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Ein Berliner Wintermärchen
ОглавлениеDie letzten milden Sonnentage brachte in diesem Jahr der November, der sonst für seine neblig kalten Tage und Nächte bekannt war. Durch die noch angenehmen Temperaturen ließ sich Frank Bär, der seit acht Jahren auf der Straße lebte, dazu verlocken, die Nächte noch im Freien zu verbringen. Nun war das Wetter plötzlich umgeschlagen und er würde den Park recht bald verlassen müssen, wollte er nicht auch den Winter hier zubringen. Dafür musste er alle Entschlusskraft mobilisieren, zu der er noch fähig war, denn für den Winter brauchte er ein warmes Plätzchen. Das war seine Maxime geworden, nachdem er es eine harte, lange Kälteperiode im Freien ausgehalten hatte.
Der Mann trug seine ganze Habe stets bei sich, alles in einem riesigen Rucksack verstaut, obenauf lagen zusammengerollt die Isomatte und der Schlafsack. In Hüfthöhe hing an einer Seite die Thermosflasche, aus der er ab und zu trank, während an der anderen Seite des Rucksackriemens eine eiserne Pfanne baumelte, Relikt aus den Zeiten seiner Hauswirtschaft, die er einst besessen hatte. Auf einem kleinen Feuer machte er sich darauf manchmal etwas Essbares warm. Er trug in jeder Hand eine der üblichen Tüten mit der Aufschrift eines Supermarktes, worin er die leeren Flaschen verstaute, die er aus den Containern und Mülleimern fischte, um sich das Pfandgeld auszahlen zu lassen. 3-4 Euro Erlös bekam er durchschnittlich zusammen, die mussten reichen, um über den Tag zu kommen. Manchmal besuchte er Bahnhofsmissionen, Einrichtungen der Berliner Tafel und andere segensreiche Verteilerstellen für die Armen der Stadt, die besonders in der vorweihnachtlichen Zeit Klamotten verschenkten, die die besser gestellten Berliner loswerden wollten. Ja, da kleidete er sich manchmal ein, aber die tagtäglichen Beköstigungsstätten mied er lieber, da gab es zwar auch manches umsonst, aber dort sah man ihn nur, wenn es gar nicht anders ging. Er wollte frei sein und autonom, er hatte eine ungebrochene Überzeugung von Menschenwürde und die verbot es ihm, nur einfach die Hand aufzuhalten. Er mied die Orte, wo er auf Elendsgestalten traf, ihr Anblick deprimierte ihn und ließ den Gedanken in sein Bewusstsein steigen, dass er ihnen ähnlich sei. Solche Ahnungen schob er fort, denn er wollte sich unterscheiden. Unverwechselbar fühlte er sich aber nur, wenn er mit sich selbst allein war oder sich unter ganz normalen Zeitgenossen bewegte. Sein Freiheitsgefühl entfaltete sich im Abstand zu den anderen, es brauchte die Distanz.
Beim Anblick aus der Ferne verschwand sein Kopf mit den langen grauen Zottelhaaren vor dem hoch getürmten Gepäck. Selten nur drehte sich ein Passant um, wenn er vorüber ging. Das registrierte Frank Bär mit gemischten Empfindungen, weil er sich schwer vorstellen konnte, welche Gedanken den anderen bewegten. Es fiel ihm nicht leicht, solche Blicke zu ignorieren. Aber glücklicherweise, fand er, beachteten die meisten Vorübergehenden ihn kaum, denn sie waren es gewohnt, in der Stadt sehr unterschiedlichen Gestalten zu begegnen.
Seit mehreren Jahren schon übernachtete er seit dem Frühjahr im Treptower Park in einem Baumhaus, das er sich aus Geäst, einigen Brettern und Pfählen zusammengebaut und mit Folien umgeben hatte. Einen Meter hoch über dem Erdboden hatte er eine Plattform gezimmert, auf der er seine Utensilien ausbreiten und sich hinlegen konnte. Dass er nicht auf dem Boden lag, gab ihm ein Gefühl von Sicherheit, denn er hatte es erlebt, dass des Nachts Wildschweine gekommen waren. Menschen verirrten sich nur sehr selten ins Dickicht, aber es war auch schon passiert, dass er seine Schlafstatt zerstört vorgefunden hatte.
