Читать книгу Erzähltes Leben - Ursula Reinhold - Страница 9
Füreinander da sein
ОглавлениеWir beide sind Großmütter, meine Freundin und ich. Wir lieben unsere kleinen und großen Kinder, wir tun für sie, was wir können. In einer Familie muss man immer füreinander da sein, so haben wir es immer gehalten und dabei bleiben wir auch.
Davon hat sich auch meine Freundin Edith leiten lassen, als sie vor zehn Jahren mit der damals vierköpfigen Familie ihres Sohnes zusammen ein Haus bezog. Das Siedlungshaus war ihr unerwartet als Erbe eines unverheiratet gebliebenen Onkels zugefallen und sie war erst gar nicht froh über diese Hinterlassenschaft, empfand sie als Bürde und wollte das zweigeschossige Gebäude so schnell wie möglich wieder loswerden. Das Geld werde ich verteilen sagte sie, ich habe es noch heute im Ohr. Dann stellte sich aber heraus, dass der Altbau durch eine Uralthypothek belastet war und bei einem Verkauf so gut wie nichts herauskommen werde. Der Sohn hatte ohnehin gleich Einspruch gegen ihre Pläne erhoben, einen Immobilienbesitz sollte man auf keinen Fall verschleudern, er malte es ihr in den schönsten Farben aus, wie ein so geräumiges Haus der ganzen Familie eine Wohnstatt bieten konnte. Man würde fernerhin die Miete sparen, wenn man es selbst bezog.
Alle Einzelheiten habe ich damals nicht mitbekommen, weil wir uns nur in Abständen sehen und am Telefon uns immer nur kurz fassen. Deshalb überraschte es mich, als sie mir verkündete, dass sie das Haus behalten, es sanieren und umbauen lassen wollte, eine Heimstatt für die ganze Familie solle es werden, sagte sie mir bedeutungsvoll. In den Worten mit denen sie über die Umbaupläne sprach, hörte ich die Redeweise und die Argumente ihres Sohnes heraus, des Immobilienmaklers.
Direkte Einwände wagte ich nicht, denn sie wirkte plötzlich so belebt und munter, während sie davon sprach, wie sie sich ins Familienleben einbringen wollte. Kaum, wagte ich, sie daran zu erinnern, was sie mir gegenüber nicht nur einmal versichert hatte, sie wolle ihre Wohnung nur mit den Füßen voran verlassen. Da schaute sie mich an und lachte und sagte: Du hast wohl Angst, dass ich nicht mehr so viel Zeit für Dich haben werde? Das kränkte mich, ehrlich gestanden ein bisschen und ich unterließ es, sie an Zusammenstöße mit dem Sohn zu erinnern, von denen sie mir manchmal berichtet hatte. Aber so etwas kam vor, das ging mir mit meinen Nachkommen auch nicht viel anders. Auch ich ärgerte mich gelegentlich und dann lief der Mund über, wenn sich Verdruss angesammelt hatte. Nein, ich gönnte ihr das späte Glück familiärer Geborgenheit.
Nebenbei gesagt, floss damals auch ein großer Teil ihrer Rücklagen in den Umbau, weil die Mittel des Sohnes nicht ausreichten und die Banken keine günstigen Kredite mehr gaben. Dass sie sich nun aller Mittel entblößt sah, gestand sie mir aber erst später. Kurz bevor sie ihre Wohnung aufgab und ins neue Heim übersiedelte. Da wäre ohnehin nichts mehr zu ändern gewesen. Ich erkannte meine Edith nicht wieder, die umsichtige, sparsame Frau, die nun ohne den Ertrag ihrer Lebensarbeit dastand. Aber ich bin nicht traurig darüber, dass alles weg ist, sagte sie mir, ich habe ein gutes Gefühl dabei, nun haben wir ein gemeinsames Nest und ich kann im Kreise meiner Lieben beruhigt älter werden. Immer für einander da sein, das ist das wichtigste sagte sie mir, lächelnd sah sie mich an.
