Читать книгу Reiterhof Dreililien Sammelband - Ursula Isbel - Страница 29

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Irgendwie fiel es mir in diesem Jahr besonders schwer, wieder mit der Schule anzufangen. Nicht nur, weil ich mich so an das freie Leben auf dem Land gewöhnt hatte, und weil es so vieles andere zu tun gab, was mir wichtiger erschien als stundenlang in einem geschlossenen Raum zu sitzen und trockenes Wissen zu pauken. Was ich mir während der letzten Wochen nie so richtig eingestanden hatte, spürte ich jetzt um so deutlicher: Ich hatte Angst vor der neuen Schule.

Am ersten Schultag radelten wir frühmorgens nach Mariabrunn und fuhren von dort aus mit dem Schulbus in die Kleinstadt. Noch verunsicherten mich die vielen fremden Gesichter nicht, denn ich hatte ja Jörn und Matty dabei. Dann kam auch noch Carmen in letzter Minute angerannt und setzte sich keuchend neben uns.

Später aber, in der großen Aula, wurde mir fast übel von dem typischen Schulgeruch, mit dem sich für mich alles verband, was mit der Schule zu tun hat. Der Rektor, ein vertrocknetes Männchen, hielt eine Ansprache, die keinen interessierte. Dann mußte ich ins Sekretariat, um herauszufinden, welcher Klasse ich zugeteilt worden war. Als ich vor der Tür stand, wäre ich am liebsten wieder umgekehrt und durch die langen Korridore zum Ausgang gelaufen, um nach Hause zu fahren.

Doch dann war alles nicht so schlimm, denn ich kam in die gleiche Klasse wie Carmen. Und schon eine Stunde später waren wir wieder frei – für diesen Tag wenigstens – und trafen uns mit Matty und Jörn vor dem Schultor.

„Puh, dieser alte Mief!“ sagte Matty. „Der macht mich ganz krank. Gehen wir noch ein Eis essen?“

Wir steuerten eine Eisdiele in der Nähe an, in der sich fast die ganze Schule zu treffen schien. An einem größeren Tisch war noch etwas Platz; wir holten Stühle und zwängten uns dazwischen. Hier saßen hauptsächlich Mitschüler von Jörn, der jetzt in die Abiturklasse gekommen war.

Keiner kümmerte sich um mich, und mir war das nur recht. Ich war durchaus nicht wild darauf, als neue Schülerin aufzufallen.

Weil wir nicht auf den Schulbus warten wollten, nahmen wir den öffentlichen Bus vom Bahnhof. Eine Stunde später waren wir wieder zu Hause.

Ich atmete auf, als hätte mir jemand eine Gnadenfrist gewährt. Der Duft von frischem Heu, die alten Bauern auf den Hausbänken, die Koppel mit den Pferden, die Wiesen und Waldstücke – das alles erschien mir schöner und friedlicher als je zuvor, das ganze Tal eine Art Zuflucht, ein kleines Paradies.

Mikesch besserte gerade einen Zaun aus, als wir angeradelt kamen. „Heute vormittag haben wieder zwei Leute wegen Reitstunden angerufen“, sagte er. „Ich glaube, wir können am Wochenende anfangen. Wie war’s in der Schule?“

Er grinste verständnisvoll, als er unsere wenig begeisterten Mienen sah. „Nach den Ferien ist’s immer besonders schlimm“, sagte er. „Aber man gewöhnt sich wieder daran, falls das ein Trost ist. Ich bin mit achtzehn von zu Hause abgehauen, ein paar Monate vor dem Abitur.“

„Hast du es bereut – ich meine, daß du die Schule nicht beendet hast?“ fragte Jörn.

Mikesch schüttelte den Kopf. „Keinen Tag“, erwiderte er. „Aber das gilt nur für mich. Jeder muß für sich selbst entscheiden, worauf es ihm ankommt. Habt ihr Zeit, mir beim Zaun zu helfen? Später muß dann auch noch Heu eingebracht werden.“

„Klar“, erwiderte Matty, und Jörn sagte: „Wir ziehen uns nur schnell um.“

Als ich nach Hause kam, lag Kirsty auf dem Küchensofa. Sie war sehr blaß.

