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Damals im Neptun

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„Ich kenne sie alle“, diese Behauptung bildete den wiederkehrenden Tenor des Gesprächs, in dem mir meine Freundin das erste Mal von ihrer Tätigkeit im Hotel Neptun in Warnemünde berichtet hat.

Wir kannten uns seit der Studienzeit, hatten beide an der Rostocker Universität Germanistik studiert, daneben beschäftigte ich mich mit Kunstgeschichte, während sie sich im Nebenfach der Nordistik widmete. Sie sprach fließend dänisch und konnte sich mühelos auch mit den anderen Nordländern verständigen. Nach Abschluss des Studiums gehörte sie dem Komitee an, das sich mit der Vorbereitung der Ostseewoche beschäftigte, die in jedem Sommer veranstaltet wurde. Meine Freundin organisierte und korrespondierte, dolmetschte und betreute die Gäste. Es machte ihr Spaß.

Seit ich in Berlin als Redakteurin arbeitete, wurde unsere Beziehung lockerer, wir sahen uns seltener, verloren uns aber nicht aus den Augen. Anlässlich einer Konferenz, die das Institut veranstaltete, an dem wir studiert hatten, traf ich sie wieder. Wir liefen uns zufällig im Hotel Warnow über den Weg, freuten uns über die unverhoffte Begegnung und verabredeten ein Treffen für den nächsten Tag, an dem die Konferenz gegen Mittag zu Ende gehen sollte. Marlene schlug als Treffpunkt das Neptun in Warnemünde vor, dort bin ich jetzt sowieso meistens, sagte sie und lachte mich an. Ja? fragte ich und wunderte mich, dass sie ihre Arbeit so ganz nahe am Ostseestand verrichten konnte.

Am nächsten Tag wartete sie auf mich in der Hotel-Bar und schlug sofort einen Spaziergang vor. Ich war sehr einverstanden, die Konferenztage saßen mir in den steifen Gliedern und ich brauchte frische Luft. Ja, sie wäre jetzt meistens hier tätig, sagte sie und ich stutzte. „Bist Du nicht mehr beim Komitee für die Ostseewochen“? fragte ich. Offiziell bin ich beim Kulturbund, antwortete sie, aber über ihre Aufgaben könne sie mir im Einzelnen nichts erzählen, sie sei Geheimnisträgerin und arbeite jetzt im besonderen Auftrag, alles sei hoch konspirativ. Schon, dass sie mir das erzähle, sei ein Zeichen, wie sie mir vertraue, aber genauer könne sie nicht werden, mir im Detail nicht sagen, womit sie beschäftigt sei. Auf jeden Fall sei alles sehr interessant, sie käme mit vielen Menschen in Kontakt, die sie unter anderen Umständen niemals kennengelernt hätte. „Ich kenne sie alle“, fügte sie lachend hinzu. Und dann erst ließ sie mich wissen, ja, sie deklarierte es fast, dass es ihr eine innere Genugtuung gäbe, so ganz nahe an der Zeitgeschichte agieren zu können. Alles wäre gefordert von ihr, Einfallsreichtum und Intelligenz, Überzeugungskraft und Charme, ja auch ihr Abenteuersinn käme auf seine Kosten. Sich ganz und gar der großen Sache verschreiben, ja, das habe sie gewollt und dabei immer an große Vorbilder gedacht, die es ja auch in diesem Metier gäbe.

Dieses Gespräch kam mir erst Jahre später wieder in den Sinn, als ich davon hörte, dass die Rostocker Bürgerrechtler ihre Stasi-Behörde im Dezember 1989 gestürmt hatten, um zu verhindern, dass die bisherigen Sachwalter Unterlagen vernichteten. Beteiligt an dieser Aktion war auch Oliver, ein früherer Studienfreund von uns beiden, der mir damals über die Sache berichtete. Der hatte bei dem ganzen Durcheinander, während der Besetzung des Gebäudes, einige herumliegende Materialien in die Hand bekommen und plötzlich den Namen unserer Studienkameradin entdeckt. Das hat er mir gegenüber damals erwähnt, ohne genauer auf Einzelheiten einzugehen.

