Boden, hängte meinen Regenumhang an einen Haken und ging zum Ofen, um Feuer zu machen.
„Was tust du da?“ fragte Mikesch heiser und folgte mir über die Bettdecke hinweg mit den Blicken.
„Einheizen natürlich“, sagte ich. „Wo ist Zeitungspapier?“
„Dort in der Ecke liegt ein Stapel alter Zeitungen.“ Er begann wieder mit den Zähnen zu klappern.
Noch vor einem halben Jahr hätte ich bestimmt kein Feuer zustande gebracht. Da wir aber im Kavaliershäusl selbst Ofenheizung hatten, kannte ich mich inzwischen aus. Ich spaltete Holz mit dem Beil, steckte zusammengeknülltes Papier in den Ofen und schichtete die Späne kreuz und quer darüber. Dann legte ich ein paar dickere Holzscheite darauf, öffnete die Luftklappe und zündete das Papier an.
Fünf Minuten später knisterte und knackte es gemütlich, Mikeschs Stimme kam halb erstickt unter der Decke hervor. „Wenn die Leute sich bloß um ihren eigenen Kram kümmern würden!“ brummte er.
Das sollte abweisend klingen, doch er konnte mich nicht täuschen. „Schon recht“, sagte ich friedlich. „Wo kann man hier Wasser kochen?“
„Hinter dem Vorhang.“
Erst jetzt bemerkte ich, daß eine Ecke des Raumes durch einen alten Samtvorhang abgeteilt war. Dahinter stand ein Hocker und darauf ein Elektrokoeher mit nur einer Platte.
Ich schaltete sie ein und setzte Wasser im Pfeifkessel auf. Dann holte ich eine Teekanne und zwei Tassen vom Regal, fand daneben auch Löffel und ein geflochtenes Teesieb, legte Holz nach und begann Tee zu kochen.
Mikesch sagte gar nichts mehr. Er hatte die Augen geschlossen und fror so, daß die Bettdecke zitterte. Nach einer Weile dachte ich, er wäre eingeschlafen. Der Teekessel begann zu pfeifen, und ich goß die Kräuter auf.
Als ich die Tassen ans Bett brachte, lag Mikesch mit offenen Augen da und sah mich an. An seinem Blick merkte ich, daß er durchaus nicht so böse über meine Anwesenheit war, wie er tat.
Er trank sowohl den Holundertee als auch Kirstys Spezialmischung gegen das Fieber ohne Widerspruch. Im Zimmer wurde es langsam warm, doch Mikesch schien noch immer zu frieren, denn er sagte: „Nell, auf der Kiste dort liegt mein Schaffellmantel. Würdest du den noch übers Bett breiten?“
Ich holte den alten, schweren Mantel, den er vermutlich auf irgendeinem Flohmarkt gekauft hatte, und legte ihn zusätzlich über die Bettdecke. Mikesch seufzte, sagte „danke“ und schloß wieder die Augen.
Ich legte mehr Feuerholz nach. Aus dem Hof kam Motorenlärm und das Geräusch von Stimmen. Die Pferde wieherten im Stall. Als ich ans Fenster trat, versammelten sich die Reitschüler gerade um Jörn. Zu seinem Glück war Frau Mayreder diesmal nicht mitgekommen.
Nun war Mikesch wirklich eingeschlafen. Er zitterte noch immer, doch nicht mehr so stark wie vorher. Ich kauerte mich eine Weile auf eines der Sitzkissen und wartete, ob Mikesch wieder aufwachen und etwas brauchen würde. Doch er schlief sehr fest. Bald schien er nicht mehr zu frieren; im Gegenteil, er wurde ziemlich rot im Gesicht.
Ich schob ein Brikett in den Ofen, schlich zur Tür und schlüpfte in meinen Regenumhang. Als ich auf den Hof kam, wären Jörn und die Reitschüler verschwunden. Auch von Matty war nichts zu sehen. Es hatte zu regnen aufgehört, doch im Westen türmte sich schon wieder eine blauschwarze Wolkenwand auf.
