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Unerklärlicher Abgang

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Nachdem ihr Herr Nachbar nun schon das zweite Mal die Hausreinigung nicht erledigt hatte, entschloss sie sich, bei ihm zu klingeln. Das tat sie sehr ungern, weil sie wusste, dass er sich nicht gern stören ließ. Nur am Anfang ihrer Nachbarschaft, das war jetzt mehr als zwanzig Jahre her, versuchte sie, mit ihm ins Gespräch zu kommen. Er war ein freundlicher Mann, grüßte stets zuerst, und sie glaubte, dass es eine gute Nachbarschaft werden würde. Sie lud ihn zu einem Café zu sich ein, zur Begrüßung, hatte sie ihm gesagt, aber er schlug die Einladung aus. Er hätte zu tun, ließ er sie wissen. Sie war damals frisch geschieden und auch er lebte allein, soweit sie sah. Sie hätte nichts dagegen gehabt, ihm auf eine bestimmte Weise näher zu kommen. Eine solche Einladung gab es natürlich nur einmal, denn zudringlich wollte sie nicht sein.

Aber auch später, als sie daran nicht mehr dachte, brachte sie diesen oder jenen Wunsch an, hoffte, dass sie ihn zum Befestigen ihrer Gardinen gewinnen konnte, aber er reagierte nicht, sondern erklärte ihr, dass er ganz und gar ungeschickt sei und zog nach diesem Geständnis die Tür schnell hinter sich zu. Nein, man konnte ihn nicht festhalten, er ließ sich nur zu Unverbindlichem bewegen.

Nun, sie unterließ ihre Gesprächsbemühungen schließlich, begnügte sich mit einem kurzen Gruß, wenn sie ihm auf der Treppe begegnete. Das war ohnehin selten genug.

Im Laufe der zwei Jahrzehnte, die sie jetzt schon Tür an Tür wohnten, gab es dann manchmal auch Frauen, die sie vor seiner Türe sah und sie hatte längst begriffen, dass er anderes suchte als sie und gab es auf, ihn ins Gespräch zu ziehen. Solange sie arbeitete, nahm er manchmal ein Paket für sie ab, das er ihr am Abend brachte. Aber er blieb dann an der Tür stehen, lehnte es ab, hineinzukommen. Er habe zu tun, hörte sie dann und sie wusste inzwischen, dass er dichtete, jeden Tag saß er an der Schreibmaschine und klapperte. Wenn sie ihren Fernseher nicht laufen hatte, konnte sie das Geräusch sogar hören. Ja, er schien fleißig zu sein. Von Frau Graupner, die unten im Parterre schon länger hier wohnte und früher das Hausbuch führte, erfuhr sie, dass er Ingenieur sei, in einem Betrieb in Oberschöneweide war er tätig. Damals trafen sie sich manchmal am Morgen an der Straßenbahnhaltestelle, denn auch sie fuhr in die gleiche Richtung. Sie wechselten Worte und Sätze miteinander, wünschten sich einen guten Arbeitstag. Irgendwann, erzählte er ihr, es wäre sein letzter Tag im Betrieb, worüber sie sehr staunte. Er war dann auch wirklich jeden Tag zu Hause, während sie des Morgens aus dem Haus ging.

Auf ihre Frage hin erklärte er, dass er jetzt freischaffend sei und sie wunderte sich, dass es in der DDR so etwas gab, dass er so einfach seinen Ingenieursberuf aufgeben konnte und trotzdem Geld verdiente. Ja, das verdiente er mit seinen Büchern, er schriebe Gedichte und an seinem dritten Roman, sagte er ihr da und lachte. So freimütig und vergnügt hatte sie ihn selten erlebt und sie nahm sich vor, ihn nach einem Buch zu fragen. Sie wollte lesen, was er schrieb, sie hatte nicht viel Zeit, ermüdete schnell, auch wenn sie fernsah am Abend, aber wenn sie etwas Spannendes fand, las sie es durch.

Später bat sie ihn noch einmal um ein Buch, und er gab es ihr bereitwillig. Aber die Lektüre fesselte sie nicht sehr, er schrieb von einem Ingenieur, dessen Frau sich von ihm trennte. Sie kannte solche Geschichten zur Genüge im wirklichen Leben, aber hier war alles so fern gerückt, dass sie sich die Beweggründe der Figuren nicht so recht vorstellen konnte. Es erschien alles wie in Watte gepackt, auch die Verhältnisse im Betrieb. Es bleibt alles so unbestimmt und ungreifbar, wie der Mann selber, dachte sie und gab ihm das Buch zurück.