Auf mich kam die ganze Angelegenheit erst wieder nach dem Tod unseres Studienfreundes, der so ganz plötzlich verstorben war, nachdem er für sich und seine Frau ein schönes zweckmäßiges Haus in Nienhagen hatte bauen lassen. Als er es einweihte, wunderten sich alte Freunde, dass das Paar über Mittel für einen Hausbau verfügte, aber man gönnte es den beiden, weil sie sich bisher nur mühsam mit ihren vier Kindern über die Runde gebracht hatten. Er erklärte den Geldsegen als Folge einer unvorhergesehenen Erbschaft, die über sie wie ein warmer Regen gekommen sei. Leider konnte er sich an dem neuen Haus nicht lange erfreuen, er starb nach kurzer Krankheit und die Frau zog wieder in die Stadt, als sie so plötzlich alleinstand.

Einige Wochen nach seiner Beerdigung stattete ich ihr einen Besuch ab. Seine Witwe übergab mir als Freundin des Hauses einen Kasten voller beschriebenen Papiers. Es sei der Wunsch ihres Mannes gewesen, ich solle mich um seine hinterlassenen Manuskripte kümmern. Er hat sich noch zuletzt gewünscht, sagte mir die Frau, dass jemand die Aufzeichnungen in einen Zustand bringen möge, der es erlaubte, sie zu veröffentlichen. Und dabei hätte er meinen Namen genannt. Der Holzkasten stand einige Zeit bei mir herum, ohne, dass ich ihn anrührte. Irgendwann nahm ich einen Stoß Papier heraus und blätterte in den Seiten, ich wollte erst einmal feststellen, welchen Charakter das Hinterlassene hat. Ergab das Geschriebene einen fortlaufenden Zusammenhang oder waren es nur einzelne Notizen? fragte ich mich und wollte wissen, womit ich es zu tun hatte. Waren es Tagebuchaufzeichnungen, Erfundenes oder was sonst?

Das Herumblättern und Lesen weckte mein Interesse für das, was mir anvertraut worden war. Zwar hatte Oliver manchmal seine Schreibversuche erwähnt, aber definitive Aussagen über das, was ihn beschäftigte, waren von ihm nicht zu bekommen. Beim Durchsehen seiner Manuskriptblätter, alle mit PC geschrieben, fielen mir etwas kleinere Seiten in die Hand. Erst glaubte ich, es handele sich um seine handschriftlichen Notizen, erkannte dann aber, die Aufzeichnungen stammten nicht von ihm. Ich wunderte mich, wie fremde Schriftsätze zwischen seine Papiere gekommen waren und merkte dann erst, es handelte sich um Geschriebenes von Marlene, unserer gemeinsamen Studienfreundin. Es waren einzelne Blätter mit Notierungen, einige mit Datumsangabe, Seiten eines Tagebuchs wahrscheinlich. Sie schienen aus einem größeren Zusammenhang genommen, ja, offenbar waren sie irgendwo herausgerissen worden, vielleicht hat man sie aus einem Heft getrennt, dachte ich, weil mitunter das Ende einer Zeile nur noch zu erraten war. Der unregelmäßige Riss hatte einige Buchstaben zerstört, es war offensichtlich, dass hier jemand mit wenig Sorgfalt vorgegangen war. Vielleicht war er unter Zeitdruck und hatte nicht gleich entdeckt, dass die Sache irgendwie wichtig sein konnte und dann schnell reagiert. Ging das auf unseren Studienfreund zurück? fragte ich mich oder war die Stasi dabei gewesen alles zu vernichten oder hatten sie aus Gründen, die schon vor ihrem Ende lagen, versucht, Marlenes Aufzeichnungen Vorgängen zuzuordnen, die damals eine Rolle spielten?