Kirsty hatte Hühnersuppe gekocht. „Davon kannst du Mikesch nach dem Essen etwas mitnehmen“, sagte sie. „Vielleicht bekommt er nachmittags Hunger. Jedenfalls wird’s ihm guttun, etwas in den Magen zu bekommen, was leicht und doch kräftig ist.“
Ich nickte dankbar. Wieder einmal dachte ich, wie gut es doch war, daß man sich auf Kirsty verlassen konnte, daß sie solche Dinge unaufgefordert und ganz selbstverständlich tat, ohne große Worte zu machen.
„Prima“, sagte ich. „Er hat furchtbar gefroren, als ich kam, aber ich hab eingeheizt und ihm Tee gemacht. Jetzt ist er feuerrot im Gesicht.“
„Er wird wohl ziemlich hohes Fieber haben. Gib ihm nur jede Stunde seinen Tee; und abends machst du ihm am besten noch einen Wadenwickel. Ich erkläre dir dann, wie das geht. Wenn er ordentlich schwitzt, hat er die Grippe in ein paar Tagen überstanden.“
Nach dem Essen nahm ich eine Thermosflasche voll Hühnerbrühe mit nach Dreililien. Die Reitschüler waren inzwischen wieder nach Hause gefahren. Nur Roddy war noch geblieben, um weiter an Julkas Box zu arbeiten.
Jörn wirkte richtig geschafft. Er sah verschwitzt aus und erklärte, eine Reitstunde mit Anfängern abzuhalten wäre schlimmer, als einen Sack Flöhe zu hüten.
„Bei Mikesch sieht das immer wie ein Kinderspiel aus“, sagte er. „Wie geht’s ihm übrigens?“
„Kirsty meint, daß er hohes Fieber hat. Aber ich glaube, er wird nicht wollen, daß ich seine Temperatur messe. Ich bleibe nachmittags noch bei ihm und flöße ihm Tee ein. Außerdem hab ich Hühnerbrühe für ihn mitgebracht.“ Und ich hob die Thermosflasche.
„Wir kommen später auch mal und schauen nach ihm“, sagte Matty. „Oder meinst du, daß ihm das nicht recht ist?“
Ich erwiderte zweifelnd: „Ich weiß nicht. Ich glaube, er kann’s nicht leiden, wenn man viel Wirbel um ihn macht. Aber probieren könnt ihr’s ja mal.“
Unvermittelt begann es wieder zu regnen. „Wenn das so weitergeht, gibt’s eine Überschwemmung“, sagte Matty. „Die Pferde werden bald Schwimmhäute kriegen.“
Ich lachte und fragte: „Kümmert ihr euch heute um Hazel? Ich weiß nicht, wie lange das mit Mikesch dauert. Kirsty meint, ich soll ihm abends noch Wadenwickel gegen das Fieber machen.“
„Nell als Krankenschwester!“ murmelte Jörn.
Das klang spöttisch. Ich sah ihn von der Seite an. Er bemerkte meinen Blick, lachte leicht und fügte wie beiläufig hinzu: „Was meinst du, ob sie sich auch um uns so kümmern würde, Matty?“
Das hätte er nicht sagen sollen. Ich merkte, wie es in mir zu brodeln begann, holte tief Luft und sagte: „Von allen niederträchtigen, gemeinen Bemerkungen . . .“
Da fiel Matty mir ins Wort. „So ein dummes Geschwätz!“ sagte er ruhig. „Du weißt ganz genau, daß Nell sich um uns ebenso kümmern würde wie um Mikesch. Bloß ist Mikesch eben allein und hat keinen Menschen, und wir haben unsere Mutter. Das ist der Unterschied.“
Ich warf ihm einen dankbaren Blick zu. Jörn zuckte mit den Schultern, murmelte etwas Unverständliches, versenkte die Hände in den Hosentaschen und verschwand im Stall.