„Ich glaube, ich hab letzte Nacht den Alkohol nicht vertragen“, sagte sie. „Wenn man ein Kind erwartet, sollte man wohl ein bißchen vorsichtiger sein.“

Ich erwiderte: „Ich mach dir rasch einen Melissentee.“ „Danke, Nell. War’s schlimm in der neuen Schule?“

Sie hatte also schon vermutet, daß es nicht leicht für mich sein würde. „Es ging“, sagte ich, während ich Teewasser aufsetzte. „Ich bin in die gleiche Klasse wie Carmen gekommen, weißt du.“

„Na, das ist ja ein Lichtblick.“ Kirsty seufzte leise. „Du, ich müßte heute zur Untersuchung nach Frasdorf. Eigentlich wollte ich ja mit dem Rad hinfahren, aber ich bin nicht sicher, ob ich das schaffe. Glaubst du, daß Jörn mich hinfahren könnte? Es dauert bestimmt nicht lange.“

„Klar macht er das. Daß du radelst, kommt gar nicht in Frage. Ich helfe Matty und Mikesch dafür bei der Arbeit. Wann bist du bestellt?“

„Für drei.“

Ich hob den Kopf und sah sie an. „Ist das vielleicht die Fruchtwasseruntersuchung, von der du mir erzählt hast?“

Sie schüttelte den Kopf. „Nein, die ist erst in ein paar Wochen fällig. Dein Vater hat mich schon bei einem Facharzt in München angemeldet. Davor graut mir.“

„Ist es gefährlich?“ fragte ich erschrocken.

„Nein, das wohl nicht. Aber ich habe gehört, daß die Untersuchung bei örtlicher Betäubung gemacht wird, und . . . Ach, weißt du, mir wäre es halt am liebsten, alles könnte ganz natürlich verlaufen, ohne ständige Untersuchungen und hochmoderne Geräte und Vorsorge und wer weiß was sonst noch alles. Eben, wie die Frauen früher ihre Kinder bekommen haben.“

„Früher sind die Frauen sehr oft im Kindbett gestorben“, sagte ich, „und die Kinder sind meistens nur ein paar Jahre alt geworden – eben weil die ärztliche Versorgung so schlecht war. Das haben wir mal in der Schule gelernt.“

Ich stellte den Melissentee vor sie hin. Sie trank ihn in kleinen Schlucken. „Da hast du auch wieder recht“, sagte sie nach einer Weile. „Aber ich meine nicht unbedingt unsere Großmütter und Urgroßmütter mit den langen Kleidern und den geschnürten Taillen, die um die Jahrhundertwende gelebt haben. Bei den Eingeborenenfrauen zum Beispiel soll das Kinderkriegen meist ganz einfach zugehen – sie setzen sich ins Farnkraut, halten sich links und rechts an einem Ast fest, haben ein paar Frauen zur Hilfe dabei, und das Kind kommt viel schneller und einfacher als bei uns. Das hab ich im Fernsehen gesehen.“

„Ja“, sagte ich und mußte lachen. „Ich auch. Versuch’s doch mal! Und da gibt es Stämme, die haben ihre eigene Geburtenregelung. Wenn eine Frau ein Mädchen bekommt, und der Stamm hat gerade zu viele Mädchen, setzen sie das Baby nach der Geburt einfach aus. Findest du das gut?“

Kirsty lachte ebenfalls. „Na ja, das weniger“, gab sie zu. „Aber wahrscheinlich müssen sie’s tun, um überleben zu können.“

Ich vertauschte meine Leinenhosen gegen die abgeschnittenen Jeans und die Bluse gegen ein T-Shirt, nahm mir ein Butterbrot und trank ein Glas Milch.

„Was wünschst du dir eigentlich?“ fragte ich. „Ein Mädchen oder einen Jungen?“

„Ach, ich nehme es, wie es kommt“, sagte Kirsty.

„Aber du, ich glaube, es wird ein Mädchen.“

Ich starrte sie an. „Woher weißt du das?“ fragte ich mit vollem Mund.

„Ach, ich hab das so im Gefühl. Was meinst du, wie sollen wir es nennen?“

„Kathrinchen“, sagte ich wie aus der Pistole geschossen und war selbst ganz verwundert.

„Kathrinchen“, wiederholte Kirsty. „Katharina. Ja, der Name gefällt mir. Mal sehen, was dein Vater dazu sagt.“ Sie legte sich zurück und schloß die Augen.