Oder aber war das Zerstörungswerk von Marlene selbst in Gang gesetzt worden. Aber warum hatte sie dann nicht wirklich alles vernichtet? fragte ich mich. Vielleicht war sie dazu einfach nicht mehr gekommen, als sie sich im Dezember 1989 plötzlich aus dem Staube gemacht hatte. Wohin? wir wussten es jedenfalls nicht.

Natürlich weckte es mein Interesse, zu erfahren, wo die Kladde geblieben war, aus der diese Zettel stammten. Ich kippte nun den ganzen Haufen Papier aus dem Kasten, wühlte darin herum, aber in den mir übergebenden Materialien gab es nichts, von dem ich annehmen konnte, dass die losen handgeschriebenen Blätter von dorther stammten. Zwischen den Manuskriptseiten von Oliver fanden sich lediglich diese einzelnen Seiten, anderes war in den mir übergebenen Materialien nicht zu finden.

Wahrscheinlich, mutmaßte ich nun, hat sich Oliver, noch bevor es jemand mitbekam, die herumliegenden Seiten in die Tasche gesteckt und sie einfach mit nach Hause genommen. Eine solche Andeutung hatte mir gegenüber auch seine Witwe gemacht, an die ich mich allerdings erst später wieder erinnerte, weil ich ihr in dem Augenblick, in dem sie gemacht wurde, keine Bedeutung beimaß. Die Frau sprach davon, er wollte die Aufzeichnungen nur lesen und sie dann den Nachlassverwaltern der Behörde zurückgeben. Offensichtlich war er in den Monaten danach nicht dazu gekommen, sie zur Hand zu nehmen. Es war eine ereignisreiche Zeit damals, vieles andere wird ihn beschäftigt haben und vielleicht vergaß er, was in seinem Schreibtisch lag.

Aber dann gingen die verschiedensten Stasi Geschichten durch die Presse, Enttarnungen von IM´s waren fast täglich auf dem Programm und da kramte er die Seiten hervor und beschäftigte sich gründlicher mit ihnen. Ja, es war zweifelsfrei, dass seine Studienkollegin, die schöne Marlene, die er schon aus der FDJ-Gruppe seiner Schule kannte, die Verfasserin war. Darüber hat er auch seiner Frau berichtet und erwähnt, sein Verdacht, sie habe ihn in der Studienzeit bespitzelt, habe sich nicht bestätigt. Überhaupt kam sein Name in ihren Aufzeichnungen nicht vor, hatte er feststellen müssen. Eine gewisse Enttäuschung habe sie ihrem Mann angemerkt, offensichtlich fand er sein Bild von Marlene nicht wieder.

Daran dachte ich jetzt, während ich etwas ratlos, aber auch auf eine unbestimmte Weise inspiriert, in den Papieren blätterte. Dazwischen die kleinen Zettel mit Marlenes Handschrift.

Ihre Eintragungen stammten aus verschiedenen Zeiten, waren in unregelmäßigen Abständen notiert und trugen ganz unterschiedlichen Charakter. Mitunter waren es eingeklebte Zeitungsausschnitte, die sich auf politische Vorgänge bezogen, von denen mir nicht klar war, in welchem Verhältnis sie zu Marlene standen. Der letzte Eintrag stammte vom Dezember 1989, man hatte den Eindruck, dass die Schreiberin mit großer Hast zu Gange war, nach wenigen Zeilen hatte sie abgebrochen. Die früheste datierte vom 12. Juli 1986, einem herrlichen Sommertag während der Ostseewoche, so jedenfalls hat sie es festgehalten und sich die Frage notiert, ob sie den Werbungen folgen sollte, mit denen sie der Mann von der Sicherheit nun schon seit Wochen lockte.