Frauen sah sie schon lange nicht mehr an seiner Tür. Seitdem sie selbst Rentnerin ist und viel Zeit hat, überblickt sie schon ziemlich genau, wer in ihrem Haus aus- und eingeht. Und da ist ihr Nachbar, derjenige, zu dem ganz selten nur jemand will. Auch seine Tochter kommt nur alle Jubeljahre einmal, aber sie lebt wohl auch nicht hier in Berlin, sondern irgendwo anders. Er hat es einmal angedeutet, als sie über ihre Kinderlosigkeit sprach und dass es wohl kaum jemanden interessieren würde, wenn es sie nicht mehr gab. Das wäre bei ihm auch nicht anders, die Tochter weit weg und anderes vor, als ihn, den Vater, meinte er da und wandte sich ab. Es überraschte sie, wenn er so offen sprach, es kam so unerwartet für sie, weil er meistens ganz zugeknöpft schien.- Aber er hätte seine Erika, sagte er lachend und als sie nachfragte, erfuhr sie, es wäre seine Schreibmaschine.

Ja, die hat sie schon seit längerem nicht mehr klappern gehört.

Mit der Hausordnung war er immer sehr pünktlich gewesen, niemals versäumte er sie in all den Jahren. Er hat sogar die Liste gemacht, wer wann, womit, dran war und nun lag alles da. Dass er weggefahren war, konnte sie sich nicht vorstellen, denn das war schon seit Jahren nicht mehr passiert. Dazu habe er gar kein Geld, hatte er sie wissen lassen, als sie über Reisepläne sprach.

Und auch Frau Graupner vom Parterre hielt das für unmöglich, er sei ohne Einkommen seit Jahren, das hatte er ganz freimütig zugegeben. Es gäbe keinen Verlag mehr, der sich für seine Bücher interessierte. Er sei wirklich arm dran, nahm auch anstandslos die Polstermöbel, die sie ausrangierte und ihm anbot. Also geklingelt hatte sie nun schon zum zigsten Male. Es musste etwas passiert sein mit ihm, auch ans Telefon ging er nicht. Sie versuchten es abwechselnd. Nein, wo die Tochter zu erreichen sei, wusste sie nicht und auch sonst niemand im Hause wusste davon. Auch in der Wohnungsverwaltung war ihre Adresse nicht bekannt. Ja, die Miete wäre pünktlich gezahlt worden, das ginge vom Konto und das Wohngeld lief noch bis zur Jahresmitte, das war erst bewilligt worden. Dort fragte man sie, ob man einen Hausmeister schicken solle, der die Türe öffnet. Aber das wehrte sie ab, wollte die Sache noch einige Zeit beobachten. Aber irgendetwas war vorgefallen, davon war sie jetzt schon überzeugt. Einen Schlüssel hatte er nirgends im Hause hinterlegt.

Als auch bis zum Ende der laufenden Woche kein Laut von nebenan kam, rief sie am Montag wieder bei der Wohnungsverwaltung an und die schickten umgehend den Hausmeister mit dem großen Schlüsselbund.

Sie und noch zwei andere Bewohnerinnen standen hinter dem Mann, der die Türe öffnete. Der Schlüssel drehte sich leicht, aber die Tür ließ sich nur schwer öffnen, irgendetwas schien sich hinter dem Eingang zu türmen, es musste erst mühsam weggeschoben werden, damit man sie völlig öffnen konnte und hineinkam. Es waren Papierberge, die hinter der Tür gestapelt lagen und vor den Eingang gerutscht waren, so dass sie ihn ziemlich versperrten. Sie stiegen über die Papierberge, konnten nun einen Blick in die kleine Wohnung tun. Auch die beiden Zimmer waren mit Papier gefüllt, Berge davon stapelten sich auf dem Boden, lagen auf Schränken und Anrichte, auf Bett, Sofa und Stühlen. Nur ein kleines Plätzchen am Schreibtisch war frei, dort stand die Schreibmaschine, Marke Erika, ein altes Stück, staubbedeckt. Man konnte sich gar nicht vorstellen, wo denn der Mann schlief.

Von ihm selbst war keine Spur zu entdecken. Nichts wies darauf hin, dass hier noch vor kurzem jemand gelebt hatte. Kein Kleidungsstück, auch in der Küche keine Spur von gebrauchtem Geschirr. Nur überall Spinnengewebe, die sich von den Papierstapeln kreuz und quer bis zur Decke spannten, alle Räume gleichsam mit einem durchsichtigen Gespinst überzogen. Sie Fäden bildeten ein feines Gewölbe, das beinahe wie eine Höhle wirkte.

Es war ein irgendwie organisiertes Durcheinander, man konnte alles schnell überblicken und verstand doch nichts. Der Mann war jedenfalls nicht anwesend. Am meisten überraschte alle, dass das Fenster sperrangelweit offenstand. Da es noch sommerlich warm ist, war das niemandem aufgefallen, dort oben im dritten Stock. Es sah aus, als hätte sich der Bewohner irgendwie aus dem Fenster davon gemacht, denn es blieb unklar, wie er denn sonst aus der Wohnung entkommen konnte, da doch die Tür zugebaut war.

Aber vielleicht hatte man es hier mit einer raffinierten Inszenierung zu tun, ging es ihr durch den Kopf.

2003

Erzähltes Leben

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