Читать книгу Reiterhof Dreililien Sammelband - Ursula Isbel - Страница 35

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„Am Sonntag ist die Friedensdemonstration, von der ich dir erzählt habe, als Nell geboren wurde“, sagte Jörn an einem Oktoberabend während der Stallarbeit zu mir. „Kommst du mit, oder hast du es dir inzwischen anders überlegt?“

Ich war gerade damit beschäftigt, Hazels Fell zu bürsten. Seit sie mir gehörte, versorgte ich sie immer selbst, und die Bindung zwischen uns war dadurch stärker geworden. Wenn ich jetzt in den Stall kam, wieherte sie jedesmal laut, und auf der Koppel knuffte sie die anderen Stuten zur Seite, um als erste bei mir zu sein.

Ich hob den Kopf und erwiderte über die Stallgasse hinweg: „Natürlich komme ich mit. Da gibt’s nichts zu überlegen.“

„Mikesch will auch mitkommen“, sagte Jörn. „Zum Glück hat Matty versprochen, hierzubleiben. Jemand muß sich schließlich um die Pferde kümmern.“

Am nächsten Tag fragten wir Carmen, ob sie mit uns zur Demonstration fahren wollte. Sie stimmte sofort begeistert zu, erschien aber am Nachmittag auf Dreililien und erklärte mit finsterem Gesicht, ihre Eltern hätten ihr verboten, an der Demo teilzunehmen.

„Sie denken, daß alle Demonstranten Chaoten wären, die sich mit der Polizei prügeln und Schaufenster einwerfen“, sagte sie. „Ich habe versucht, ihnen zu erklären, daß das nur ein paar Außenseiter sind, und daß die meisten Leute einfach nur friedlich dahinmarschieren und zeigen wollen, daß sie Angst vor einem Krieg haben – aber es war nichts zu machen. Wenn sie sich so verständnislos benehmen, zwingen sie mich eben dazu, daß ich ihnen nächstesmal etwas vorlüge und einfach mitmache.“

Auch bei mir zu Hause gab es fast Streit wegen der Demonstration. Nicht, daß mein Vater mir verboten hätte, mitzumachen. Er meinte, das sei ganz allein meine Sache. Schwierig wurde es erst, als Kirsty verkündete, sie wolle ebenfalls an der Friedensdemonstration teilnehmen.

„Himmel, so ein Unsinn!“ sagte mein Vater und starrte sie über den Tisch hinweg an. „Doch nicht in deinem Zustand! Was willst du überhaupt unter all dem jungen Gemüse?“

Kirsty legte ihre Gabel weg. Zum erstenmal, seit ich sie kannte, war sie richtig wütend.

„Du bist also auch einer von denen, die sich vor der Verantwortung drücken!“ sagte sie scharf. „Einer von denen, die meinen, daß es die da oben schon richtig machen werden, auch wenn sie Neutronenbomben entwickeln und Raketen vor unserer Nase stationieren wollen. Die jungen Leute sollen sich darum kümmern, wie? Sie sollen mit all dem Schmutz und den Problemen leben und fertig werden, die wir ihnen hinterlassen, was? Haben wir nicht auch ein Interesse daran, daß dieser Rüstungswahnsinn endlich ein Ende hat, sind wir nicht verpflichtet, dagegen vorzugehen und zu zeigen, daß wir nicht alles mit uns geschehen lassen? Wir haben schließlich auch noch fast ein halbes Leben vor uns!“

Sie holte tief Luft. „In meinem Zustand, sagst du! Gerade in meinem Zustand muß ich mich für die Abrüstung einsetzen, damit das Kind, das ich erwarte, eine Chance hat, in Frieden aufzuwachsen – damit es überhaupt eine Überlebenschance hat! Wenn du nicht mitgehen willst, gut, ich kann dich nicht dazu zwingen. Aber ich tue, was ich für richtig halte. Daran wirst du mich nicht hindern.“

Mein Vater machte ein so erschrockenes und verdutztes Gesicht, daß ich lachen mußte. Auch er hatte seine Kirsty offenbar nie so aufrührerisch erlebt. Er schluckte und aß schweigend weiter.

Auch später wurde nicht mehr über die Sache gesprochen. Doch am Sonntag morgen um halb sieben Uhr stand Kirsty fertig angezogen in der Küche, hatte einen dicken Pullover bereitgelegt und füllte gerade Kaffee in die Thermosflasche.

„Ich fürchte, es wird ziemlich kühl heute“, sagte sie.

„Da können wir unterwegs etwas Warmes vertragen. Hilfst du mir, belegte Brote vorzubereiten?“

Punkt sieben kam Jörn wie vereinbart mit seinem Käfer vors Haus getuckert. Mein Vater hatte sich die ganze Zeit über nicht gezeigt. „Er liegt im Bett und schmollt“, erklärte mir Kirsty augenzwinkernd.

Mikesch war inzwischen längst wieder gesund und munter. Er saß auf dem Rücksitz und zeigte ganz unverhohlen, wie sehr er sich freute, daß Kirsty mitkam.

Kurz nach neun Uhr waren wir in München und parkten das Auto in der Nähe des Königsplatzes, wo die Demo beginnen sollte. Eine riesige Menschenmenge hatte sich dort versammelt. Ich hatte noch nie in meinem Leben so viele Menschen auf einmal gesehen.