„Schlaf ein bißchen“, sagte ich. „Ich gehe jetzt. Um halb drei schicke ich dir Jörn.“

Als ich nach Dreililien kam, war der Tierarzt da. Ich sah seinen Wagen auf dem Hofplatz stehen und erschrak. Irgend etwas mußte geschehen sein. Mittags hatte Mikesch jedenfalls nichts davon erwähnt, daß eines der Pferde krank war.

In der Stalltür kam mir Matty entgegen. Er machte ein finsteres Gesicht wie meistens, wenn ihn etwas bedrückte.

„Was ist los?“ fragte ich. „Warum ist der Tierarzt da?“

Er sah an mir vorbei. „Wegen Hazel“, murmelte er.

„Es ist etwas mit ihren Vorderhufen. Ich hab’s vor einer halben Stunde bemerkt.“

„Hazel?“ wiederholte ich fassungslos. Ausgerechnet Hazel, von allen Pferden! „Aber . . . Es ist doch nichts Schlimmes, oder? Vielleicht ist sie gestolpert und hat sich irgendwo gestoßen oder so.“

Matty preßte die Lippen aufeinander und gab keine Antwort. Da wußte ich, daß es durchaus nicht so harmlos war, wie ich gern geglaubt hätte.

Leise ging ich in den Stall. Hinter Marnies leerer Box blieb ich stehen. Ich wollte nicht bemerkt werden – weder vom Tierarzt noch von Herrn Moberg, die auf der Stallgasse standen und sich unterhielten. Mikesch und Jörn waren auch dabei. Ich konnte nur Jörns blonde Locken über dem Stirnband und Mikeschs Hinterkopf sehen.

Der Tierarzt sprach leise; ich verstand nur einen Teil von dem, was er sagte. Mehrmals fiel ein Wort, das wie „Rehe“ klang. Er sprach von Huflederhaut, Bewegungsstörung und stark pulsierender Hauptmittelfußarterie. Herr Moberg fluchte halblaut.

Geräuschlos verließ ich den Stall. Ich mochte nicht mehr zuhören, konnte Hazels hängenden Kopf nicht länger sehen. Warum muß man immer gleich dafür bestraft werden, wenn man glücklich gewesen ist? dachte ich bitter. Hazel darf nichts passieren! Lieber Gott, mach, daß Hazel wieder gesund wird!

Matty saß auf den bemoosten Stufen, die zum einstigen Gutspark führten, Hier war alles verwildert und zugewachsen. Nur die geborstene Steinsäule, die einst wohl zu einem Brunnen gehört hatte, ragte aus dem Gestrüpp.

Leise setzte ich ich mich neben ihn. „Matty“, sagteich, „der Tierarzt hat gesagt, Hazel hätte so was wie Rehe. Was ist das? Ist es sehr schlimm?“

Eine Weile erwiderte er gar nichts. Ich dachte schon, er würde überhaupt nicht antworten, da sagte er: „Das ist eine schwere Entzündung der Huflederhaut, die ganz plötzlich auftritt. Ich hatte schon Angst, daß es bei Hazel so was sein könnte, weil sie sich nicht mehr richtig bewegen wollte. Als ich ihre Vorderhufe anfaßte, waren sie auch ziemlich heiß, und der Druck tat ihr weh.“ Er stockte. „Zwei von unseren Pferden haben schon mal den Verschlag gehabt. Verschlag und Hufrehe, das ist das gleiche. Sie sind beide nicht wieder gesund geworden; das heißt, sie haben Rehhufe bekommen und waren damit praktisch wertlos. Man konnte sie nicht mehr verkaufen, und für die Zucht waren sie auch nicht mehr geeignet.“

Ich hatte Angst, die nächste Frage zu stellen; doch wissen mußte ich es. „Und? Was hat dein Vater mit ihnen gemacht?“

Matty wandte das Gesicht ab. Dann sagte er mit rauher Stimme: „Sie mußten in die Abdeckerei.“

In die Abdeckerei! Mir wurde ganz kalt. Von allen schlimmen Vorstellungen war das die schlimmste. Ich hatte einmal einen Bericht über Schlachtpferde gesehen, die ins Ausland verschifft wurden. Auf dem Schiff brach man ihnen die Beine, um sie leichter transportieren zu können. Sie bekamen auch weder Wasser noch Futter auf dieser Reise in den Tod. Der Filmbericht hatte mich so erschreckt, daß ich nächtelang davon geträumt hatte.

