Читать книгу Reiterhof Dreililien Sammelband - Ursula Isbel - Страница 30
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ОглавлениеHazel ertrug die langen Tage im Stall mit ihrer üblichen Geduld. Jeden Tag ließen wir ihr abwechslungsweise zur Gesellschaft eine andere Stute mit im Stall stehen, damit sie sich nicht so einsam fühlte; denn Mikesch meinte, man müßte verhindern, daß Hazel sich ausgeschlossen vorkam. Das hätte ihre Widerstandskräfte gegen die Krankheit schwächen können.
Ich ging sehr oft in den Stall, um Hazel zu besuchen, auch wenn es mir jedesmal weh tat, ihren hängenden Kopf und ihre geduldigen Augen zu sehen. Sie hatte Schmerzen in den Vorderhufen, das merkte man deutlich. Oft legte sie sich in die Streu; ich beobachtete auch, daß sie die Vorderbeine weit nach vorn setzte und das Gewicht auf die Hinterhand verlagerte. Sie bewegte sich auffallend wenig, da ihr jede Bewegung Schmerzen zu bereiten schien.
Der Tierarzt kam regelmäßig. Neue Lehmverbände wurden angelegt, die Diät fortgesetzt. Doch weder aus Doktor Hofbauer noch aus Mikesch war herauszubekommen, ob sich eine Besserung abzeichnete; und Jörn und Matty taten, als wüßten sie genausowenig wie ich.
„Vorerst kann man noch gar nichts sagen“, behauptete Mikesch ständig, wenn ich ihn fragte. „Das kann lange dauern. Wir müssen Geduld haben.“
Geduld – allein schon das Wort habe ich immer gehaßt. Doch mir und allen anderen blieb wirklich nichts anderes übrig, als abzuwarten.
Inzwischen ging das Leben weiter und bestand nun wieder zu einem großen Teil aus Schule. Glücklicherweise stellte ich fest, daß wir auf dem Münchner Gymnasium während der letzten Klasse im Stoff schon etwas weiter vorangekommen waren, so daß ich einen kleinen Vorsprung hatte. Das erleichterte mir das Eingewöhnen. Und Carmen saß neben mir; das half mir am allermeisten.
Am Wochenende kamen dann die ersten Reitschüler. Ohne Hazels Krankheit wäre das bestimmt ein großartiges Ereignis für uns gewesen. So aber erlebten wir es mit gemischten Gefühlen. Die erste Begeisterung war verflogen.
Matty sprach am Samstag morgen genau das aus, was auch ich empfand. „Ich glaube, es wird gar nicht so einfach sein, plötzlich fremde Leute auf Dreililien zu haben und die Pferde mit anderen teilen zu müssen. Stellt euch mal vor – Eltern, die vielleicht überall herumschnüffeln, und junges Gemüse, das dauernd im Pferdestall und auf den Koppeln herumkriecht – pfui Geier!“
„Ja“, sagte ich langsam. „Aber es ist immer noch das kleinere Übel. Du weißt, daß es die einzige Lösung war.“
Er nickte. „Klar. Das war auch kein Angriff gegen deine Idee mit der Reitschule, Nell. Ich wollte nur sagen, wie mir zumute ist.“
„Ich verstehe dich schon“, murmelte ich.
Jörn sagte gar nichts. Seit der Sache mit Hazel hatte er sich wieder einmal in sein Schneckenhaus zurückgezogen, redete nur das Allernötigste und machte ein verschlossenes, unnahbares Gesicht.
Ich nahm dieses Verhalten schweigend hin; was blieb mir anderes übrig? Trotzdem verletzte es mich, daß Jörn offenbar so wenig Vertrauen zu mir hatte, daß er mich wie eine Fremde behandelte und so tat, als hätte es den Abend am Weiher nie gegeben, als wären wir nicht Freunde.
Vielleicht hätte ich mit ihm reden sollen, ihm klarmachen, daß er mir gegenüber offen sein konnte. Doch da ich eine Abfuhr fürchtete, versuchte ich es nicht. Es war wohl nicht nur Hazels Krankheit, ihr ungewisses Schicksal, das Jörn zu schaffen machte, sondern auch die Umstellung auf Dreililien. Pläne zu machen, ist eine Sache, sie dann aber auch verwirklicht zu sehen, eine andere.
