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ОглавлениеAn einem frühen Samstagmorgen Ende September war Emma trotz ihrer Erschöpfung tapfer auf dem Weg zur Schule. Seit sie wieder ohne Krücken gehen konnte, nahm sie vorzugsweise ihren geliebten Schleichweg entlang der Wiesen. Hier fühlte sie sich der Natur noch näher. Nein, es ging ihr nicht um den Fortschritt der Vegetation übers Jahr. Das Wachsen und Reifen von Feldfrüchten, das Aufgehen und Verblühen der zahllosen Blumenarten, ja selbst das Brunftverhalten der verschiedenen Haus- und Nutztiere im zyklischen Rhythmus übers Jahr, waren ihr wohl vertraut, denn sie war in diese Welt hineingeboren und wie selbstverständlich in sie hineingewachsen.
Wenn sie diesen Weg nahm und über die Wiesen schaute, die von hier kilometerweit bis an den großen Fluss führten, öffnete sich mit dem Blick in die Weite auch ihr Herz. Sie konnte es nicht erklären, aber sie fühlte sich hier leichter, atmete freier und konnte hüpfen vor Freude. Selbst im Sommer, wenn die heißen Tage aufgrund der hohen Luftfeuchte drückend schwül wurden, so dass sich die Glieder der Arbeitenden bleischwer anfühlten und so mancher sich nur mit Mühe auf den Beinen halten konnte, fand Emma die Luft hier immer noch erfrischend und die Ruhe wohltuend.
Das satte, dunkle Grün des Grases, hier und dort gesprenkelt mit Kräutern, wilden Blumen und Sauerampfer, den Emma gelegentlich für die Zubereitung einer Suppe sammelte, glitzerte in der Morgensonne. Unzählige Tautropfen entfachten ein wahres Feuerwerk, dessen Bild sich mit jedem Schritt, den Emma tat, und mit jedem neuen Blickwinkel, anders gestaltete. Und knapp darüber, tatsächlich eine gute Handbreit darüber schwebend, zeigten sich die ersten Nebel des Herbstes. Sie hingen dort wie Geister, sich nach oben hin mit der Sonnenwärme verflüchtigend, aber immer noch gespeist aus dem feuchten Wiesengrund, bis die Sonne hoch genug stehen und genug Wärme entwickeln würde, um sie aufzulösen. Emma spürte den Zauber dieser leuchtenden Herbsttage, deren Nebel etwas zu verbergen schienen. Sie atmete tief durch, um noch einmal diese frische Luft zu spüren und setzte ihren Weg zur Schule fort.
Sobald sie wieder eine bewohnte Straße erreicht hatte, gesellten sich Mitschülerinnen zu ihr, drei, vier, fünf Mädchen, etwas jünger und etwas älter als sie, die zusätzlich zu ihren Schulranzen einen Korb trugen.
"Schau mal, Emma, unser Apfelbaum hat wieder viele schöne Äpfel gemacht!"
Gertie, ein pausbäckiges, siebenjähriges Mädchen mit wippenden blonden Zöpfen, hüpfte neben Emma her.
"Und du? Hast du gar nichts mit?"
Emma lachte.
"Doch, doch! Also, nein, nicht jetzt jedenfalls. Aus unserem Garten gibt es einen schönen großen Kürbis. Der ist aber zu schwer für mich, den hat mein Vater schon heute früh zur Kirche gebracht. Und morgen bringe ich noch frische Blumen mit zum Gottesdienst."
"Wieder die schönen Federastern?" fragte Gertie mit einem sehnsüchtigen Blick, der Bände sprach hinsichtlich ihrer Leidenschaft für genau diese Blumen.
Emma wusste das und schmunzelte.
"Aber natürlich. Rosa, hellblau und weiß, alle Farben sind da und wir werden irgendwas Schönes daraus machen. Wenn du morgen auch etwas früher kommst, kannst du mir dabei helfen."
"Au ja!"
