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Unadressierte Briefe

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Ganz zufällig sind die papiernen Hinterlassenschaften meiner Cousine bei mir gelandet. Einige Wochen nach ihrem Freitod gab mir die eine der mit der Wohnungsauflösung befassten Töchter eine grüne, kunstlederne Mappe mit dem Bemerken, ich solle mir den Inhalt ansehen, entscheiden, ob mich derlei interessieren könnte. Wenn nicht, solle ich das Ganze in den Container werfen, denn was soll werden mit dem ganzen Ramsch, fügte sie mit einer wegwerfenden Handbewegung hinzu. Flüchtig nur habe sie hineingeschaut in das Geschriebene, sie müsse in sechs Tagen die Wohnung übergeben und könne sich nicht aufhalten mit derlei Kram.-

Auch ich war nicht gerade beglückt über den unerwarteten Fund, brachte es aber aus Respekt vor meiner Cousine nicht fertig, die Annahme zu verweigern, galt ich doch in der Familie als die Schriftkundige, die sich für Geschriebenes, zumal aus vergangenen Zeiten interessierte.

Eine ganze Weile lag alles unberührt auf meinem Schreibtisch, bis ich eines Tages die Mappe öffnete und mir den Inhalt anschaute. Dazu waren mehrere Anläufe nötig, denn ich brachte nicht sofort die Geduld auf, mich in die Sache zu vertiefen. Alles erschien mir wirr und unzusammenhängend und mich beschlich das Gefühl, das alles nicht für andere, auch nicht für mich bestimmt war, sondern Zwiegespräche enthielt, die sie mit sich selbst geführt hatte. Aber warum hatte es meine sorgsame Cousine dann aufgehoben? fragte ich mich und vermutete, dass die Schriftstücke doch irgendwelche Nachrichten an die Nachwelt enthielten.

Vielleicht aber hatte sie die Mappe nur vergessen wegzuwerfen. Während ich blätterte, beschlich mich das Gefühl, dass ich scheitern würde, bei dem Versuch mir ein Bild zu machen, von dem, was meine Cousine bewegt hat, als sie ihre Gedanken notierte. Ich sagte mir, sicherlich wäre ich gut beraten, alles ad acta zu legen. Wahrscheinlich würde ohnehin niemand nach dem Verbleib des Hinterlassenen fragen und wenn, dann konnte ich die Achsel zucken und alles für unerheblich erklären.

Die Sache stellte sich nach erster Durchsicht für mich so dar, dass der Inhalt offensichtlich aus einzelnen Blättern bestand. Das ganz Konvolut enthielt beidseitig beschriebene DIN 4 Bögen, die engzeilig mit kleiner Schrift bedeckt waren. Das war allerdings nicht das Problem, denn die Handschrift meiner Cousine war mir nicht unvertraut. In früheren Jahren hatten wir uns manchmal Briefe geschrieben, als sie mit ihrem Mann, dem Offizier, häufig die Standorte wechselte und jedes Mal ihre Arbeit aufgeben und die Kinder umschulen lassen musste. Ihre Schrift zu entziffern war daher keine unüberwindliche Hürde für mich. Komplizierter war schon, dass nichts zusammen zu gehören schien. Denn es gab immer wieder eine Seite eins, viele Male auch die Seite zwei, allenfalls, dass die Zählung mal bis Seite drei kam. Es sah so aus, als hätte es die Verfasserin nicht fertiggebracht, ihre Gedanken fortlaufend aufs Papier zu bringen. Was sie mitteilen wollte, interessierte mich schon, war sie doch eine Generationsgefährtin von mir und sie hatte zudem in so entschiedener Weise ihrem Leben das Ende gesetzt, wie ich es mir auch immer vorstellte, aber nicht sicher war, ob ich es denn fertigbringen würde, wenn es so weit war. Schon die Entscheidung darüber, wann es denn so weit sein würde, stellte sich mir als ein unlösbares Problem dar.

Sie hatte ihren Zeitpunkt gewählt und gewusst und die ganze Familie informiert, weil sie uns vorbereiten wollte, auf das, was zu regeln war. Von dieser Mappe hier und ihrem Inhalt hatte sie allerdings nicht gesprochen. Nur vom Geld und wie es aufgeteilt werden sollte, von den Büchern und Bildern, die sich im Laufe ihres Lebens angesammelt hatten.