Wir sahen ihm nach. Ich umklammerte die Thermosflasche mit der Hühnerbrühe. Gekränkt sagte ich: „Was zum Teufel hat er denn plötzlich?“
„Ach, er ist eifersüchtig, sonst gar nichts“, erwiderte Matty gelassen. „Wenn einer so aussieht wie Mikesch, meinen fast alle, jede Frau würde auf ihn fliegen. Obwohl Jörn natürlich im Grund genau weiß, daß das zwischen dir und Mikesch etwas ganz anderes ist.“
Ich sagte gar nichts mehr. Stumm ging ich durch den Regen zum Stallgebäude und die Treppe zur Fuhrknechtskammer hinauf. Mein Ärger war verflogen. Statt dessen war ich verwirrt. Was hatte Matty da behauptet? Daß Jörn eifersüchtig sei . . .
Das war doch Unsinn, oder etwa nicht? Wenn es stimmte – war Jörn dann eifersüchtig auf Mikesch, weil er glaubte, ich wäre in ihn verliebt? Oder ärgerte er sich ganz einfach nur allgemein, weil Mikesch wegen seines Aussehens so gut bei den Mädchen ankam?
Mir war plötzlich ganz warm trotz des kalten Wetters. Leise öffnete ich die Tür zu Mikeschs Zimmer, stellte vorsichtig meine Sachen ab, schlüpfte aus dem Unhang und den Gummistiefeln und ging auf Zehenspitzen ans Bett.
Mikesch schlief noch immer. Sein Gesicht glühte förmlich, doch es war wohl gut, wenn er die Krankheit richtig herausschwitzte. Allerdings war es jetzt fast etwas zu warm im Zimmer. Ich schlich ans Fenster und öffnete es einen Spalt.
Gerade ging Jörn mit Diana über den Hofplatz. Er pfiff leise vor sich hin, als wäre überhaupt nichts vorgefallen.
Hinter mir hörte ich das Bettzeug rascheln. Mikesch war aufgewacht. Er sagte mit belegter Stimme: „Nell, ich hab solchen Durst!“
Ich wandte mich um. „Du bekommst gleich einen Teller Hühnerbrühe. Die hat mir Kirsty für dich mitgegeben. Und dann mach ich dir wieder frischen Tee.“
„Verdammt heiß ist’s hier drinnen“, sagte er matt. „Das macht nichts. Du mußt schwitzen. Ich hab das Fenster sowieso gerade ein bißchen aufgemacht.“
Er löffelte nur die Hälfte der Brühe, trank etwas Tee und schlief dann wieder ein. Ich blieb neben seinem Bett sitzen. Gegen vier Uhr wurde leise an die Tür geklopft. Matty und Jörn streckten die Köpfe ins Zimmer.
Ich legte den Zeigefinger an die Lippen und deutete aufs Bett. Da nickten sie, zogen sich wieder zurück und schlossen lautlos die Tür.
Schon früh brach die Abenddämmerung herein. Es war, als hätten die Regentage den Herbst besonders rasch herbeigeholt. Plötzlich waren die Tage kürzer geworden, und das graue Licht des Nachmittags verdichtete sich überraschend schnell zur Dämmerung.
Mikesch bewegte sich unruhig im Bett. Er stöhnte, murmelte etwas vor sich hin, drehte den Kopf auf den Kissen. Die schwarzen Locken klebten an seiner Stirn. Sein Mund war leicht geöffnet. Er erinnerte mich plötzlich an die Marmorbüste eines griechischen Jünglings, die ich einmal im Museum gesehen hatte.
Ich beugte mich über ihn. Da schlug er die Augen auf und sah mich an. Einen Moment lang schien er mich nicht zu erkennen. Offenbar hatte er geträumt und fand sich nur langsam wieder in der Wirklichkeit zurecht.