Gertie strahlte und hüpfte vor Begeisterung noch schneller als sonst, kehrte aber um, als sie feststellte, dass ihr die anderen Mädchen nicht so schnell folgten, konnte sich aber nicht bremsen und zog den Anderen erneut davon, so dass sie am Ende, als sie alle ihr Ziel erreicht hatten, den Weg fast dreimal zurückgelegt hatte, wie ein Hund beim Auslauf, nur, dass ihre Nase nicht am Boden hing, um Spuren auszuschnüffeln. Die Hundezeitung überließ sie dann doch lieber den Vierbeinern.
Als die Mädchen das Kopfsteinpflaster der Kirchgasse unter ihren Pantinen hatten und den üblichen Tanz um die Misthaufen und die Sprünge über die Güllebäche vollführten, schien ihnen der Gestank nicht ganz so übel wie sonst.
"Gottseidank!" meinte Emma, "es wird kühler, da stinken die Haufen nicht mehr ganz so doll. Und die Fliegen sind nicht ganz so verrückt."
Das Gebrumme der dicken, bläulich schimmernden Schmeißfliegen war tatsächlich deutlich leiser und es schwirrten nur vereinzelte Exemplare um ihre Köpfe. Zu Hause hatten sie alle Fliegenfänger, die reichlich zum Einsatz kommen mussten, um diese von ihren Lebensmitteln fernzuhalten.
Gertie hatte ihre schön gewachsenen, rotbackigen Äpfel sorgsam mit einem Tuch bedeckt, wie die anderen Mädchen auch, die etwas zu dem großen Fest beisteuern wollten. Jeder im Dorf freute sich darauf und die Mädchen waren stolz, bei dessen Vorbereitung helfen zu dürfen. So blieb die Schule heute links liegen und sie steuerten direkt die Kirche an, deren Portal bereits offen stand, damit alle Helfer und alle guten Gaben Eingang finden konnten.
Sie gingen durch den Mittelgang bis zum Ende der Bankreihen. Dort, auf dem freien Platz vor den Stufen zum Altar, hatten die Jungs des Dorfes bereits gestern unter Anleitung ihres Lehrers Brandes einiges vorbereitet. In der Mitte stand ein kleiner Handleiterwagen, sorgfältig geputzt und mit Wachs schön poliert. Darum herum gruppierten sich kleine, flache Holzkisten, die in Stufen ansteigend zum Handwagen führten, auf denen hier und dort kleine und größere Körbe standen, die nun allmählich mit Früchten vom Feld und aus den Gärten gefüllt werden sollten. Blumenvasen auf dem Altar und am Eingang der Kirche sollten den festlichen Rahmen des Tages betonen. Den Höhepunkt jedoch bildete die aus extra lang geschnittenen Getreidegarben geflochtene Erntekrone, die direkt auf der Plattform vor dem Altar stand. Die Mädchen traten näher und umrundeten das gute Stück, das Emma um Haupteslänge überragte.
"Schaut mal, das meiste ist Roggen, aber da sind auch Weizen und Gerste. Die langen Grannen sind fast so weich wie Fell. Und schaut mal, der Hafer. Wie schön die Rispen mit den Körnern hängen."
Emma berührte die zarten Gebilde mit den Fingerspitzen. Das Getreide war reif und das Korn würde sich leicht aus den Hülsen lösen.
"Und schöne bunte Bänder sind auch schon dran."
Gertie zupfte die leuchtend roten Stoffbänder in eine ihr genehme Position und befühlte den Stoff.
"Daraus möchte ich mal ein Kleid haben. Oder wenigstens einen Rock."
Emma seufzte mitfühlend.
"Das hier sind Reste von irgendwelchen Schneiderarbeiten. So schöne bunte Stoffe sind ziemlich teuer. Aber schau mal, wie schön die Krone geflochten ist. Die ist ja noch viel schöner als sonst."