Wenige Jahre nach dem gemeinsamen Start ins neue Haus ergab es sich, dass der Sohn und die Schwiegertochter sich scheiden ließen. Es ginge nicht mehr, sagte mir meine Freundin, die ständigen Kampfszenen wären nicht zu ertragen, es schallte durchs ganze Haus, wenn sie sich stritten. Auch für die Kinder wäre das Gift. Worum es ginge, konnte meine Freundin so genau nicht sagen, sie versuche schon lange nicht mehr, herauszubekommen, worum sie sich stritten und wer woran Schuld sei. Die Schwiegertochter kann nicht mit Geld umgehen, jedenfalls lautete so ein Vorwurf des Sohnes an die Frau. Edith kannte natürlich ihren Sohn und wusste, ein solcher Vorwurf ging auch bei ihm nicht daneben. Aber sie hielt sich heraus, steuerte noch einen Hunderter zusätzlich für die monatliche Familienkasse bei. Denn inzwischen war es so, dass der Sohn seinerseits nur noch gelegentlich Geld verdiente, keine Wohnungen mehr verkaufte, seitdem viele Leute immer weniger in der Tasche hatten. Indes verfügte die Schwiegertochter über regelmäßiges Arbeitseinkommen und leitete daraus das Recht ab, zu kaufen, was immer ihr gefiel. Noch und noch Überflüssiges kommentierte meine Freundin, wenn sie mir davon erzählte, vermied es aber, Partei in dem Streit zwischen den Eheleuten zu nehmen.
In früheren Zeiten hat sich meine Freundin mir gegenüber manchmal darüber beklagt, wie schwer es dem Sohn falle, mit den Geldmitteln zurechtzukommen, die ihm zur Verfügung standen. Aber ich erinnerte meine Edith an solche Geschichten nicht, weil ich spürte, es tat ihr weh, wenn andere an ihrem Sohn etwas auszusetzen hatten. Irgendwann, ganz plötzlich zog die Schwiegertochter aus, quartierte sich mit der kleinen Mareike in die 6. Etage des Wohnsilos ein, das unserer Siedlung benachbart steht. Eine winzige Wohnung hatten sie dort. Das Mädchen könne so in die gleiche Schule gehen, sagte ihr die Schwiegertochter, als Edith sie einmal auf der Straße traf. Erst von diesem zufälligen Zusammentreffen an wusste meine Freundin, wo ihre kleine Enkelin abgeblieben war. Denn von der Oma, meiner Edith, hatte sich weder die Schwiegertochter noch die Kleine verabschiedet. Ihr Auszug sollte ganz schnell gehen und unbemerkt bleiben, erklärte ihr die junge Frau mit dürren Worten. Die Großmutter könne die kleine Mareike besuchen, dagegen wolle sie nichts einwenden, sagte ihr die Schwiegertochter noch. Aber vor 18 Uhr an den Abenden seien sie nicht zu Hause, rief sie ihr noch hinterher.
Edith war ganz fassungslos als sie mir das damals erzählte. „Eingeladen haben sie mich nicht, aber ich darf vorbeischauen“, sagte sie traurig.
Längst nun hat Edith eine neue Schwiegertochter. Als die Frau ins Haus zog, haben sie Edith in ein anderes Zimmer umquartiert. Erfreut war sie darüber nicht, aber sie sah es schließlich ein, dass es sein musste. Ich kann mich schließlich auch in einem engeren Zimmer einrichten, obwohl ich mich ungern umgewöhne, gab sie mir damals zu verstehen. Denn es ging nicht anders und auch der inzwischen 12-jährige Konrad musste sein Zimmer räumen, weil es für das Mädchen nötig wurde, das die Frau mitbrachte und das natürlich auch einen eigenen Platz beanspruchen konnte. Der Junge wohnt nun unter dem Dach mit schrägen Wänden, aber er fühlt sich wohl dort oben. Jedenfalls hat er das gegenüber seiner Oma zum Ausdruck gebracht, die es mir berichtete. Er kommt regelmäßig und erzählt über die Schule, und die Oma steckt ihm Geld zu, wenn er bei ihr sitzt, weil sein Taschengeld niemals weit reicht. Das ist auch so geblieben, seitdem sie im Souterrain wohnt.
