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Alle Tage wieder oder Nicht nur zur Weihnachtszeit

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©HeRaS Verlag, Rainer Schulz, Berlin 2020

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Layout Buchdeckel Rainer Schulz

Ganz langsam nur beim Erwachen kam sie heraus aus den Träumen der Nacht, die nun doch zu Ende war. Endlich ... Erleichterung durchflutete Körper und Seele, und die Sinne entspannten. Sie lag in ihrem Bett, bequem auf moderner Kernfedermatratze, mit Pferdehaar beschichteter Auflage, verstellbar und extra belüftet, so lautete das Angebot, bei dem sie sofort zugeschlagen hatte. Aber sie bereute das nicht. Warm unter der neuen Daunendecke lag sie, reckte die Glieder, gähnte erleichtert, rieb sich die Augen. Ein Traum nur, schoss es ihr durch den Sinn, grauenvoll aufdringlich, ein Alptraum, wahrhaft schrecklich. Sie würde ihren Gang ins KaDeWe heute nicht machen, trotz der interessanten Angebote, die es sicher gibt, denn solche nächtliche Heimsuchung wollte sie nicht wieder erleben. Kurze, wiederkehrende Bilder kannte sie schon, aber diese verflixte Nacht wollten sie einfach nicht weichen.

Da quollen nicht nur die Pullover, sondern auch die Unterwäsche, die schon gebrauchten Hemden und Höschen und die noch unberührten Garnituren aus den Schränken und ließen sich einfach nicht wieder in ihre Lage bringen. Die Fächer waren übervoll, was sie hineinstopfte, hüpfte wieder heraus, ihr entgegen, lag zu ihren Füßen und sie raffte es wieder und wieder zusammen, bis sie es endlich aufgab und die Wäsche unter das Bett schieben wollte. Aber auch das ging nicht, denn dort lagen Schuhe, die Absatzsandalen und die Pumps, die flachen Sportschuhe und die Mokassins, die halb hohen und die ganz hohen Stiefel. Sie lagen mit und ohne Kartons dort.

So viele Paare waren es gar nicht, denn einige der warmen Schuhe trug sie längst, seitdem es die winterlichen Temperaturen gab. Und denen hatte sie einen anderen Platz gegeben und so lagen dort gar nicht mehr so viele, wie ihr im Traum erschienen war.

So ratlos, wie heute Nacht, war sie auch bei der Wäsche nicht. Denn gestern erst hatte sie für die Wäschestapel Platz in den anderen Teilen ihres begehbaren Kleiderzimmers freigemacht.

Aber nächstens war dort nichts mehr unterzubringen. Ja, auch im großen Schrank ging alles drunter und drüber. Die Hosen, Kleider, Mäntel und Blusen rutschten von den Kleiderbügeln und lagen zusammengeknüllt auf dem Boden des Schrankes, obwohl alles ordentlich aufgehängt worden war. Die Türen sperrten, sie stand hilflos vor der Wand.

Dabei hatte sie vor Wochen schon die sommerlichen Sachen herausgenommen, die sie in diesem Jahr nicht mehr tragen würde, um sie auf dem Hängeboden zu verstauen, dessen beträchtliche Tiefe sie nur von der Leiter aus erreichte. Als sie oben stand, hatte sich zwar herausgestellt, dass es dort kaum noch Platz gab, denn es war nicht nur die Sommergarderobe vom letzten Jahr, die dort verstaut war, sondern die Jahreszeiten zuvor hatten ebenfalls ihre Spuren hinterlassen: Abgetragenes, Ungetragenes, Unberührtes fand sich dort. Außerdem traf sie auf die Tüten und Pakete der letzten Einkäufe von den Schnäppchenjagden des Sommerschlussverkaufs, bei denen man wirklich nur zugreifen konnte. Denn so preiswert wurde es nie wieder.

Auch die Sachen aus der Herbstsaison und aus den ersten winterlichen Angeboten dieses Jahres waren schon dabei. Die Tüten und Pakete hatte sie dort unauffällig hinauf gestellt, damit der Gatte nicht erst wieder Anstoß an ihren Neuerwerbungen nahm. Er musste schließlich nicht alles wissen und sehen. Einige Stücke würde sie dann ganz unauffällig einschmuggeln, nach und nach in die tägliche Garderobe einfließen lassen, staunende Nachfragen nach ihrer Herkunft mit selbstverständlichem Achselzucken beantworten. „Was die Jacke hast du noch nicht gesehen bei mir?“ würde sie ihn fragen.

Und da er sich nicht gern bei einer Unaufmerksamkeit ertappen ließ, würde er nicht weiter fragen, sondern sofort Ruhe geben. Und sie konnte dann noch ganz selbstverständlich hinzufügen, dass sie dieses oder jenes Stück schon vor längerer Zeit günstig erworben hatte. Ein Sonderangebot, preiswert und wirklich schön, sagte sie ihm dann und er stimmte zu und meinte, dass er seinem Mäuschen alles Schöne dieser Welt gönne.

Aber im Traum stellte er sie entschieden zur Rede, war gar nicht so geduldig, wie sie ihn kannte. Er schmiss ihr Kleidungsstücke an den Kopf, bis sie über und über unter ihnen begraben war und kaum Luft kriegte.