Die beiden Korbmacher des Dorfes hatten sich größte Mühe gegeben und ein wahres Kunstwerk geschaffen. Ein flach liegender Ährenkranz bildete die Basis der Krone, an der auch die Bänder befestigt waren. Darüber waren normalerweise zwei sich kreuzende Bögen aus geflochtenen Ähren angebracht. In diesem Jahr hatten sie alle jedoch Grund, besonders dankbar für die gute Ernte zu sein. Sie hatten gehört, und in der Zeitung war es auch zu lesen, dass weiter im Westen andauernde heftige Regenfälle großen Schaden angerichtet hatten. Es hieß, in England sei die Ernte komplett vernichtet worden. Sie alle hatten schon auf dem Halm faulendes Korn gesehen, genauso wie sie Hagelschlag oder Blitzeinschläge erlebt hatten, die innerhalb kürzester Zeit die Mühen eines ganzen Jahres zu Nichte machen konnten.
Die Korbmacher wussten das genau und sie fühlten mit den Bauern. Tatsächlich waren sie auf Gedeih und Verderb mit ihnen verbunden. Ging die Ernte verloren, kauften die Bauern nicht bei ihnen ein. Und ohne Korn kein Mehl und kein Brot, auch für sie nicht.
Angesichts der Katastrophe in England und dankbar dafür, dass sie verschont geblieben waren, hatten sie sich etwas Besonderes einfallen lassen. Sie hatten vier längere Teile geflochten, die sie wie üblich an der Basis befestigt hatten. Die vier oberen Enden hatten sie zusammengefasst inmitten der Krone nach unten gezogen, so dass sie fast wie eine echte Königskrone aussah. Aus dieser Vertiefung in der Mitte jedoch lugte ein Ährenbüschel hervor. Gerste und Hafer setzten der Krone noch ein kleines Krönchen auf. Drähte in ihrem Inneren sorgten für Zusammenhalt und Stabilität.
"Vorsicht, Kinder!"
Der Pfarrer und der Küster traten aus der Sakristei in die Kirche. Beide schleppten eine lange Holzleiter herein, die sie gemeinsam aufrichteten und vorsichtig an der Seitenwand des Altarraumes anlehnten. Dort, in einer Höhe, die weder von spielenden Kindern noch übermütigen Erwachsenen zu erreichen war, war eine lange Kette verankert, die zu einem über dem Altar in der Decke befestigten Ring führte. Die beiden Männer ließen diesen vorsichtig herunter, hängten die Erntekrone mit einem großen Fleischerhaken ein, fixierten das Ganze mit einem Stück Draht und traten zurück.
"So, dann wollen wir das Prachtstück mal an seinen Platz hieven. Ihr könnt darauf achten, dass die Bänder schön frei hängen und dass die Krone nicht zu doll schaukelt."
Emma, Gertie und noch eines der größeren Mädchen machten sich bereit. Die beiden Männer mussten kräftig ziehen, um das so zart erscheinende Ährengebilde in die Höhe zu befördern. Die Kette rasselte und quietschte, während die Krone allmählich an Höhe gewann. Sie hing jetzt schon fast einen Meter über dem Altar, die Bänder hingen alle richtig und die Mädchen traten ein paar Schritte zurück.
Da schoss die Kette plötzlich mit einem hässlichen Rasseln ein Stück tiefer, so dass die Erntekrone nur noch knapp über dem Altar hing. Blitzartig griff Emma die zerbrechlichen Blumenvasen, die dort an beiden Seiten standen, und rannte damit zur Seite, gefolgt von der erschreckten und verdutzten Gertie. Erst hier konnten sie sich umschauen, um festzustellen, was passiert war.
Der Pfarrer und der Küster hielten krampfhaft die Kette fest. Beide hatten schon Schweißperlen auf der Stirn und ein großes Taschentuch lag zu ihren Füßen. Da hatte wohl einer von ihnen kurz die Kette losgelassen, was keine gute Idee gewesen war.