Ich stand auf und merkte, daß ich am ganzen Körper zitterte. „Hazel darf nicht zum Abdecker!“ sagte ich heftig. „Das kommt überhaupt nicht in Frage! Lieber . . . lieber verstecke ich sie im Wald oder bringe sie zum Tierarzt, damit sie eingeschläfert wird und ein leichtes, anständiges Ende hat! Das wäre doch eine . . . eine verdammte Gemeinheit wäre das, so ein liebes, braves Pferd wie Hazel, das immer alles getan hat, was man von ihm verlangte, zum Abdecker zu schicken, nur weil es kein Geld mehr einbringt . . .“

Ich schwieg, weil auch meine Stimme zu zittern begann. Das Schluchzen saß mir in der Kehle und ließ sich nicht mehr zurückdrängen.

Matty ließ mich weinen, ohne sich von der Stelle zu rühren. Schließlich sagte er: „Was meinst du, mit wie vielen Pferden es mir schon so ergangen ist wie dir jetzt mit Hazel? Das ist eben die Riesenungerechtigkeit, verstehst du? Man macht Geld mit ihnen, nutzt sie aus, gebraucht sie, bis sie alt oder krank sind und keinen Gewinn mehr bringen. Und dann bekommen sie meistens nicht mal das Gnadenbrot. Sie werden umgebracht und zu Pferdewurst verarbeitet.“

Er sagte das sehr hart. Einen Augenblick lang haßte ich ihn fast dafür. Dann aber begriff ich, daß er so hart war, weil er sich hilflos fühlte, daß das seine Art war, wie er sich mit den grausamen Tatsachen des Lebens auseinandersetzte, und daß er mir begreiflich machen wollte, daß auch ich auf die Dauer nicht in einem Wolkenkuckucksheim leben konnte. Das Geschäft mit Pferden war nicht nur romantisch und idyllisch, wenn es sich lohnen sollte; das mußte auch ich begreifen lernen.

Ich fuhr mir mit dem Handrücken über die Augen und schniefte heftig. Ohne aufzusehen, reichte mir Matty ein zerknittertes Papiertaschentuch.

Nein, dachte ich, trotz allem – ich wollte mich diesen grausamen Tatsachen nicht fügen, vor allem nicht, wenn es um Hazel ging. „Sie wird wieder gesund!“ sagte ich kämpferisch. „Sie muß wieder gesund werden. Und wenn nicht – wenn sie’s nicht schafft, müssen wir eine andere Lösung finden. Hazel hat das Gnadenbrot wahrhaftig verdient. Mir wird schon etwas einfallen, ich schwör’s dir.“

Matty sagte gar nichts. Wahrscheinlich dachte er, daß ich gerade den gleichen Kampf begann, den er selbst schon so oft gekämpft und verloren hatte. Sein Vater war bestimmt kein Mann, der sich von „Gefühlsduseleien“ in seinen Entscheidungen beeinflussen ließ.

Ich ging über den Hof zurück und betrat die Sattelkammer durch die Hintertür. Mikesch stand vor dem Regal und wühlte in der Stallapotheke.

Ich trat neben ihn. „Matty sagt, daß Hazel vielleicht so was wie Rehhuf bekommt und . . . unbrauchbar wird“, sagte ich leise.

Mikesch sah auf mich nieder. „Warten wir’s ab. Man kann den Verschlag auch ausheilen, wenn man rechtzeitig mit der Behandlung einsetzt. Matty ist ein alter Schwarzseher. Der Tierarzt läßt Hazel jetzt zur Ader, und ich packe ihre Vorderhufe in feuchten Lehm ein. Sie darf einige Zeit kein Wasser bekommen. Mit Diätfutter und Stallruhe läßt sich manches wieder hinkriegen.“

Mir war wieder etwas leichter ums Herz. Ich folgte Mikesch bis zur Tür, die in den Stall führte, und streckte den Kopf um die Mauerecke. Herr Moberg und Jörn standen vor Hazels Box. Der Tierarzt war nicht zu sehen.

Plötzlich hörte ich Hazel angstvoll wiehern. Das war mehr, als ich im Augenblick ertragen konnte. Ich machte kehrt und rannte auf den Hofplatz.