Es war noch früh am Morgen, und wir waren damit beschäftigt, die „Reithalle“ für den Anfängerunterricht vorzubereiten. Reithalle war eigentlich ein viel zu vornehmes Wort für den großen, ebenerdigen Raum im linken Seitengebäude von Dreililien, in dem früher wohl ein Teil der Fuhrwerke untergebracht gewesen war, als man auf Dreililien noch richtige Landwirtschaft betrieben hatte. In Jörns und Mattys Kindheit war der Raum als Lagerhalle für Futterkartoffeln benutzt worden. Seitdem hieß er „In den Kartoffeln“.
Das mit den Kartoffeln war unser Pech, denn der Raum war dementsprechend schmutzig, voller Erdkrümel, Staub, Spinnweben und uralter, verschrumpelter Kartoffeln.
Wir bürsteten und fegten wie besessen, wirbelten eine Staubwolke auf, die jeder Wüstenstraße Ehre gemacht hätte, und niesten abwechslungsweise wild. Von Zeit zu Zeit spritzte Matty mit dem Gartenschlauch, damit wir nicht ganz im Staub erstickten.
Nachdem wir fast zwei Stunden geschuftet hatten, tauchte Herr Moberg im Türrahmen auf und beobachtete uns kritisch. Ich hätte am liebsten Besen und Schaufel fallen lassen und mich aus dem Staub gemacht. Dann aber fiel mir ein, daß ich schließlich für Jörn und Matty und die Pferde arbeitete. Also versuchte ich ihn zu übersehen, und fegte verbissen weiter.
„Ihr seid ja reichlich spät dran mit eurer Säuberungsaktion“, sagte Herr Moberg nach einer Weile.
Jörn richtete sich auf. „Sicher“, gab er kühl zu. „Wir haben ja auch sonst gar nichts zu tun. Nichts als Schule und Pferde und Stallarbeit; das ist wirklich alles nur ein Klacks!“
Sein Vater murmelte etwas und hinkte davon. Matty verdrehte die Augen und fuhr sich mit dem Arm übers Gesicht. Er war schon ganz schwarz um die Nase.
„Ich glaube, jetzt können wir’s so lassen“, sagte er. „Wo sind die Säcke mit dem Sägemehl, Jörn?“
„Draußen auf dem Heuwagen. Ich helfe dir abladen.“
Als wir den Boden mit Sägemehl bestreut hatten, sah die Halle aus wie die Wüste Gobi bei Sandsturm. Die Luft war voll von weißem Staub. Ich hatte Sägemehl zwischen den Zähnen, in der Nase, den Haaren und in den Ohren. Das Zeug juckte fürchterlich auf der bloßen Haut, weil ich von der Arbeit ganz verschwitzt war.
Wir flüchteten ins Freie. „Du hast ja ganz graue Haare!“ sagte Jörn zu mir und grinste zum erstenmal seit Tagen.
„Und du siehst aus wie ein Bäckerjunge, der in den Mehltrog gefallen ist.“
Wir kicherten.
„Jetzt nichts als unter die Dusche!“ sagte Matty. „Später können wir dann weitermachen.“
Ich lief zum Kavaliershäusl, duschte, wusch mir die Haare und zog frische Shorts und ein ärmelloses T-Shirt an. Als ich wieder nach Dreililien kam, hatte sich der Staub „In den Kartoffeln“ gelegt. Zusammen mit Matty putzte ich die vielen Fenster eilig, aber nicht allzu gründlich. Inzwischen kletterte Jörn auf der Trittleiter herum und kehrte mit einem langen Reisigbesen die dicksten Spinnweben von den Wänden.
Das Ergebnis war wirklich sehr zufriedenstellend. Der alte Lagerraum, der zuerst wie ein schmutziges Kellerloch gewirkt hatte, war plötzlich hell und freundlich. Durch die geöffneten Fenster kam würziger Stallgeruch und der Duft des Waldes. Sonnenstreifen brachten das frische Sägemehl zum Glitzern. Es fühlte sich wunderbar weich unter meinen nackten Füßen an. Unsere Arbeit konnte sich sehen lassen.
„Wir hängen noch ein paar alte Pferdebilder an die Wände“, beschloß Matty. „Das macht sich gut.“
Er verschwand, um auf dem Dachboden nach den Bildern zu stöbern. Inzwischen war es fast elf Uhr. Mikesch tauchte mit einem Aktenordner unter dem Arm auf.