Nun entschloss ich mich, den Manuskriptberg von vorne an durchzulesen und die handschriftlichen Notizen, von denen ich nun sicher war, sie mussten von Marlene stammen, an den Stellen zu belassen, wo Oliver ihnen einen Platz gegeben hatte. Die Art und Weise ihrer Verteilung war doch sicherlich kein Zufall, sagte ich mir, denn ich kannte unseren Freund als einen überlegten, ja beinahe pedantischen Schriftmenschen. Diese seine Gewissenhaftigkeit war es auch, die ihm als Journalisten zum Verhängnis geworden war. Er war in Ungnade gefallen, wie wir uns damals ausdrückten, weil die Bezirksleitung der SED in Rostock mit seinen Berichten über die Ostseewochen unzufrieden war. Worin genau der Stein des Anstoßes bestand, darüber wurde auch er im Unklaren gelassen, auf jeden Fall konnte er in der Ostseezeitung nichts mehr veröffentlichen.

Nach zwei Stunden Lektüre war mir klar, Oliver schrieb hier über sein Leben und seine Arbeit als Journalist. Er befasste sich mit seinen Erfahrungen. Er musste diese Niederschrift begonnen haben, als man ihn 1993 damit konfrontierte, dass es von ihm eine Bereitschaftserklärung für die Arbeit als IM aus dem ersten Jahr seiner Tätigkeit an der Ostseezeitung gab. Auf jeden Fall ging das aus dem Anfang seines Manuskripts hervor, in dem er zu erklären suchte, wie es zu seiner Unterschrift gekommen war. Zu diesem Zeitpunkt muss er sich wohl auch mit erneuertem Interesse der Aufzeichnungen von Marlene erinnert haben, die ihn schon als Student, auf jeden Fall beschreibt er es so, mit diesem Menschen aus dem Studententheater zusammengebracht hatte, der ihm dann später seine Unterschrift entlockte. Oliver gehörte an der Uni mit Marlene zusammen in die FDJ Leitung und das verpflichtete ihn gewissermaßen zur Wachsamkeit. So hatte jedenfalls der Genosse von der Sicherheit argumentiert und er sah es auch so und hat sich nicht viel gedacht dabei, damals.

Als sie das Studium abgeschlossen hatten, heiratete er sehr schnell seine Frau, was allgemeines Erstaunen bei den Kommilitonen auslöste, weil man ihn und Marlene für ein fest versprochenes Paar hielt. Dass sie seit kurzem getrennt waren, hatte sich noch nicht herumgesprochen. Nur einem engeren Kreis gegenüber ließen sie wissen, man wolle sich neu orientieren. Aber trotz der Trennung muss er ihren Weg doch genauer verfolgt haben, als ich, die ich weit weg war. Rostock ist schließlich überschaubarer und er hatte wahrscheinlich eine Ahnung davon, was ihre Tätigkeit im Neptun ausmachte.

Nachdem er festgestellt hatte, dass sein Name in ihren Aufzeichnungen nicht vorkam, müssen sich die Intentionen, mit denen er seine Erinnerungen niederschrieb, verändert haben. Er wird gesehen haben, Marlenes Aufzeichnungen bezogen sich auf eine Zeitspanne, in der der Kontakt zwischen ihnen schon erloschen war. Auch bewegte sie sich nun in Sphären, von denen er sich kaum eine Vorstellung machen konnte. Vielleicht empfand er eine gewisse Kränkung über der Entdeckung, dass er im Leben der schönen Marlene nur eine kleine Rolle gespielt und sie ihn nach der Trennung sehr schnell vergessen hatte. Statt eines Hinweises auf sich selbst, den er möglicherweise immer noch suchte, entdeckte er in ihren Notizen Andeutungen über mehr oder weniger bekannte Personen der Zeitgeschichte und es wird ihn überrascht haben, dass sie mit solchen Leuten tatsächlich zusammengetroffen sein sollte.