„Hunderttausend werden’s bestimmt sein“, sagte Jörn zufrieden. „Hier auf dem Königsplatz soll übrigens auch die Schlußkundgebung stattfinden – so um zwei Uhr herum. Dafür haben sie gerade den richtigen Platz ausgesucht, finde ich. Es gibt kaum einen besseren Ort, um zum Frieden aufzurufen als hier, wo Hitler seine großen Aufmärsche veranstaltet hat.“

Er hatte ein Spruchband mitgebracht, auf dem stand: Stell dir vor, es ist Krieg, und keiner geht hin. Und Mikesch hatte aus einem alten Bettlaken eine Fahne gebastelt. Darauf hatte er mit blauem Filzstift eine Friedenstaube gemalt und darunter geschrieben: „Frieden schaffen ohne Waffen!“

Es hatten sich vor allem jüngere Leute versammelt, Schüler und Studenten. Wir paßten gut zu ihnen, fand ich – Jörn mit seinem Stirnband und der Rehlederjacke, Mikesch in seinem alten Lodenumhang und ich mit meinem Lieblingspulli, der immer länger und weiter wurde und mir inzwischen fast bis zu den Knien reichte.

Am besten aber gefiel mir Kirsty in ihrem langen Kleid, unter dem sich schon ihr rundlicher Bauch abzeichnete, mit ihrem dicken goldbraunen Zopf und dem bunten Schultertuch aus Wolle. Sie sah fröhlich und erwartungsvoll aus wie ein junges Mädchen und stritt sich in aller Freundschaft mit Mikesch herum, der unbedingt ihren Korb tragen wollte.

„Das bißchen Proviant kann ich schon noch tragen“, sagte sie. „Ich bin schließlich nicht krank, sondern nur schwanger.“

Gegen halb elf marschierten wir los. Die Menschenmenge war jetzt unübersehbar geworden. Vor uns fuhr ein Lieferwagen mit einem Lautsprecher, aus dem Musik erklang. Eine holländische Gruppe sang Wir wollen wie das Wasser sein, das weiche Wasser bricht den Stein.

Viele sangen mit. Jetzt merkte ich, daß auch viele ältere Leute unter den Demonstranten wären, unter ihnen ein weißhaariger Mann, der sich auf einen Stock stützte, eine Gruppe von Frauen und Männern, die Spruchbänder trugen, ältere Paare, auch Soldaten der Bundeswehr in Uniform.

Ich ging neben Jörn. Hinter uns kamen Kirsty und Mikesch. Doch als ich mich nach einer Weile umsah, waren sie in der Menschenmenge verschwunden.

Dann erklang die Stimme von Joan Baez aus dem Lautsprecher. Sie sang We shall overcome. Die Leute sangen mit. Plötzlich merkte ich, wie ich mitsang; wir sangen beide, Jörn und ich. Er hatte meine Hand genommen, und wir gingen im gleichen Takt. Ich hörte seine dunkle, ein wenig brüchige Stimme dicht neben mir.

All die Stimmen und Gesichter um mich her und Jörn an meiner Seite, das war ein Gefühl, als würde ich von einer großen, warmen Welle getragen.

Es war einer jener Augenblicke im Leben, die so sehen sind, ein Augenblick, in dem ich daran glaubte, daß wir alle Probleme überwinden könnten – unsere eigenen, eigentlich kleinen, Schwierigkeiten mit Dreililien, mit der Schule, aber auch die große Bedrohung unserer Erde durch die Supermächte mit ihren Waffen, durch Umweltverschmutzung und Ausbeutung der Natur. Und ich merkte an Jörns Blick, an dem Drück seiner Hand, daß er die gleiche Zuversicht empfand wie ich.

Er sagte: „Wir dürfen nicht auf geben, Nell, niemals. Wir müssen an unsere Macht glauben, etwas zu verändern. Gemeinsam können wir es schaffen.“

Später dann, nach der Abschlußkundgebung, wurde auf dem Königsplatz noch getanzt. Eine irische Gruppe spielte Volksmusik. Die Leute faßten sich an den Händen und bildeten große Kreise. Jörn und ich hüpften und sprangen und tanzten mit herum, bis wir außer Atem waren. Alle lachten, jubelten und schrien. Irgendwo in unserer Nähe sah ich in dem übermütigen Wirbel auch Kirstys und Mikeschs Gesichter.

Dann löste sich ein Kreis nach dem anderen auf. Paarweise tanzten wir weiter, wild und ausgelassen wie auf einer Bauernhochzeit. Jörn hatte beide Arme um mich gelegt. Wir drehten uns und wirbelten mit geschlossenen Augen herum wie Kinder. Ich umschlang Jörns Hals. Er hob mich hoch und stellte mich wieder auf den Boden, lachend und atemlos. Minutenlang schwankten wir wie betrunken, hielten uns aneinander fest, küßten uns – einmal, zweimal, immer wieder. Es war wie ein Spiel, fast eine Art Taumel, aus dem wir ganz plötzlich zur gleichen Zeit erwachten.

Inmitten der tanzenden, singenden Menge standen wir voreinander, hielten uns umfaßt und sahen uns mit seltsamem Ernst in die Augen. Und als wir uns wieder küßten, war es anders als vorher – sanft, wie ein Versprechen.

Reiterhof Dreililien Sammelband

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