„Hier heften wir die Unterlagen für die Reitschule ab“, sagte er. „Hoffentlich bringen die Leute gleich ihre ausgefüllten Anmeldeformulare mit. Seid ihr mit der Reithalle schon fertig?“
Jörn nieste statt einer Antwort. „Schon ist gut nach vier Stunden Schufterei“, sagte ich. „Sieh’s dir doch mal an.“
Mikesch lachte. „O Verzeihung, da bin ich dir wohl auf sämtliche Hühneraugen getreten!“
„Ich habe keine Hühneraugen“, sagte ich würdevoll. „Schon eher eine Staublunge.“
Um ein Uhr mittags saßen wir gestiefelt und gespornt auf dem Rand des alten Ziehbrunnens im Innenhof und warteten auf die ersten Reitschüler. Jörn trug eine beigefarbene Reithose, während er sonst eigentlich immer nur in Jeans ritt. „Man muß Eindruck machen“, erklärte er. Sogar die indianische Weste aus Rehleder, die Carmen ihm gemacht hatte, trug er zur Feier des Tages; dazu ein passendes Stirnband mit Perlstickerei.
Carmen war auch gekommen. Sie hatte sich an den Schläfen zwei kleine Zöpfe geflochten und ihre Wimpern schwarz getuscht, was ihr Gesicht erstaunlich veränderte, weil sie von Natur eigentlich sandfarbene Wimpern und Augenbrauen hatte.
Matty hatte seine blonden Haare ungewöhnlich sorgfältig zurückgebürstet und mit Wasser angefeuchtet, damit sie nicht wie sonst nach allen Seiten abstanden. Auch er trug eine Reithose und sauber polierte Reitstiefel. Ich hatte ihn noch nie so gepflegt gesehen.
Da ich keine Reithose besaß, trug ich meine besten Jeans und eine karierte Bluse, die mit einem Volant verziert war und einen kleinen Stehkragen hatte. Ich fand, daß sie mir gut stand. Als ich damit aufgetaucht war, hatte Mikesch anerkennend gepfiffen und gesagt:
„Nell sieht wie ein Mädchen aus einem Wildwestfilm aus. Fehlen bloß noch die Cowboystiefel.“
Mikesch selbst war natürlich der absolute Glanzpunkt. Er erinnerte mich an eine Reklamefigur für sportliches Rasierwasser, wie er da saß, braungebrannt, mit den strahlend blauen Augen und schwarzen Locken und der lässigen Kleidung. Dabei war ich sicher, daß er sich gar keine Mühe gegeben hatte, besonders gut auszusehen.
Als das erste Auto über die Auffahrt kam, verkrümelte ich mich mit Matty und Carmen in die Sattelkammer. Dort beobachteten wir vom Fenster aus, wie ein Ehepaar und ein etwa dreizehnjähriges Mädchen ausstiegen und sich erwartungsvoll umsahen.
„Das ist sicher der Rechtsanwalt“, stellte Matty fest. „Wetten, daß es die Mayreders sind!“
Ich nickte. „Ja. Sabine mit der besorgten Mutter. Jetzt wird Frau Mayreder gleich mit einem Wortschwall über Mikesch und Jörn herfallen.“
Sabine im brandneuen Reitdreß hielt sich im Hintergrund, während ihre Eltern mit Mikesch redeten. Herr Moberg ließ sich überhaupt nicht sehen. Er schien entschlossen zu sein, wirklich alles uns zu überlassen, was mit der Reitschule zusammenhing.
Ehe Frau Mayreder richtig loslegen konnte, kam wieder ein Wagen. Diesmal war es ein sportlich-eleganter Landrover, in dem ein bebrillter Mann und zwei kleine Mädchen saßen.
„Die Zwillinge“, sagte Carmen. „Zum Glück sind sie sich nicht so ähnlich, daß man dauernd Schwierigkeiten hätte, sie auseinanderzuhalten.“
„Die zwei sehen nett aus“, murmelte ich.
Matty sagte: „Mir wird schon ganz mulmig.“
Während Jörn und Mikesch mit den neuen Reitschülern und ihren Eltern über den Hof zum Stall gingen, kam jemand mit wildem Geknatter auf einem Moped angefahren.
„Das wird Christian aus Rosenheim sein“, sagte Matty.
„Wenigstens einer, der ohne seine Eltern kommt!“
„Schau erst mal, ob er seine Großmutter nicht auf dem Rücksitz mitgebracht hat“, erwiderte Carmen kichernd.
„Er sieht lustig aus“, sagte ich und beobachtete, wie er seinen Motorradhelm absetzte. „Ein bißchen wie Rod Stewart mit seiner spitzen Nase und dem schmalen Gesicht.“
Roddy, wie ich den Jungen aus Rosenheim insgeheim nannte, wirkte ziemlich schüchtern. Er blieb bei seinem Moped stehen, sah sich unschlüssig um und schien nicht zu wissen, was er jetzt tun sollte.