Beim Fortgang des Lesens erlebte ich mit Spannung, wie Oliver bei seiner Niederschrift langsam das autobiographische Schema verließ und wie ihn die Blätter aus Marlenes Kladde offensichtlich zu anderem inspirierten. Mit Überraschung sah ich, dass sich das Ganze scheinbar mühelos aus einem übersichtlichen Lebenslauf zu einer deftigen Agentenstory entwickelte, in deren Fortgang er den Typ unserer Freundin veränderte und ein Kapitel deutsch-deutscher Begegnungen auferstehen lässt.

„Ich kenne sie alle“ ist die eine Seite von Marlenes Hand überschrieben, die sich in Olivers Manuskript an der Stelle findet, an der seine Erzählung diese Wendung nimmt. Aber das wurde mir erst bewusst, nachdem ich den ganzen Manuskriptberg durchgelesen hatte. Ich denke, vom Inhalt dieses Blattes könnte einer der Anstöße ausgegangen sein, der seine Fantasie in diese andere Richtung lenkte.

Die Seite mit dieser Überschrift stammte offensichtlich von einem frühen Zeitpunkt ihrer Tätigkeit. In ihr schlägt sich die euphorische Stimmung nieder, mit der sie wohl eine Zeitlang ihre Tage im Neptun verbracht haben muss. Denn sie spricht von der Lust, die es ihr bereitet, immer neue, interessante Menschen kennenzulernen. In diesem Bekenntnis wird Oliver die lebenslustige, aber auch unbedenkliche Seite unserer Freundin wiedergefunden haben, die wir an ihr kannten. Aber die Niederschrift zeigt auch eine andere Marlene. Sie verrät sich in der Art, wie sie ihre Treffen mit den verschiedenen Mannspersonen schildert, die offensichtlich nach immer gleichem Ritual abliefen. Von erster Annäherung über Bekanntwerden, Näherkommen, Vertraut werden usw. vollzogen sie sich nach stereotypem Muster, das Marlene in der Form eines wiederkehrenden Refrains hervorhebt, der jeweils mit dem Satz endet: „Ich kenne sie alle!“

Natürlich wird dieser Satz auch Oliver auf gemeinsame Bettgenossenschaften haben schließen lassen, was ihn möglicherweise sogar gekränkt hat. Es wird ihm die Veränderung seiner Freundin offenbar geworden sein und wahrscheinlich hat ihn ihr Zynismus entsetzt, ein Zug, den auch ich an der früheren Marlene nicht kannte. Ich nehme an, dass dieser Eintrag den letzten Anstoß für seinen Einfall brachte, sie zu einer Doppelagentin zu machen.

Das begriff ich, wie gesagt, aber erst, nachdem ich alles gelesen hatte.

Unter diesem Blickwinkel veränderten sich dann die Konturen seiner Exfreundin Marlene. Aus einer Überzeugungstäterin, die sich aus Naivität und Geltungsbedürfnis zum Lockvogel eines Sicherheitsdienstes machen ließ, wird eine raffinierte Doppelagentin. Dabei sind die Schritte ihrer Ernüchterung über ihr Metier ebenso ins Bild gesetzt, wie die Verstrickungen, in die sie zunehmend geriet. Auch für ihr plötzliches Verschwinden kann Oliver so eine plausible Version beibringen.

Wo unsere Freundin abgeblieben war, wussten wir beide nicht und auch niemand aus unserem Bekanntenkreis hatte eine Ahnung, wohin sie gegangen war. Die letzte Eintragung vom Dezember 89 lag zwischen Olivers Manuskriptseiten, seitdem war sie für uns unauffindbar.

Nun geben diese letzten Notizen von ihrer Hand viel Raum für unterschiedliche Vermutungen. Offensichtlich unter Zeitdruck verfasst, deuten die Aufzeichnungen auf erhebliche Konfusion. Sie muss ziemlich durcheinander gewesen sein, wusste offensichtlich weder ein noch aus.- „Seit einer Woche gibt es keine Instruktionen mehr, der Führungsoffizier lässt sich nicht sehen, hat sich unsichtbar gemacht.“ Diese Sätze stehen am Schluss eines Absatzes, in dem widersprüchliche Empfehlungen notiert sind, die ihr wahrscheinlich vorher zugegangen waren. In den durch Kürzel entstellten Bemerkungen ist die Rede von Weiterarbeit aus der Illegalität heraus, davon, dass jeder sich auf eigene Faust durchschlagen müsse. Aber es gibt auch Andeutungen darüber, dass sich andere Dienste um kompetente Sicherheitsleute bemüht hätten.

