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Denkwürdige Begebenheiten
ОглавлениеMitunter bin ich überrascht, welche denkwürdigen Begebenheiten mir ein einziger Tag zuträgt. Nachrichten über mehr oder weniger Katastrophales, Überraschendes, Besorgniserregendes, Banales, Gewöhnliches bringt uns das Fernsehen jeden Abend ins Haus, ohne, dass mir solche Mitteilungen mehr als ein Achselzucken abnötigen. Ohnmachtsgefühle, sonst nichts. - Die wirkliche Welt in der ich lebe, hier im westlichen Mitteleuropa ist wohltemperiert. Ich bewohne eine angenehm warme und helle Zweizimmerwohnung, nachmittags, wenn ich meine Spaziergänge am Spreeufer entlang mache, beobachte ich die Leute, die die Enten und Schwäne mit Brot füttern. Es ist sicherlich gut gemeint, aber ich wundere mich. Ist ihnen das mit dem Algenwachstum entgangen oder ist es ihnen gleichgültig?
Mitunter gibt es Ereignisse, die mich noch am folgenden Tag beschäftigen. Einen solchen Fall gab es gestern Abend, als Schumi, zusammen mit der ganzen Mannschaft der Formel I Staffel vom Pontifex maximus, Papst Johannes Paul, empfangen wurde. Ich mag diesen alten gebrechlichen Herren nicht nur als Vater aller Katholiken, zu denen auch ich gehöre, sondern als einen wackeren Kämpfer gegen den Antichrist. In vielem stehe ich ihm fern, aber dass er sich gegen den Krieg der USA im Irak ausgesprochen hat, steigert mein Zutrauen. Wie gesagt, eigentlich mag ich ihn, aber dass er einen von diesen Autorasern empfängt, die für keinen anderen Zweck, außer für den der nervenkitzelnden Unterhaltung und des profitablen Gewinns mit dem eigenen und dem Leben anderer spielen, verstehe ich nicht. Derlei Veranstaltungen sind für mich entfesselter Irrsinn, außer dem riesigen Geschäft, das mit diesem gemacht wird. Teufelswerk, sage ich laut vor mich hin, wenn ich beim Zappen zufällig solche Bilder sehe und im nächsten Moment werden sie in die Zuschauerreihen rasen, denke ich angstvoll. Aber wie jüngst verlautet, soll es sich dabei um Sport handeln, Charakterbildung erhofft sich der hohe Vater sogar.
Noch niemals fand ich, dass der Rollstuhl des Heiligen Vaters seine Würde verletzt. Aber gestern fühlte ich mich durch die übertragene Szene aus dem Vatikan doch etwas eigenartig berührt. Musste das sein, fragte ich mich, während seine Heiligkeit im Stuhl zur Tür hereingeschoben wird, und lächelnd auf das Modell eines rot lackierten blinkenden Ferrari zufährt, das ihm die Männer mitgebracht haben.
Vielleicht erhält der Heilige Vater Bezüge von Ferrari. Auch er sollte seine Geldquellen offenlegen, denke ich mir und suche nach anderen Bildern.
Bei einer Radspazierfahrt am Spreeufer begegne ich einem älteren Ehepaar, das ich seit vielen Jahren kenne. Sie haben sich verändert, sie sind grau geworden, wie ich auch. Ob sie sich noch an mich erinnern, mich wiedererkennen, weiß ich nicht.
Vor mehr als 40 Jahren war ich Kollegin der Frau, die damals wieder und wieder davon erzählte, dass sie mit ihrem Mann, auf der Hochzeit des Paares Erich und Margot Honecker, getanzt hat. Dieser Fakt wäre mir gewiss längst entfallen, wenn ich nicht am Vorabend eine Sendung über das berühmte Ehepaar gesehen hätte, der ihn mir wieder in Erinnerung brachte. Als ich das Paar von Ferne sehe, zögere ich einen Moment, ob ich sie ansprechen soll und fragen, wie es ihnen geht. Aber dann unterlasse ich es, fahre einfach an ihnen vorüber. Mir fiel noch zur rechten Zeit ein, dass sie beide vor zwanzig Jahren eines ihrer Kinder verloren hatten, ein Sohn hatte sich das Leben genommen. Damals wünschten sie keine Nachfrage und die Frau sprach zu niemandem über diesen Tod und wir fragten uns damals, wie sie denn fertig werden mit diesem Schlag.– Heute, wo für sie noch mehr zu betrauern ist, wird sie noch weniger auskunftsfreudig sein, vermutlich.
2005