Als ich sie das erste Mal in ihrem neuen Zimmer besuchte, bekam ich wirklich einen Schreck. Der Raum ist auch tagsüber ziemlich dunkel, weil sich die Fenster nur zur Hälfte über dem Erdboden befinden und so nicht viel Licht hineinlassen können. Ja, ich muss nun öfter Licht anschalten, gab Edith zu, aber es mache ihr so viel nicht aus, sie könne ohnehin immer weniger lesen, weil die Augen nicht mehr mitmachten. Ja, das alte Zimmer war größer, aber nicht wesentlich, und was sollte sie sagen, als der Sohn ihr den Wechsel antrug. Denn sie brauchten das größere Zimmer nun für die neue Bettstatt, die den Ehebund des neuen Paares begründete und für die der bisherige Schlafraum zu klein war. Auch den Esstisch gibt es nicht mehr im Zimmer meiner Freundin, auf den sie so stolz gewesen war, als sie in das Haus gezogen war. Den Tisch habe sie schon seit langem nicht mehr gebrauchen können, überflüssig sei er geworden, denn es ist schon lange her, dass hier herum die ganze Familie zusammensaß, erklärte sie mir. Auch von ihrer breiten Bücherwand sind nur einige Teile übriggeblieben, ja sie habe sich von vielem trennen müssen. Aber in so einem Haus beisammen wohnen und immer für einander da sein heißt eben auch, nicht nur an sich selbst zu denken. Das hätte auch der Sohn ihr zu verstehen gegeben. Ich schaute mich in ihrer neuen Behausung um und dachte an die, die sie bis dahin bewohnt hatte. Oft waren wir in ihrem Zimmer oben zusammen, wenn sie sie besuchte. Wir saßen dann in bequemen Sesseln am Fenster und schauten über die Gärten, die an den Betonmauern des Hochhauses endeten. Im Halbjahresrhythmus wechselte die Aussicht. Nur im Winter erkannte man die Gestalt dieses Baues in allen Einzelheiten. Im Frühling, wenn sich zarte Knospen zeigten, begannen die Konturen der Fenster und Balkone an der Fassade zu verschwimmen und wenn das Grün voll entwickelt war, sah man in ein grünes Idyll und ahnte nichts von dem Betonklotz am Horizont.
So weit ging der Blick jetzt nicht mehr. Von den tief liegenden Fenstern sah man nur ins Dunkelgrün der Rhododendronbüsche, die auch im Winter ihre Blätter behielten. Nur, wenn man ganz dicht an die Fenster herantrat und ein wenig in die Knie ging, was uns beiden natürlich schon schwerfällt, dann kann man einen Blick in den Himmel tun. Der war aber, als ich sie letztlich dort besuchte, ohnehin nur grau.
Ich hab mich eingelebt hier, es geht mir gut, meint meine Freundin, wenn ich ihr mit irgendwelchen Bedenklichkeiten komme. Von ihrem Sohn weiß sie, dass der immer weniger verdient. Ob er seine neue Frau darüber ins Bild setzt und wie es bei ihr steht, das weiß Edith nicht. Manchmal schüttelt sie den Kopf und sagt: Vielleicht wird die ganze Familie bald von meinem Geld leben müssen. Immerhin, das ist die Gewähr dafür, dass ich hier meinen Platz behalten kann. Ich brauche nichts mehr für mich, aber sie brauchen mich und deshalb muss ich weiterleben. Aber davon scheint niemand Notiz zu nehmen, niemand redet mit mir, wie die Dinge eigentlich liegen.
Meine Freundin ist manchmal sehr traurig. Aber ich tröste sie dann und sage ihr, Familie heißt eben füreinander da sein. Sie nickt, pflichtet mir dann bei und wir schauen uns an und versuchen ein Lächeln.
2003