Dort fiel mir plötzlich Kirsty ein. Ich hatte ja versprochen, ihr Jörn zu schicken, damit er sie zum Arzt nach Frasdorf fuhr. Doch daran war natürlich heute nicht zu denken; er hatte jetzt genug um die Ohren.

Ich ging zum Kavaliershäusl zurück und erklärte Kirsty kurz, was passiert war. Sie nickte nur. Dann griff sie zum Telefonhörer und ließ sich einen neuen Untersuchungstermin geben.

Ich setzte mich an den Küchentisch und sah aus dem Fenster. Über dem Tal begannen sich schon die Schwalben zu sammeln. Der Herbst stand vor der Tür.

Kirsty legte den Arm um meine Schultern und sagte:

„Das mit Hazel ist schlimm. Aber versuch, dich deswegen nicht verrückt zu machen, Nell. Wenn sie wirklich nicht wieder gesund wird, werden wir schon eine Lösung finden.“

Daß sie „wir“ gesagt hatte, tröstete mich. Ich wußte, daß ich auf ihre Hilfe zählen konnte, wenn es zum Schlimmsten kam. Allerdings hatte ich im Moment keine Ahnung, wie diese Hilfe aussehen sollte, und ob es überhaupt in meiner oder ihrer Macht stand, etwas für Hazel zu tun. Doch darüber mochte ich vorerst nicht weiter nachdenken.

Kirsty ging in ihr Zimmer, um sich aufs Bett zu legen. Ich überlegte, ob ich wieder nach Dreililien Zurückgehen sollte. Dabei merkte ich, daß ich jetzt lieber einige Zeit allein sein wollte.

Ich holte mein Tagebuch aus der Mansarde und setzte mich damit auf die Bank unter der Eiche. Herr Alois folgte mir. Seufzend ließ er sich neben meinen Füßen nieder.

Lange saß ich mit dem aufgeschlagenen Buch da, den Kugelschreiber in der Hand. Doch ich schrieb nicht. Ich hing meinen Gedanken nach, hörte das Summen der Bienen und Hummeln aus dem Vorgarten, atmete den Duft der Kletterrosen ein, den mir der Wind zutrug, und dachte daran, wie sehr sich mein Leben während des letzten halben Jahres verändert hatte. Noch bis zum Frühling hatte es außer meinem Vater und natürlich mir selbst kaum etwas gegeben, das mir besonders wichtig gewesen wäre. Jetzt aber gab es plötzlich eine ganze Menge Menschen und Tiere in meinem Leben, die mir etwas bedeuteten

Daß das so etwas wie ein Geschenk war, ein ganz besonderer Reichtum, wußte ich. Der Preis, den ich dafür zahlen mußte, waren der Schmerz und die Angst, wenn einem von diesen Menschen oder Tieren etwas zustieß. Das wurde mir erst jetzt durch Hazels Krankheit klar.

Als ich das begriff, wehrte ich mich nicht länger gegen meine Empfindungen. Der Klumpen in meiner Kehle löste sich. Ich begann aufzuschreiben, was geschehen war und was ich dazu fühlte, schrieb es mir in gewisser Weise von der Seele.

Nachdem ich in kurzer Zeit mehr als sechs Seiten gefüllt hatte, ging es mir besser. Es war inzwischen vier Uhr nachmittags. Auf Zehenspitzen schlich ich ins Haus und öffnete die Tür zu Kirstys Zimmer. Sie schlief noch.

Mit einem Mal hatte ich richtigen Heißhunger. Ich ging zum Kühlschrank und aß ein ganzes Stück Käse ohne Brot, dazu Oliven und hinterher eine halbe Wassermelone.

Noch immer mochte ich nicht nach Dreililien gehen. Ich spürte ein deutliches Widerstreben, wenn ich an den Stall mit der kranken Hazel dachte, an Mattys finsteres Gesicht, an Jörn, der wahrscheinlich seine unnahbare, undurchdringliche Miene aufgesetzt hatte, wie immer, wenn ihn etwas mehr traf, als er zugeben wollte.

Vielleicht war es feige von mir, aber ich mochte an diesem Nachmittag von all dem nichts mehr sehen und hören. Ich legte einen Zettel für Kirsty auf den Küchentisch, ging leise aus dem Haus, holte mein altes Fahrrad aus dem Schuppen und radelte nach Mariabrunn, zu Carmen.

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