Der Gedanke, ob die Erben denn auch erben wollten, was sie ihnen zugedacht hatte, bewegte sie dabei offensichtlich nicht. Schon bei der Testamentseröffnung, die sie selbst vornahm, stellte sich heraus, dass nicht alle zufrieden waren mit ihrem Anteil. Die beiden Töchter erwarteten den Ausschluss des Bruders, weil der sich seit Jahren nicht mehr gemeldet hatte. Stattdessen verteilte meine Cousine das Geld nicht nur zwischen ihren drei Kindern, sondern bedachte auch eheliche und nichteheliche Enkel mit Geldzuwendungen. Das schien den beiden anwesenden Töchtern gar nicht zu gefallen, sie wollten denen lediglich vom Hausrat und von den Büchern einiges zukommen lassen. Aber sie hielten sich mit Widerspruch zurück an jenem heißen Nachmittag.-

Ich habe die Situation genau vor Augen, die sich um den großen Wohnzimmertisch herum abspielte. Wir saßen beklommen und hörten meiner Cousine zu, die ihre fortschreitende Krankheit als Motiv ihres Entschlusses angab. Sie sprach nicht das erste Mal davon und von der Angst, dass sie als Pflegebedürftige ihre Ersparnisse aufbrauchen müsste und schließlich nur noch die Nachkommenschaft belastete. Mit warmen Händen wollte sie geben, wozu die Töchter mit dem Kopf nickten, nach kurzem Blickkontakt, während die jungen Leute nur vor sich auf die Tischplatte schauten und nicht erkennen ließen, was in ihnen vor sich ging. Nur meine Cousine schaute in die Runde, unbefangen. Als sich unsere Blicke begegneten, dachte ich, der entgeht nichts.

Während mir die Situation jenes Augusttages vor Augen steht, - wir saßen im geschlossenen Wohnzimmer, weil es draußen heißer noch war als in der Wohnung mit den großen Kastanien vor dem Fenster, nur eine große Fliege flog unter an- und abschwellendem Brummen durch den Raum -, entdecke ich auf den Seiten, die sie mit eins gekennzeichnet hat, eine Datumsangabe. Das scheint mir ein Hinweis auf doch vorhandene Ordnungsgesichtspunkte, von denen ich mir vorstellen kann, mit ihrer Hilfe eine Schneise ins ungeordnete Material zu schlagen. Im Hinterkopf habe ich einzelne Brocken von den Gesprächen danach, die noch kurz aufflammten über die Verteilung des Erbes als wir uns verabschiedeten vor dem Haus, bevor alle in verschiedene Richtungen gingen.

Jetzt versuche ich die Seite zu finden, die sich an die erste Seite anschließt. Dazu lege ich alle ersten Seiten auf den Boden meines Zimmers, weil mein Schreibtisch dazu nicht ausreicht, hocke inmitten das Papierhaufens und finde tatsächlich nach einigem Bemühen mehrere Seiten mit der Nummer zwei, die das fortsetzen, was auf der Seite eins steht.

Dann drängt sich mir der Eindruck auf, dass sie das Geschriebene doch an Menschen gerichtet haben muss, deren Namen allerdings nicht genannt sind. Es sind offensichtlich verschiedene Adressaten, denn manchmal gebraucht sie als Anrede das vertraute Du, manchmal das Sie und bisweilen nutzt sie sogar den Plural. Offensichtlich hat sie an viele geschrieben. Wahrscheinlich denke ich mir, sind es Entwürfe für Briefe, die ihre Adressaten doch in dieser oder in einer etwas anderen Form erreicht haben. Aber dann erscheint mir diese Annahme abwegig, weil ich mir schwer vorzustellen vermag, dass meine Cousine sich in solcher Weise an andere gewendet hat und ich denke, dass die Briefe niemals abgeschickt wurden.

Ein Teil der Auslassungen scheinen mir Bruchstücke von kritischen Stellungnahmen zum Zeitgeschehen. Offensichtlich hatte sie das Bedürfnis ihre Meinung mitzuteilen, ja, sich einzumischen, irgendwie und folgte damit einem Impuls, der ihr vermutlich aus DDR Zeiten geblieben war und den sie einfach nicht abstellen konnte, und der nun weiterlief.

Andere Schriftstücke sind von einer Art, die mich von meiner ruhigen Cousine überraschen. Sie spricht ohne Zurückhaltung und Scham, bricht dann ganz plötzlich ab, als wäre ihr der Schreck in die Glieder gefahren vor der eigenen Spontaneität. Über drei Seiten ist sie dabei niemals hinausgekommen, es gibt Blätter, auf denen nur wenige Zeilen stehen, manchmal auch bricht sie mitten im Satz ab.

Aus einigen Briefentwürfen meine ich auf den möglichen Empfänger schließen zu können, sicher bin ich dabei allerdings nicht. Bei anderen habe ich lediglich Vermutungen, an wen sie ihre Ansprache richten wollte, aber es gibt auch welche, bei denen ich völlig im Dunkeln tappe und nur vage Ahnungen habe.

Festzustehen scheint mir, dass die Schriftstücke aus den letzten 10 Jahren stammen, wohl der Zeit, seitdem der Ehemann ihr abhandengekommen war. Bei einem Brief stellt sich mir der Eindruck her, dass er an ihn gerichtet war, obwohl er, der Datumsangabe nach, zu diesem Zeitpunkt schon nicht mehr bei ihr lebte. Sie hatte sein plötzliches Verschwinden niemals begreifen können, es kam völlig überraschend für sie, da er gerade begonnen hatte, aus seiner sprachlosen Lethargie herauszufinden, in die er nach dem Einholen der DDR Fahne gefallen war. Ein Jahr lang saß er und stierte nur vor sich hin, schwieg und trank und stellte Feldübungen nach, drohte dem Suff zu erliegen. - Sie sprach damals durchaus offen darüber, dass sein Tod eine Erlösung für sie wäre. Dann begann er sich wieder für Dinge um ihn herum zu interessieren, suchte sogar eine Beschäftigung, um die dürftige Rente aufzubessern. Sie war voller Hoffnung damals, machte Pläne. Bis er an einem Tag wegging und nicht wiederkam, ganz überraschend. Und sie lebte zwischen Verzweiflung und Erwartung und versank schließlich in diesen angespannten Wartezustand.

