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Wochenendfahrten nach Bayern
ОглавлениеEr war jetzt wirklich in Unruhe. Bald ein Jahr lang fuhr sie nun schon Wochenende für Wochenende nach Bayern, in dieses Kaff.
”Nicht jedes Wochenende”, beharrte sie, als er sie daraufhin ansprach. Anfangs hatte sie ihn sogar aufgefordert mitzukommen. Aber er wollte nicht, er musste montags pünktlich in seiner Behörde sein, war kein Pappenstiel dort die Arbeit, man musste ausgeschlafen sein und schließlich war er froh, dass man ihn übernommen hatte, in diese Senatseinrichtung, es war nicht selbstverständlich für einen Ostler dort zu arbeiten. Aber er war staatsfern gewesen, wie sie. Begonnen hatte es bei ihr damit, dass sie unbedingt aus der Museumsarbeit rauswollte. Bald nach der Wende! Sie hatte wohl auch zu wenig Ahnung von den Textilien historischer Zeiten, da hatten andere lange studiert und sie fühlte sich beargwöhnt, konnte nicht vertragen, dass man ihre Arbeit kritisierte, witterte Intrigen, sicher gab es auch Verdrängungskämpfe und da nahm sie die Abfindung. Wahrscheinlich hätte es die in einem Jahr nicht mehr gegeben. Damals war er ganz einverstanden mit ihrer Entscheidung, er wusste ja, dass sie immer schon Schwierigkeiten hatte mit den Leuten. In der DDR wurde man ja auch wirklich reglementiert und die Chefs waren alle wie ihre Eltern, ordnungsliebende Lehrer, denen sie nicht mehr gehorchen wollte. Dafür schloss sie sich an ihn an, er schien ihr mutig, unangepasst mit seinen langen Haaren. Das imponierte ihr damals. Er bekannte ihr nur anfangs, dass er so seine 165 Zentimeter größer machen musste. Sie liebte ihn, sie wurden ein inniglich Paar. Hab´ ich sie nicht immer gewähren lassen, sinnierte er, auch wenn sie sich manchmal anzog, wie es mir nicht gefiel. Sie unterstützt, als sie vor den Chefs in die Pförtnerloge flüchtete, damals. Hier machte sie nur manchmal Dienst. Auch das fand er nicht schlecht, denn sie hatten die Tochter, die versorgt sein müsste. Er half ihr mit durchs Fernstudium, aber sie entdeckte bald, dass es sie alles wenig anging. Dann die Museumsjahre, das war ihre beste Zeit, eine richtige schöne Nische. Vor allem während der Wende. Jetzt alles neu, nach eigenen Maßen, endlich frei! So gut hatte sie sich selten gefühlt.
Belastend die Zeit, als die Tochter mit bunten Haaren unterwegs war und erst einen Hund und dann ein Baby ins Haus brachte. Ihre Toleranz und Freizügigkeit, auf die sie sich etwas zugutehielten, wurde auf eine harte Probe gestellt. Er erkannte seine Birgit nicht wieder! Hin und her war sie gerissen, schwankte zwischen Aggressivität und Gleichgültigkeit. Manchmal rastete sie reinweg aus, konnte mit der Tochter überhaupt nicht mehr. Dann wieder zwang sie sich, mit ihr die spezielle Punkmode zu erörtern, in der die sich kleidete, verteidigte die sogar vor ihm. Fiel manchmal in Depression. Da verstand er schon, dass sie dem anderen Konfliktherd im Museum entgehen wollte. Sie wollte endlich tun, was sie wollte, frei sein dazu! Oh er verstand es, obwohl sie ihm nicht sagen konnte, was sie denn suchte. Dann fand sie ein Angebot, das sie sich leisten konnte, mit ihrer Abfindung in der Tasche. Eine neue berufliche Orientierung, psychotherapeutische Richtung, ja das hatte sie immer gewollt, versicherte sie ihm. Man konnte das abgefundene Geld dafür nehmen. Er verdiente genug, konnte noch die Tochter unterstützen, die jetzt unbedingt selbstständig sein wollte, ohne eigenes Geld freilich. Das stützte seine Stellung als Familienzentrum, bekam ihm nicht schlecht. Denn in Zeiten, wo es seiner Birgit gut ging, schaute sie auch schon mal nach großen Kerlen. Er sah es, auch wenn er schwieg. In der ersten Zeit ihrer psychologischen Studien brachte sie manches Neue ins Haus. Er las mit, hörte ihr zu, nicht alles leuchtete ihm ein. Aber er widersprach nicht, hatte keine guten Erfahrungen, wenn er durch Einspruch ihre Euphorie dämpfte. Er war froh, dass sie wieder etwas hatte, woran sie glaubte. Sie war jetzt auf dem Weg zu sich selbst! Nun, es würde keine staatliche Anerkennung der Ausbildung geben. Schade, fand er und sie fand es eben typisch für den Hochmut der studierten Schulmedizin und Psychologen. Auf Alternatives sahen sie immer mit Skepsis. In gewisser Weise wie in der DDR. Dort wussten die auch immer alles besser.