Ich fasse hier lediglich zusammen, was sie niedergelegt hat. Man könnte aus diesen letzten Sätzen auch auf ein tragisches Ende schließen. In diesem Sinne haben wir manchmal über Marlene gesprochen. Aber so ganz passte es in meiner Vorstellung von der lebenslustigen, immer auf neue Erfahrungen ausgehenden Frau nicht, dass sie Hand an sich gelegt haben sollte. Außerdem, es wurde niemals ihre Leiche gefunden!

Andererseits konnte ich mir auch schwer vorstellen, dass sie in einem Provinznest mit einer anderen Identität ein stilles Leben führte. Oliver ging das offensichtlich nicht viel anders, als er in seiner Geschichte darauf verzichtete, ihr Abtauchen zu einem tragischen Schlusspunkt zu bringen. Dagegen lässt er sie nun als eine Doppelagentin überleben, die schon mehrere Jahre vor dem Ende ihrer Dienstbehörde Kontakte zu einem BND-Mann aufgenommen hatte, der im Neptun ebenfalls aus und ein ging. Ob der zuerst sie, oder sie zuerst ihn kontaktiert hat, belässt Oliver in der Schwebe. Auf diese Weise gelang ihr schnell ein unauffälliger Übergang zu neuer Identität. Mit neuem Pass und neuem Gesicht ist sie nun wiederum in geheimer Mission im Auftrag neuer Dienstherren an den Brennpunkten politischen Geschehens im Einsatz.

Nach der ersten Überraschung beim Lesen fand ich, dass solche Version viel besser zu unserer Marlene passt, als alle Annahmen über ein frühes Ende. Olivers Story kommt ihrem Charakter näher und entspricht ihm einfach mehr. Außerdem liegt seine Geschichte näher am wirklichen Geschehen. Denn, so sage ich mir, wenn irgendetwas zu Ende geht, geht es auf eine andere Weise auch immer irgendwie weiter, woran wir Menschen uns halten müssen.

Aus größerem Abstand gesehen, erweist sich, dass die Mechanismen, in denen sich das Jetzige bewegt, so verschieden nicht sind, von denen, in denen sich das Vergangene bewegte. Denn wie sonst sollte alles weitergehen.

Storys über Doppelagenten sind in der Literatur natürlich nicht neu. Nur für die Beziehungen zwischen den Spionagezentralen der beiden deutschen Staaten ist solche Konstellation für die breitere Öffentlichkeit bisher nicht publik geworden. Das leuchtet ein, weil es für die Etablierung neuer Verhältnisse notwendig war, den einen Geheimdienst, dem ich im Übrigen keine Träne nachweine, zu verteufeln, um den anderen Dienst unbehelligt von öffentlicher Aufmerksamkeit, seine Dienste tun zu lassen. Für die Legitimation dieses Wechsels war es erforderlich, alles andere im Verborgenen zu belassen.

Meinem Freund Oliver kommt mit dem nachgelassenen Manuskript das Verdienst zu, auf diese Fehlstelle im öffentlichen Bewusstsein hinzuweisen, die im Übrigen auch eine Lücke in der bisherigen literarischen Aufarbeitung markiert, die nun ebenfalls als geschlossen gelten kann.

Allerdings gerät ihm sein Manuskript literarisch nicht völlig ausgewogen, ein Gesichtspunkt auf den im Anschluss an ein weiteres Problem am Ende meiner Darlegungen noch einmal zurückzukommen sein wird.