So hoch oben verbrachte er nun schon mehrere Jahre die wärmere Jahreszeit. Im vorigen Jahr gab es schon im September die ersten Frostnächte und die erinnerten ihn daran, dass der Winter kommen würde und er schaffte es, sich darauf vorzubereiten, früher als in diesem Jahr. Auch jetzt plante er wieder warm über den Winter zu kommen, so wie es ihm in den letzten zwei Jahren geglückt war. Dazu musste er häufiger auf der S-Bahn sein, tagsüber und vor allem in den Abendstunden bis zum Betriebsschluss. Immer auf Fahrt, sonst wurde es für diesen Winter zu spät und er würde noch Weihnachten im Baumhaus schlafen müssen. Sicherlich, er konnte sich in einen warmen U-Bahn Schacht retten oder an einem der Bahnhöfe lauern, bis der Kältebus nach Seinesgleichen suchte. Der Fahrer lieferte sie dann in einer der Unterkünfte ab, die die Stadt für Stromer wie ihn eingerichtet hatte, denn Kältetote, das konnte sich die Hauptstadt nicht leisten, da schrie dann die Christenseele auf. Aber er ertrug es schlecht, sich auf diese Unterkünfte einzulassen, die vielen anderen, die dort waren, gingen ihm auf die Nerven, er war ein Desperado, er musste allein durch.
Ideal war seine Lösung für die Kälteperiode auch nicht, denn sie bedeutete die freiwillige Beschneidung seines Selbstseins. Aber es musste sein, da die Wahl, vor der er stand, die zwischen Pest und Cholera war. Die Alternative hieß entweder frei sein und frieren oder gefangen und versorgt sein. Da fiel die Entscheidung nicht schwer. Etwas von seinem Selbstwertgefühl blieb auf der Strecke, aber daran hatte er in den letzten Jahren ohnehin schon erhebliche Abstriche gemacht. Und andererseits war er auch ein bisschen stolz auf seine Idee, stellte sich manchmal vor, dass er sie sich patentieren lassen konnte. Aber wenn es in diesem Winter mit der Rundumversorgung noch klappen sollte, musste er schleunigst damit beginnen, Strecke zu machen. So nannte er es, wenn er täglich auf dem Ring oder auf sonstigen S-Bahnlinien unterwegs war. Von Oranienburg nach Teltow, von Birkenwerder nach Schönefeld, von Strausberg nach Spandau. Es war sein tägliches Kino, die ein- und aussteigenden Leute anzusehen, zuzuhören, wenn sie telefonierten. Das schien jetzt die neueste Seuche, dass jeder sich ein Handy ans Ohr hält und mehr oder weniger laut vor sich hin brabbelte. Manchmal hatte er das Gefühl, dass sein Gegenüber mit jemandem neben ihm telefonierte, aber dann schien das doch nicht zu stimmen, denn dann hätten sie sich wohl kaum darüber verständigt, auf welcher Station die Bahn gerade hielt. Andere Fahrgäste hatten kleine oder größere Hörmuscheln fest auf den Ohren, offensichtlich waren sie sehr schwerhörig. Denn die Musik tönte so laut, dass er, obwohl auch schon mit nachlassendem Gehör und einige Meter entfernt sitzend, mühelos mithören konnte. Mit verstohlenem Interesse beobachtete er auch die Bahngäste, wenn Verkäufer der Obdachlosenzeitung oder Musikanten den Waggon betraten. Die meisten Leute bekamen verlegene Mienen, schauten aus dem Fenster oder auf ihre Telefone. Bei Musikdarbietungen setzten einige beinahe angeekelte Gesichter auf, es soll schon zu Tätlichkeiten gekommen sein, weil sich Leute in ihrer Ruhe gestört fühlten. Nur einen Moment lang blickten die Leute auf, wenn jemand um eine Gabe bat, nachdem er zuvor mit Erzählungen über sein schweres Los, versucht hatte, sich Gehör zu verschaffen. Ganz selten nur, dass jemand ein Geldstück herausrückte. Frank Bär konnte die lieben Mitreisenden gut verstehen, wer fühlte sich schon bemüßigt grundlos fremden Leuten etwas zu geben. Es blieb auch unvorstellbar, dass hier jetzt jemand seine Geldbörse aus der Tasche zieht, sie öffnet und ein Geldstück herausnimmt, um es in ein rundes Gefäß zu tun Die hier saßen, waren zum großen Teil auch arme Schlucker. Nur in den U- und S-Bahnlinien, die durch westliche Gefilde fuhren, saßen manchmal mit Schmuck gehängte alte Damen, gut gestellte Witwen, aber die gaben auch nur selten etwas. Auf jeden Fall kann er sich nicht erinnern, einen solchen Fall erlebt zu haben.