Ich sagte: „Warte, ich schüttle deine Kopfkissen auf. Und dann bringe ich dir wieder Tee. Hast du schlecht geträumt?“
„Ja. Dauernd verfolgen mich diese ekelhaften Fieberphantasien. Hab ich im Schlaf geredet?“
„Nein“, erwiderte ich. „Du hast zwar mal etwas gemurmelt, aber ich hab’s nicht verstanden.“
Er nickte und schien erleichtert zu sein. „Du, Nell, ich muß mal – die viele Flüssigkeit, weißt du“, sagte er dann ohne Verlegenheit. „Aber es ist wohl besser, ich gehe mit diesem Fieber nicht über den Hof zur Toilette. Wenn du kurz mal verschwindest, benutze ich den Plastikeimer.“
„In Ordnung. Wo ist er?“ fragte ich. „Ich bringe ihn dir ans Bett, du bist sicher wacklig auf den Beinen. Hinterher leere ich ihn auch gleich aus.“ Seit ich täglich Pferdemist schaufelte, war ich in solchen Dingen nicht mehr zimperlich.
Es machte mir wirklich nichts aus, den Eimer über den Hof zu tragen und in die Toilette zu leeren. Ich war nur froh, daß ich Jörn nicht begegnete. Er hätte wahrscheinlich wieder eine dumme Bemerkung gemacht.
Mikesch saß mit fiebrig glänzenden Augen im Bett, als ich zurückkam. Er bat mich um eine Kopfschmerztablette und wollte wissen, wie der Reitunterricht gelaufen wäre.
„Ganz gut“, sagte ich. „Aber Jörn meint, daß es leichter ist, einen Sack Flöhe zu hüten.“
„Ach, man gewöhnt sich daran“, erwiderte Mikesch und sah zum Fenster. „Es wird jetzt schon früh dunkel draußen, nicht? Vielleicht könntest du eine Kerze anzünden, Nell. Oder mußt du nach Hause?“
Das klang ganz anders als am Vormittag, wo er mich am liebsten wieder weggeschickt hätte.
„Nein“, sagte ich. „Ich muß nicht gehen. Wo hast du Kerzen?“
„Dort hinten im Regal.“ Er legte sich wieder zurück. „Herrgott, ich komme mir vor wie eine Glühbirne, die gleich platzen wird“, murmelte er.
Ich holte eine Kerze, die mit Wachs auf ein Holzbrettchen geklebt war, zündete sie an, stellte sie auf den Boden zwischen das Bett und das Sitzkissen und ließ mich nieder. Mikesch wälzte sich unruhig auf der Matratze.
Während ich ihn im Schein der Kerze ansah, dachte ich plötzlich, wie einsam er trotz seines guten Aussehens eigentlich war, und daß er offenbar keinen Menschen hatte, der sich so recht um ihn kümmerte.
Schon wollte ich nach seinen Eltern fragen. Da fiel mir ein, was er zu Herrn Moberg über seinen Vater gesagt hatte. So fragte ich nur: „Hast du Freunde in München, Mikesch?“
„Freunde?“ wiederholte er. „Ach, weißt du, ich kenne da ziemlich viele Leute, aber ob sie gerade richtige Freunde sind . . . Frank, der mit in unserer Wohngemeinschaft war, ist ein prima Kerl. Aber er lebt mit einer Frau zusammen, und die ist ihm so wichtig, daß kaum noch Platz für andere bleibt.“
Er verstummte und sah nachdenklich vor sich hin.
