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Fortgesetztes Missbehagen
ОглавлениеNiemals hätte er sich vorstellen können, dass sie sich unter solchen Bedingungen wiedersehen würden.
Ausgerechnet in diesem noblen Speiselokal mussten sie sich treffen. Er kam ja auch nicht aller Tage hier her, nur bei besonderen Anlässen, die in letzter Zeit nicht so ganz selten waren. Immerhin, seitdem er für dieses fundamentale Ästhetik-Projekt verantwortlich war, ansehnliche Bezüge ihm zuflossen, neben der Rente, leistete er sich das schon öfter mal. Heute waren es die Vertreter des großen Verlagshauses mit denen er zu konferieren hatte und dafür sollte es schon ein entsprechendes Ambiente sein, um die Herren einzustimmen auf die nicht unerheblichen Kosten, die auf den Verlag zukommen würden mit dem Druck ihres Großprojekts.
Man begann eben mit dem Hauptgang: Kaninchenbraten mit Kroketten und feinen Butterschoten, da sah er die Gruppe schon in der Mitte des Speisesaals von Borchardt. Sie fielen natürlich sofort auf hier und aus dem Rahmen der gediegenen Atmosphäre, die hier herrschte. Etwas abgerissen alle, Plakate in der Hand vor Bauch und Brust haltend auf denen sie ihren Protest gegen Hartz IV bekundeten. Und da schaute er ihm direkt in die Augen, Dieter, der Genosse Freund aus verflossenen Jahren. Der fiel doch gar nicht mehr unter ALG II, der musste doch schon Rente haben, schoss es ihm sofort durch den Sinn. Vielleicht hat er Strafrente, könnte sein, sie hatten sich nie mehr verständigt darüber, wie es ihnen ging. Jahrzehnte hindurch hatten sie bei Diskussionen in der Forschungsgruppe zusammengesessen und an den Montagen in Parteiversammlungen regelmäßig, aber das war lange her. Und jetzt begegnete man sich so wieder! Es gab ein kurzes Duell mit den Augen, diesen Blick kannte er, den hatte der Freund immer, wenn sie Dispute hatten, nicht übereinstimmten in fundamentalen Fragen der Ästhetik. Funktion, Rezeption alles Begriffe, mit denen sie damals umgingen, jonglierten und natürlich unterschiedlich interpretierten. Aber dem weltrevolutionären Prozess fühlten sie sich beide gleichermaßen verpflichtet!
Er hatte ihn unter den anderen sofort entdeckt. Selbstverständlich, das kurze Duell mit den Augen und es gab sofort das Erkennen auf beiden Seiten. Wut sprühte auch jetzt in diesem Blick, den er so gut kannte. Damals war das und sie haben sich selten gesehen, seitdem.
Bei den Demonstrationen und Kundgebungen im Herbst 89 waren sie noch Seite an Seite gegangen, aber als das Institut abgewickelt wurde, seit mehr als zehn Jahren vorbei alles, begann die Fremdheit zwischen ihnen. Er verstand seinen alten Freund Dieter durchaus, wenn der sich erregte über die Modalitäten der Evaluation, der sie unterworfen wurden als Wissenschaftler. Manche hatten allerdings auch dabei Glück, waren bei den Blockflöten oder parteilos, aber sein Freund war nun gerade der letzte Parteisekretär der Grundorganisation der sozialistisch vereinigten Partei am Institut gewesen und die Letzten beißen bekanntlich die Hunde und da konnte der ihm schon leidtun, denn er war ein ehrlicher Kerl, Überzeugungstäter wie er selbst, aber er hat eben schneller die Kurve gekriegt, verstanden, sich unentbehrlich zu machen.
Kurze Zeit war der Mann wohl noch an der Uni, aber dann flog er, wegen irgendeiner Stasi-Akte und er hatte einfach seine Spur des Mannes verloren. Obwohl das nicht seine Absicht war, denn sie waren fast Freunde, wenn es auch diese Meinungsverschiedenheiten zwischen ihnen gab und ein bisschen Kampf auch immer. Ja, warum war ihm Dieter eigentlich abhandengekommen, fragte er sich. Es hing wohl damit zusammen, dass der ihm den Vertrag im Forschungszentrum neidete. Das war jedenfalls sein Empfinden, als sie sich zufällig über den Weg liefen und Dieter von der ABM-Maßnahme sprach, der schlecht bezahlten, die er in Aussicht hatte.
Der kurze Blickkontakt hatte genügt, um sich zu erkennen. Karl-Heinz fürchtete immer ein bisschen diesen Blick, die Momente, in denen die Augen ganz starr werden konnten und eine aufsteigende Wut ankündigten. Die brach allerdings nur selten aus. Jetzt wandte sich der andere dem hinter ihnen stehenden Tisch zu, setzte sich auf den freien Stuhl mit der rot gepolsterten Sitzfläche und griff dem neben ihm sitzenden Gast auf den Teller. Es sah aus, als würde er dem nach der Fleischkeule greifen. Dann wurde Karl Heinz abgelenkt, denn auf dem leeren Stuhl an seiner Seite ließ sich ein anderer von den Gesellen nieder und versuchte sich vom Teller des Verlagsmenschen zu bedienen. Einige der Protestierer, die noch als Gruppe zusammenstanden, griffen sich Weinflaschen von den Tischen rechts und links und setzten den Hals an die Münder und tranken. Karl Heinz war so perplex, dass er gar nicht reagieren konnte, die Peinlichkeit kam erst etwas verzögert. Er wusste nicht, wie er den Herren vom Verlag diesen Auftritt von diesen Rüpeln hier erklären konnte, aber die meinten solche Dinge hätten sie woanders auch schon erlebt. Solche Sicherheitslücken, würde die Geschäftsleitung schon sehr bald zu schließen verstehen.
Inzwischen waren schwarz befrackte Kellner herbeigeeilt und versuchten die Störenfriede von den Tischen zu drängen, aber die gingen nicht, sondern lieferten sich ein Handgemenge mit den Kellnern und den Gästen, von denen sich jetzt ebenfalls einige erhoben hatten und ihrer Entrüstung über die unglaubliche Flegelei Ausdruck verliehen.
Minuten später kamen Polizisten ins Lokal und führten die Protestierer mit auf dem Rücken verdrehten Armen aus dem holzgetäfelten Saal. Der Geschäftsführer, der inzwischen herbeigeeilt war, hielt die Kellner an, sich um die Gäste zu bemühen und beförderte eigenhändig die liegengebliebenen Plakate auf die Straße.
Karl Heinz verlangte umgehend die Rechnung. Erleichtert sah er, wie sich der Kellner um einen seiner Gesprächspartner bemühte, ihm einen Fleck aus der Anzugsjacke rieb, der möglicherweise bei dem Handgemenge entstanden war.
Dem Geschäftsführer gegenüber versicherte er, von einer Strafanzeige gegen die Herren Ruhestörer abzusehen.
Das stieß auf das völlige Unverständnis der Kellner, die am meisten in die Sache verwickelt worden waren.
1999/2005