Mit verstohlenen Blicken achtete er vor allem darauf, ob und wie die Leute auf ihn reagierten. Die meisten beachteten ihn nicht, wie er beruhigt feststellte, er fiel nicht aus dem Erscheinungsbild des normalen Berliners, stellte er fest. Denn seine Pfanne hatte er vorsorglich im Gestrüpp verborgen, wenn er Strecke machte. Aber natürlich gab es mitunter auch aufdringliche Blicke und zweimal wurde er angepflaumt, man titulierte ihn als Penner, worauf er fluchtartig den Waggon verlassen hatte.
Auch mit Kontrolleuren gab es mitunter Zusammenstöße und die waren nicht ohne Aufsehen abgegangen. Aber in diesem Jahr noch nicht. Im Gegenteil er wünschte sich, sie häufiger zu treffen. Erst zweimal hatten sie ihn herausgefischt und es schien ihm, als hatten sie in diesem Jahr weniger Kontrolleure eingesetzt. Vielleicht wurden die eingespart oder die S-Bahn hat wegen der häufigen Ausfälle ein schlechtes Gewissen und will die Fahrgäste schonen. Er denkt nicht, dass er sich darin irrt, sein Eindruck trügt ihn nicht, denn im vergangenen Herbst hatte er in kürzester Zeit seine Strafmandate zusammen. Und im Jahr zuvor war das auch besser, da konnte er sich schon ab Anfang Dezember sein warmes Plätzchen sichern. Einige Wochen musste er für die Verwaltungsvorgänge einplanen, das ging nicht so ganz schnell, aber dann kam das gerichtliche Urteil über die Summe, die er zu zahlen hatte. 800 Euro für zehn Schwarzfahrten und die Verwaltungsgebühr. Am Ende war es dann eine Summe von 1200 Euro, aber das blieb egal, wenn einer kein Geld hat und gar nichts zahlen kann. Er muss dann nur noch auf den Bescheid für den Termin des Strafantritts warten, der ihm bei Zahlungsunfähigkeit droht. Zwei Jahre lang hat das ausgezeichnet geklappt, er bezog sein warmes Plätzchen mit Rundumversorgung. Nur schade, dass man seinesgleichen keine Einzelzelle zubilligt. Aber mit den anderen konnte er sich einigermaßen arrangieren. Er war selbst erstaunt, dass das so gut ging, richtig gesellig waren sie miteinander. Nur in diesem Jahr will es nicht klappen, er bekommt seine Zettel einfach nicht zusammen. Unlängst geschah etwas, was ihm noch nicht passiert war. Ungeheuerliches! Es erwischten ihn zweimal dieselben Kontrolleure und als er ihnen seinen Ausweis hinhielt, sie seinen Namen lasen, fiel offenbar auf, dass sie ihn am Vormittag schon aufgeschrieben hatten. Da gab ihm der Mann wortlos den Ausweis zurück, schaute ihm ins Gesicht, schüttelte ein wenig traurig den Kopf und sagte ziemlich tonlos, ohne jeden Nachdruck in der Stimme: wir tun hier auch nur unseren Dienst! Dann wandten sich die beiden Männer ab und ließen ihn einfach stehen, ohne Strafzettel. Diese Nichtbeachtung schockierte ihn mehr als alles sonst und machte ihn ganz ratlos, denn er konnte sich ihnen gegenüber nicht erklären. Sie verweigerten ihm das Zuhören und er wusste nicht, wie er ihnen klarmachen sollte, dass er ihre Strafzettel sammelte, sie zum Überleben brauchte. Aber wie sollte er ihnen seine Lage beschreiben, ohne sie tief in ihrem Selbstverständnis zu verletzen, das möglicherweise ohnehin schon angekränkelt war. Vielleicht hatte man sie strikt angewiesen, die Zahl der Schwarzfahrer zu minimieren. Ob das möglich sein konnte, fragte er sich.
So stolz er auf seinen Einfall war, er hatte sich herumgesprochen, das wusste er. Und wahrscheinlich gehörte er schon zum Kreis der bekannten Bahnsünder und die Behörden wollten sich das aufwendige bürokratische Hin und Her ersparen. Gespart wurde ja an vielem, denkbar ist, die Unterbringungskosten für Moabit sind gekürzt worden. Und da würde es wohl in diesem Jahr zu den Weihnachtstagen mit Vollpension nichts werden.
Entstehende Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind rein zufällig.
2003