„Los“, sagte Carmen, „gehen wir zu ihm.“ Und sie öffnete die Hintertür der Sattelkammer, die auf den; Innenhof führte.
Roddy versuchte lässig zu wirken, als wir zu dritt auf ihn zukamen, doch er konnte mich nicht täuschen. Ich mochte ihn gerade wegen seines schüchternen Gesichtsausdrucks.
„Hallo“, sagte Matty und streckte die Hand aus. „Ich bin Matty. Und das sind Carmen und Nell.“
„Hallo“, sagte auch Roddy und wurde rot. „Ich heiße Chris.“ Er war noch etwas im Stimmbruch. „Seid ihr auch Reitschüler, oder wohnt ihr hier?“
Ich gab ihm die Hand. „Ich wohne gleich nebenan und lerne erst seit kurzem Reiten. Besonders berühmt sind meine Reitkünste jedenfalls noch nicht.“
Etwas wie Erleichterung zeigte sich auf Roddys Gesicht. Ich fuhr fort: „Aber Carmen reitet sehr gut. Sie wohnt in Mariabrunn, ihr Vater hat dort einen Bauernhof. Nur Matty ist von Dreililien. Er ist sozusagen mit Pferden aufgewachsen.“
Roddy nickte. „Gehört die Reitschule deinem Vater?“ fragte er Matty.
„Ja, aber eigentlich ist Dreililien ein Gestüt. Weil sich die Pferdezucht allein nicht mehr lohnt, sind wir drei und mein Bruder Jörn auf die Idee gekommen, es zusätzlich mit der Reitschule zu versuchen“, erklärte Matty ehrlich.
„Sonst hätten wir unsere Pferde verkaufen müssen, “
„Ach so, ich verstehe.“ Jetzt wirkte Roddy schon nicht mehr so gehemmt. „Da kann man bloß hoffen, daß es klappt. Habt ihr viele Reitschüler?
„Heute sollen mit dir sechs kommen“, erwiderte Matty. „Lauter Anfänger. Für morgen haben sich sieben Leute angemeldet; die haben alle schon mal Reitstunden gehabt. Mit der Zeit kommen wohl noch ein paar dazu. Und außerdem wollen wir hier Reiterferien abhalten.“
Als wir in den Stall kamen, erzählte Mikesch Herrn und Frau Mayreder und dem Vater der Zwillinge gerade etwas über Pferdezucht. Sie hörten beeindruckt zu. Jörn wär verschwunden. Er überließ es ganz Mikesch, einen guten Eindruck zu machen und sich um alles zu kümmern; und Mikesch verstand das wirklich großartig.
Ich zwinkerte Matty verstohlen zu. Matty zwinkerte zurück. Offenbar dachte er wie ich, daß Mikesch genau der Richtige für diesen Job war. Wir hätten das nie so gut geschafft. Schon allein wegen unseres Alters wären wir von den Eltern wohl kaum ernst genommen worden.
Außer Hazel standen sechs Stuten in ihren Boxen – Joschi, Solveig, Rapunzel, Eileen, die Schimmelstute Emily und Julka. Matty und Jörn hatten sie für den Reitunterricht ausgesucht, weil sie am gutmütigsten und geduldigsten waren.
Die Zwillinge hatten sich vor Joschis Box aufgebaut und streichelten sie begeistert. Sabine Mayreder stand bei Hazel.
Ich sah sie und bekam sofort Angst, daß sie die kranke Stute beunruhigen könnte. Rasch ging ich hin. Sabine hatte Hazel jedoch nicht angefaßt. Sie lehnte an der Stallmauer gegenüber der Box und beobachtete Hazel.
Hazel ließ den Kopf hängen und beachtete das fremde Mädchen nicht. Erst als ich kam, sah sie auf und spitzte die Ohren.
Ich.strich ihr sacht über den Nasenrücken und die Stirn. „Bist meine Gute“, murmelte ich.
Eine Stimme sagte leise hinter mir: „Sie ist krank, nicht? Was hat sie?“
Erstaunt sah ich mich um. Sabine Mayreder mit dem Mausgesicht, den scheuen Augen und graublonden Haaren, das unscheinbare, ängstliche Mutterkind, hatte sofort erkannt, daß Hazel etwas fehlte!
Ebenso leise erwiderte ich: „Sie hat Hufrehe. Das ist eine Entzündung der Huflederhaut an den Vorderhufen.“
„Ich weiß“, sagte sie mit ihrer dünnen Stimme. „Ich hab in meinem Pferdebuch etwas darüber gelesen. Es ist unheilbar, nicht?“