Jetzt würde sie ihren unverwechselbaren Weg gehen, zu ihrem Selbst, dem lange gesuchten. Sie war voller Zuversicht, fröhlich sogar. Mit unterschiedlichen Mitteln ging sie jetzt diese Innenpfade. Endlich, nicht mehr durch Außen geleitet und angepasst an irgendetwas, dass sie nicht betraf. Sie las dicke Bücher von Leuten, die diesen Weg schon gefunden hatten, aus Krisen herausgekommen waren, so. Ja, er wollte ihr helfen, Ruhe zu finden: ihre ureigenste Mitte. Von Qigong schwärmte sie dann: der Weg, um zu heilvoller Ganzheit zu finden, den körpereigenen Energieströmen Bewegungsfreiheit zu geben. Man lernte den Körper spüren, jeden Gliedabschnitt einzeln und dann wieder alles im Fluss und in der Bewegung. Ja, auch Rettich und Tee und Diät und Fasten waren nicht schlecht. Man nahm sich selbst wahr, bekam ein Gefühl für das eigene Gewicht, konnte so dieses Gefühl des Nichts und der Leere bekämpfen, dass sie manchmal heimsuchte. Jens verstand auch das, riet ihr zu solchen Ritualen, auch wenn er sie nicht immer ernst nehmen konnte. Ja, von dem chinesischen Lehrer sprach sie begeistert. Er hätte einen wunderbar geschmeidigen Körper und er könne durch Berühren dafür sorgen, dass sie den eigenen Körper dem Rhythmus der Musik anschmiegte, der ihr oft noch entglitt. Ein bisschen fernöstlich beseelt, vielleicht erleuchtet war nicht schlecht, dachte sich der Mann.
Dennoch wurde er die Unruhe nicht los. Nun, viel größer als er, war der wohl auch nicht, Jens hatte es gleich herausgehört. Große Männer waren immer eine Gefahr. Aber jetzt kam sie schleichend, auf Wegen, auf denen er seine Birgit lange begleitet hatte. Dort in Neufahrn, wo sie den Beginn des tibetanischen Kalenderjahres begingen, war der wahrscheinlich nicht der einzige Lehrer für asiatische Weisheiten. Wege zu Gleichmut, Gelassenheit, Harmonie würden ihr dort beigebracht werden. Es musste nicht der sein, den er längst in Augenschein genommen hatte. Es gab dort noch andere Meister, auch Asiaten konnten eine stattliche Länge erreichen. Auch, dass solche Wochenenden so teuer waren, ärgerte ihn. Aber das behielt er für sich. Er wollte von ihr nicht hören, dass er knauserig sei. Großzügig wollte sie leben. Er verstand es, aber langsam beunruhigte ihn, dass sie die Ausbildung seit einem Jahr unterbrochen hatte und offensichtlich gar nicht daran dachte, sie wieder aufzunehmen. Und das Geld schmolz, wie der Schnee in der Sonne, aber er hätte um keinen Preis mit ihr darüber reden können, ohne sich den Vorwurf einzuhandeln, dass er ein Spießer sei, immer auf Sicherheit aus. Sie schaute jetzt oft so verklärt, mit innerem Lächeln gleichsam und widmete ihrem inzwischen doch recht mageren Körper eine große Aufmerksamkeit. Das war neu, früher hatte sie ihn lieber versteckt. Jetzt brachte sie Stunden im Bad vor dem großen Spiegel zu. Sie schloss sich ein, aber er wusste es, er hatte ein Gefühl in den Jahren ihrer Ehe dafür entwickelt. Mit ihren fünfundvierzig Jahren ist sie nun endlich bei sich selbst angekommen, sagte sie ihm neulich, bevor sie die neue Diät begann.
Er kam mit seiner Unruhe an diesem Wochenende nicht zurecht. Musik hören, lesen, telefonieren, nichts half. Er erkundete den Fahrplan, versuchte aus ihren Andeutungen zu rekonstruieren, wann sie am Bahnhof sein würde. Er sah sie über den Bahnsteig kommen, aus sicherem Versteck. Sie kam mit einer Gruppe Frauen, in deren Mitte der Qigong Lehrer ging. Seine Sogkraft gab der Gruppe einen Mittelpunkt, der noch deutlich blieb, wenn das Gedränge auf dem Bahnsteig die Gestalt der Gruppe veränderte. Als Birgit ihn sah, schaute sie ganz fremd, wie aus weiter Ferne, dann schien sie ihren Mann zu erkennen.
2001