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Vertretbare Entsorgung. Eine Erwägung

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Es sind noch einige Jahre hin bis zur magischen 75. Aber wenn sie einfach darauf los lebte, Jahr um Jahr hintrieb auf diese Zahl, dann konnte es plötzlich zu spät sein zum Handeln. Die acht Jahre, die noch bleiben, sollte sie nutzen, sagte sie sich, um vorzusorgen, für den Fall der Fälle. Denn die Krankenkasse hatte gerade genug Ausgaben durch sie, mit der Operation des Hüftgelenkes im vergangenen Jahr, mit dem sie auch nicht besser laufen konnte, als mit dem alten. Ja, man hätte sich die Sache vielleicht doch sparen können, räumten die Operateure zaghaft ein. Aber die Kasse musste natürlich dennoch zahlen und meistens gingen diese Eingriffe ja auch erfolgreich ab, aber bei ihr war es eben die Ausnahme. Es war nicht ihre Schuld, aber es ist ihr peinlich, solche Kosten verursacht zu haben. Sie ist von bescheidener Wesensart, leicht kränkbar und schnell einzuschüchtern und sie findet, dass es nicht nötig ist, übermäßig lange zu leben, wozu auch und am Ende hatten die Kinder zu zahlen, wenn sie schließlich ein Pflegefall wird, wie ihre alte Tante, die 97 ist und nicht mehr wahrnimmt, was um sie herum vor sich geht.

Doch was ist zu tun?

Nur kurz dachte sie darüber nach, ob sie ihrem Sohn antragen sollte, einige ihrer entbehrlichen Organe im Internet zu annoncieren. Den Erlös wollte sie den Kindern für die zukünftige Rente zur Verfügung stellen. Aber schon die Andeutung eines solchen Vorhabens hatte das Kopfschütteln ihrer medizinisch gebildeten Tochter zur Folge, die zugleich auf die Illegalität solcher Angebote hinwies. Nun, strafbar wollte sie sich nicht machen, das war kein so guter Gedanke, sie musste ihre Festlegungen treffen, ohne die Kinder einzubeziehen. Die wollte sie nicht in moralische Bedrängnis bringen, denn noch war es öffentlich geächtet, mit der älteren Generation einfach kurzen Prozess zu machen. An eine stückweise Selbstentsorgung war nicht zu denken, sagte sie sich, es musste ein prompter Akt sein, präzise geplant, wirkungssicher. Mit 74 Schluss aus und Ende, denn sonst hatte sie vielleicht das statistische Durchschnittsalter der Frauen zu absolvieren, was nur die Krankenkassenkosten in die Höhe treiben würde. Die Abgaben seien inzwischen unerträglich, sagte neulich auch der Sohn, zwei Arbeitende haben einen Rentner durchzuschleppen. Als Bild bekommt sie diesen Fakt gar nicht in ihren Kopf. Sie stellt sich immer nur vor, wie zwei jüngere Menschen, die ihr nicht bekannt sind, ihr rechts und links unter die Arme greifen, während eine Schar weiß bekittelter Leute um sie herumsteht mit Spritzen und medizinischem Gerät.

Unerträglich schon das!

Vor eine S- oder U-Bahn sich zu werfen kommt nicht infrage, das erregte zu viel Aufmerksamkeit, der Schock für den Fahrer und die Verspätungen, nicht zu reden von denen, die sie bergen mussten. Das Ende musste sich in aller Stille vollziehen, sie wollte jede Demonstration vermeiden, leise wollte sie abtreten. Vielleicht konnte sie sich Barbiturate besorgen, die man in Honig aufgelöst, nehmen konnte, wie Arthur Koestler, der es satthatte, das Sterben aller einst so lebendigen Utopien weiterhin zu überleben.

Sie würde sich umsichtig eine Todesart suchen müssen, die vertretbar war: leise, ohne öffentliches Aufsehen, keine Folgerungen nahelegend, politisch und finanziell musste solches Ende eben Sinn machen, wie es heißt - es musste alles ganz selbstverständlich aussehen. Vertretbar eben.

2003

Erzähltes Leben

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