Und da muss sie einen Moment lang wach gewesen sein. Sie erinnert sich an einen tiefen Atemzug den sie tat, dann fiel sie schon wieder in quälende Dämme. In Wirklichkeit ging es ja meist glimpflich ab zwischen ihnen, nur selten, dass er sich aufregte. Er schien ihr dieses Vergnügen voll und ganz zu gönnen. Deshalb blieb es meistens entspannt zwischen ihnen, auch wenn er sie frisch erwischte. Sie lachten zusammen, wenn er sie eine generöse Verschwenderin nannte und sie ihn einen Einkaufsmuffel. Und als solcher wirke er sich nur als Konjunkturbremse aus, argumentierte sie dann, volkswirtschaftlich betrachtet, während sie den Konjunkturmotor mit anwerfen helfe, um sein ökonomisches Defizitverhalten auszugleichen. Am schnellsten konnte sie ihn beschwichtigen, wenn sie ihn davon überzeugte, dass die Dinge gar nicht für sie selbst bestimmt waren, sondern Weihnachtsgeschenke waren, für die Kinder, für die Enkel, die Nichten, die Neffen, die Cousinen und Cousins und deren weitverzweigten Nachwuchs. Kleinigkeiten alles nur, die sie ihnen zugedacht hatte. Nach einem kurzen Geplänkel in dieser Tonart, lachten sie wieder und alles war gut. Denn eigentlich interessierte es ihn nicht, warum sie so unersättlich war bei den Schuhen, Kleidern, Blusen, Wäschestücken und anderen schönen Dingen. Manchmal wunderte sie sich, dass ihn das alles so gar nicht zu interessieren schien. Er hielt sich zurück mit Fragen. Nur ganz selten wurde er unwirsch über ihre neuen Erwerbungen, z.B. über das Geschirr neulich hat er sich erregt, weil sie seine Bücher aus dem Regal geräumt hatte, um die neuen Tassen hineinzustellen. Da fing er an, ihr richtige Vorwürfe zu machen, fragte, wie sie es sich denn weiterhin vorstelle bei den Festkosten, die sämtlich in die Höhe kletterten, bei gleichbleibenden Einkünften. Rechnen müssten sie, ob ihr das klar sei, hatte er sie neulich gefragt und sie stimmte ihm zu und bestätigte eilig ihren Entschluss, nur noch Dinge zu kaufen, die sie wirklich notwendig hatten. Ja, das würde sich machen lassen, versicherte sie ihm.

In dieser Nacht hatte er ihr das Geschirr sogar vor die Füße geworfen, es krachte und schepperte, weil er die Stücke immer wieder aufhob und mit Nachdruck herunterwarf, ihr vor die Füße und sich gar nicht beruhigen konnte. Die betäubenden Geräusche des zerberstenden Geschirrs lagen ihr noch immer in den Ohren, es war fürchterlich.

Es war klar: zum KaDeWe würde sie heute nicht und überhaupt nur noch selten gehen können, obwohl ihr das Kaufen dort ein ganz eigenes Vergnügen bot, besonders jetzt vor Weihnachten, wo sich das Haus im Lichterglanz anheimelnder Dekoration und gemütvoller Musik präsentierte. Aber auch sonst: Einkauf als Selbsterfahrung, das war der Trip, auf dem sie sich in den Etagen des Einkaufspalastes bewegte. Sage mir, wo du einkaufst und ich sage Dir, wer du bist, darin war sie sich mit ihrer eleganten Freundin vollkommen einig. Nun die kaufte nur teure Markenwaren, lebte in der Welt der Schönen und Reichen, zu der sie nicht gehörte. Aber hier im KaDeWe gehörte sie doch irgendwie dazu, nahm sinnlich daran teil, ein bisschen wenigstens. Es war ein Genuss, hier bedient zu werden. Man kannte sie, die Verkäuferinnen nannten sie gnädige Frau, bemühten sich um sie, halfen Kleidungsstücke heranzuholen, die sie probierte, berieten bei der Auswahl, lobten ihren Geschmack und ihren Stil. Man behandelte sie als gute Kundin des Hauses, half beim Abtransport. Die Kassiererinnen telefonierten einen Boten herbei, der ihr die Hutschachtel und die Tüten zum Parkhaus brachte. Ja, man kannte sie und begrüßte sie mit Handschlag. Schade, dass sich das verlieren würde, wenn sie dort nicht mehr regelmäßig in Erscheinung trat. Aber das musste sie riskieren. Denn Schnäppchen gab es dort nur wenige, vielleicht gleich nach Weihnachten würde sie sich dorthin noch einmal aufmachen, aber dann musste das aufhören. Bei Kaufhof und Hertie fiel man dagegen gar nicht auf, wenn man auf den Wühltischen nach Angeboten suchte. Das hatte natürlich auch seine Reize. Man war sich und den anderen nichts schuldig, blieb unbemerkt und hatte das Gefühl, für wenig Geld viel zu bekommen. Man konnte in den Einkaufskorb legen, wonach einem immer der Sinn stand. Natürlich summierten sich auch die kleineren Preise, mit denen man es dort zu tun hatte. Auch hier würde sie aufpassen müssen.

Heute schon wird sie damit beginnen. Die Weihnachtsangebote, die ihr der Briefträger in den Kasten gesteckt hat, sind verlockend, aber sie wird auf der Hut sein müssen, bei den Preisen.

Das Ausräumen des Hängebodens musste nicht jetzt, nicht heute passieren, sie wird die Arbeit auf morgen vertagen und sich vorher blaue Säcke besorgen, in die sie stecken kann, was wirklich überflüssig ist, denn solche Nacht wollte sie nicht noch einmal erleben. Vor allem aber musste sie jetzt erst einmal die Küchenmaschine einpacken, die sie gestern gekauft hat, denn die ähnelte der, die sie schon hatten, aufs Haar. Aber sie würde das Gerät umtauschen, gegebenenfalls etwas anderes dafür nehmen, mal sehen, was im Angebot war, jetzt vor Weihnachten.

2006

Erzähltes Leben

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