„Und früher?“ fragte ich vorsichtig. „Ich meine, hast du keine Freunde aus deiner Jugendzeit?“
Er lachte heiser. „Das klingt, als wäre ich ein Tattergreis. In dem Dorf, in dem ich aufgewachsen bin, hatte ich Freunde. Auch ein Mädchen, das ich sehr gern mochte, aber . . . Na ja, ich bin dann von dort weggegangen, und die Freundschaft hat die Trennung nicht überstanden. Wir waren ja auch noch sehr jung.“
Mikesch schwieg. Wieder dachte ich, wie wenig wir doch von ihm wußten. Dabei hätte ich gern eine Menge über ihn erfahren, nicht aus Neugier, sondern weil er zu uns gehörte. Doch ich wollte ihn nicht ausfragen. Unwillkürlich sagte ich: „Fühlst du dich nicht einsam?“
Er überlegte. Dann sagte er ruhig: „Manchmal schon. Hier bei euch auf dem Land allerdings nicht mehr so sehr. In München war es schlimmer, trotz all der Leute. Und im Grund bin ich auch ganz gern allein, ab und zu wenigstens.“
Eine Regenbö schlug gegen die Fensterscheibe, und der Wind drückte einen Fensterflügel auf. Ich ging hin und schloß den Riegel. Das Feuer war fast erloschen. Ich legte trockene Tannenzapfen und Holz nach und öffnete die Luftklappe, bis es wieder zu knistern begann. Dann machte ich frischen Tee.
Während Mikesch in langsamen Schlucken trank, fragte ich: „Dieses Mädchen aus deinem Dorf – war das die einzige, in die du verliebt gewesen bist?“
Er gab mir die Tasse zurück und lächelte. „Nein, ganz so romantisch ist das nicht“, sagte er. „Ich war seither mit ziemlich vielen Mädchen befreundet. Aber die erste Liebe bleibt einem wohl am stärksten in Erinnerung, findest du nicht?“
Ich wußte es nicht. Ich mußte an Jörn denken. Natürlich war ich schon ein paarmal verliebt gewesen, oder hatte es mir zumindest eingebildet. Diesmal aber schien es etwas anderes zu sein – kein Gefühl, das rasch aufflammt und ebenso rasch wieder verfliegt.
Statt einer Antwort fragte ich: „Wie hat sie ausgesehen, dieses Mädchen?“
„Blond und zierlich. Ein bißchen wie Kirsty.“
„Aha.“ Jetzt verstand ich, weshalb man gleich vom ersten Augenblick an gemerkt hatte, daß Kirsty ihm gefiel. Mikesch fügte hinzu: „Eines hat sie jedenfalls von allen anderen Mädchen unterschieden – sie war nicht in mein Äußeres verliebt, sondern in mich.“
„Kann man das denn überhaupt trennen?“
„Natürlich mag man an einem Menschen alles, wenn man ihn liebt – sein Wesen und sein Äußeres, da hast du schon recht. Wenn ich mich sage, meine ich natürlich beides. Aber es gibt Männer und Frauen, die nur aufs Äußere sehen und sich in eine gute Figur oder ein hübsches Gesicht verlieben. Und daraus kann kaum eine gute Beziehung werden, das ist klar.“
Ich nickte. Jetzt, da ich mir eingestehen konnte, daß ich in Jörn verliebt war, fragte ich mich, ob mich nur sein Äußeres anzog. Sicher war es wichtig für mich, denn es war ja ein Stück von ihm. Doch ich mochte auch sein Wesen, seine ruhige, verantwortungsbewußte Art; ich mochte an ihm, daß er nicht nur sich selbst sah, sondern auch für Dinge einstand, die ihm wichtig waren. Vielleicht mochte ich sogar seine schwierigen Seiten, denn auch die gehörten zu ihm.
„Woran denkst du?“ fragte Mikesch.
Ich hob den Kopf und sah ihn an. „An Jörn“, sagte ich, denn ich wollte nicht lügen.
Mikesch nickte, als hätte er es bereits gewußt. „Jörn ist in Ordnung“, sagte er, „auch, wenn er manchmal schwierig ist. Aber das sind die meisten feinfühligen Menschen.“
Spontan sagte ich: „Du bist auch in Ordnung, Mikesch. Ich bin froh, daß du zu uns gekommen bist.
Nicht nur, weil du mit allem so gut Bescheid weißt und weil wir’s ohne dich wahrscheinlich gar nicht schaffen würden. Nicht nur deshalb . . .“
Ich stockte verlegen und schwieg.
Er sah mich an und lächelte. „Danke, Nell“, erwiderte er einfach.