Irgendwann schien sie sich ins Unvermeidliche zu schicken, ließ auch mich damals wissen, dass sie seinen Weggang als seine Entscheidung akzeptieren würde. Sie schien mir fortan ruhiger, aber ihre Aufzeichnungen lassen erkennen, dass sie nicht abgeschlossen hatte mit dem Kapitel. Sie sagt ihm hier das, was sie ihm durch seinen schnellen Abgang nicht mehr sagen konnte oder wohl auch nicht sagen wollte. Sie rechnet mit seinem Egoismus und seiner Anmaßung ab und ihrer eigenen Schwäche. Sie führt Anklagen gegen sein Regimentsregime in der Familie, gegen das sie oft gewettert hat, früher. Aber sie sucht auch nach dem Moment in ihrer Ehe, in dem die Weichen in eine falsche Richtung gestellt worden waren. Offensichtlich findet sie ihn nicht, denn sie bricht auch hier einfach ab. Später, nach seinem Weggang, ruft sie nach ihm. Sie sucht nach dem Mann, den sie auch gekannt hat.

„Aber wir haben einander nicht helfen können!“ Dieser Satz steht ganz allein auf einem Blatt und ich frage mich, ob er zu ihrer Ehegeschichte gehört oder zu den Bruchstücken von Texten mit denen sie sich offensichtlich an verschiedene Freundinnen wenden wollte. Aber auch hier ist nichts vollendet, es bleibt unklar, welcher Gedanke an wen gerichtet werden sollte. Dann gibt es ein Blatt auf dem ein Gedicht steht. Aber wahrscheinlich sind die vier Zeilen nur eine Strophe eines Gedichts, in der vom August und der Einsamkeit die Rede ist, dazu ihr prosaisches Bemerken darüber, dass alle Menschen, die sie kennt, im Urlaub sind, oder gerade erst zurück oder mit der nächsten Reisevorbereitung befasst.

Verschiedene Anläufe gibt es, in denen sie sich an den älteren, den verschollenen Sohn wendet, dem der Vater die Rolle des Fahnenjunkers zugedacht hatte, wie sie es ausdrückt. Sie sucht ihm den Vater zu erklären und beschreibt ihre Rolle zwischen ihm, dem Regimentskommandanten, und den Kindern. Dabei ist sie um das Verständnis des Sohnes bemüht, räumt ihren Schuldanteil an seinem Lebenslos ein und beschwört ihn, sich nicht zu verweigern, ihr ein Lebenszeichen zukommen zu lassen. Mit Erstaunen registriere ich die Tatsache, wie sie um ihn wirbt, keine Vorhaltungen über seine Unverschämtheiten, zu denen er sich nach dem Weggang des Vaters hinreißen ließ, kein Wort der Klage darüber, dass er sie als Schuldige für sein verpfuschtes Leben ausgemacht hat. Ich bin überrascht, zu erleben, wie meine selbstbewusste Cousine sich klein macht, um dem Sohn nahe zu kommen. Überquellend von Verständnis gleichsam, sucht sie offensichtlich eine Brücke. Niemals hätte ich mir vorstellen können, dass sie unter der Abwesenheit dieses Sohnes so leiden würde, der mir immer als ein ziemlich egoistischer und rücksichtsloser Bengel erschienen war, nicht weit ab von der Art des Vaters, übrigens. Meine Cousine hatte durchaus ihr Urteil, wenn sie über ihn sprach. Aber offensichtlich sah sie in ihm noch immer den Jungen mit dem wirren Lockenkopf und diesem pfiffigen Lächeln, der wirklich ganz reizend war und zu allen Hoffnungen Anlass gab, damals. Mehrfache Anläufe gibt es auch zu Briefen an die Töchter, wobei mir nicht klar ist, an welche sie sich wendet in jedem Fall.

Ich überlege, ob ich denen die Schriftstücke ihrer Mutter zukommen lasse, aber ich denke, die sind mit der Auflösung der Wohnung schon so gefordert, dass sie keine Aufmerksamkeit für Notate aus dem mütterlichen Nachlass aufbringen werden. Wozu auch, sie sind mit ihren eigenen Sorgen befasst. Auch an den Sohn werde ich mich nicht wenden. Ich werde alles in der grünen Mappe belassen und abwarten, ob jemand nach dem Inhalt fragt.

Wahrscheinlich bin ich die einzige, die die Hinterlassenschaft meiner Cousine noch eine Weile beschäftigen wird.

2005

Erzähltes Leben

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