Wie schon erwähnt, ist in Marlenes Aufzeichnungen häufig von prominenten Leuten die Rede, von solchen, die in der Öffentlichkeit eine Rolle spielten oder von denen bekannt ist, dass sie die Fäden gesellschaftlicher Geschicke im Verborgenen zogen. Darunter finden sich Politiker aus Niedersachsen und Schleswig-Holstein, Persönlichkeiten aus Schweden und Norwegen, Namen von arabischen Öl Scheichs, von Geschäftsleuten und Aufsichtsräten großer Konzerne, von Funktionären aus Sport- und Unternehmerverbänden, von mehr oder weniger bekannten Künstlern. An einer Stelle porträtiert sie einige dieser Persönlichkeiten, deren Namen sie allerdings nur mit Initialen bezeichnet. Aus den Details, die sie schildert, ist in einzelnen Fällen darauf zu schließen, um wen es sich handelt. Auf jeden Fall hat Oliver, wie ein dem Manuskript beiliegendes Blatt zu entnehmen ist, versucht, diese Namen zu entschlüsseln, was ihm in einigen Fällen auch gelungen zu sein scheint. Erst beim Weiterlesen erkannte ich, dass er damit seinem Erzählen eine erneute Wendung gibt. Er lässt nämlich seinen Protagonisten die Initialen der Prominenten enträtseln, um ihn später mit diesem Wissen eine einträgliche Erpressungstour unternehmen zu lassen. Damit gewinnt die Geschichte Tempo und zusätzliche Spannung, ja sie bekommt einen kriminalistischen Einschlag. Selbst in diesem Krimi-Sujet bleibt Olivers Story den wirklichen Verläufen sehr nahe, wenn er den Protagonisten bei seinen Machenschaften unbehelligt belässt. Denn natürlich ist es so, dass niemand von den Betroffenen daran interessiert sein kann, einen Erpresser anzuzeigen, weil das Aufsehen einfach zu groß wäre. Daher kann der ziemlich unbehelligt seine Namensliste abarbeiten. Der Mann wird schließlich nicht nur reich, sondern auch ein angesehener und seriöser Geschäftsmann.

Das Ganze ist nicht unwahrscheinlich, kann so oder so passiert sein. Allerdings gibt es bei der literarischen Bewältigung des Stoffes, besonders im letzten Teil, Ungereimtheiten, die wahrscheinlich im fragmentarischen Charakter des Ganzen begründet liegen. Allerdings können die ungelösten literarischen Probleme auch in der unsauberen Mischung der Genres begründet liegen, in der Tatsache, dass zwischen Dokumentation und Fiktion nicht sorgfältig geschieden wird. Dadurch bleibt bei der Lektüre für den Leser mitunter in der Schwebe, was dokumentiert und was erfunden ist an der vorliegenden Geschichte. Manchmal habe ich mich gefragt, über wen schreibt er hier eigentlich? Aber über solche Rätsel, die bisweilen beim Lesen entstehen, kann man nur Mutmaßungen anstellen, denen ich hier keinen Raum geben will. Denn mein verstorbener Freund ist mir niemals anders als dieser redliche und bedenkliche Schreibertyp begegnet.

Die literarischen Schwierigkeiten des Manuskripts, davon bin ich überzeugt, hätte mein Freund beim weiteren Fortgang der Arbeit gelöst, wenn ihm Zeit geblieben wäre, der Tod ihn nicht mitten aus dem Schreiben gerissen hätte.

Nachsatz:

Da es mir bisher nicht gelungen ist, einen Verlag für Skriptum von O. N. zu finden, habe ich mich entschlossen, in dieser Form auf das nachgelassene Manuskript meines Freundes aufmerksam zu machen. Ich verbinde damit die Hoffnung, dass sich eine Verlegerpersönlichkeit finden lässt, die bereit ist, das interessante und aufschlussreiche Material über die Vorgänge im Neptun der Öffentlichkeit zugänglich zu machen.

2007

Erzähltes Leben

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