Der Pfarrer schnaufte vernehmlich, meinte aber beruhigend:
"Alles in Ordnung. Die Kette ist kurz weggerutscht. Sieht leichter aus, als sie ist, die Erntekrone. Gut, dass du die Vasen weggeräumt hast, Emma. Bleibt mal da an der Seite. Wir versuchen es jetzt nochmal."
"Na, das ist ja nicht zum Ansehen!"
Lehrer Rothes Stimme, die plötzlich volltönend vom Portal her durch das Kirchenschiff schallte, erschreckte die Mädchen. Es waren nur wenige Schritte von der Schule bis hierher, so dass er öfter mal vorbeischauen konnte, wenn die Kinder bei Festvorbereitungen halfen. Jetzt trat er zu den beiden Männern und packte mit an. Mit "Hauruck" gewann die Krone schnell an Höhe und hing bald an der vorgesehenen Stelle. Gut, dass nun drei Männer zur Stelle waren, denn einer von ihnen musste jetzt die Kette loslassen und die Leiter erklimmen, um die Kette dort oben an der Wand wieder zu verankern. Der Küster erledigte dies rasch und unter Stoßgebeten, dass die beiden Herren da unter ihm nicht die Kraft verlassen möge.
Aber dann war es geschafft und das Prachtstück schwebte über dem Altar. Immerhin war es zentraler Teil des festlichen Schmuckes für den nächsten Tag.
Die Mädchen standen in gehöriger Entfernung vom Altar und klatschten begeistert in die Hände. Sie hatten während der letzten aufregenden Minuten Gesellschaft bekommen. Weitere Mädchen mit Körben voller Früchte hatten sich eingefunden, dazu ein paar Jungs, die keine Schwestern hatten, die diesen Bringedienst erledigen konnten. Sie, die sonst "Frauenarbeit" nur unter Protest verrichteten, ließen heute nicht einmal ein Murren hören.
Unter der Aufsicht von Lehrer Rothe packten die Kinder ihre Schätze aus und drapierten sie gemäß den Anweisungen des Pfarrers und der Gemeindeschwester, die inzwischen dazu gekommen war. Der kleine Leiterwagen und der Platz darum herum füllten sich nun zügig. Nach gut zwei Stunden war alles erledigt. Einzig der Blumenschmuck fehlte noch, aber der wurde traditionell immer erst kurz vor dem Gottesdienst frisch geschnitten und arrangiert. Nicht zu vergessen einige frische Laibe Brot, die der Bäcker ausnahmsweise Sonntag früh backen würde und die dann noch Platz in einigen der großen Körbe finden würden.
Der Pfarrer schaute mit leuchtenden Augen auf den stattlichen Berg Obst, Gemüse und Kartoffeln. Selbst die drei Müller des Dorfes hatten einige Säckchen feinstes Mehl beigesteuert. Alles in Allem erstaunlich, wo man hier doch allgemein seinen Wohlstand wohlweislich nicht zur Schau stellte.
"So Kinder," ließ sich Lehrer Rothe vernehmen, "nachdem nun alles offensichtlich zur Zufriedenheit unseres lieben Pfarrers vorbereitet ist, wollen wir mal noch ein bisschen was lernen. Ab zur Schule!"
Und er breitete seine Arme aus, um die Mädchen und Jungen wie eine Herde Schafe aus der Kirche zu treiben. Im Hinausgehen hörten sie noch den begeisterten Pfarrer:
"Der Herr dankt Euch allen für die guten Gaben. Und alle armen Seelen auch. Der Herr segne Euren Tag!"
Während die Kinder der Schule zustrebten, komplimentierte der Pfarrer nun Küster und Gemeindeschwester hinaus und verschloss die Tür der Kirche. Man konnte ja nie wissen.
Die Lehrer der Dorfschule hatten sich darauf verständigt, mit den Kindern heute nicht so streng zu sein. Die meisten Jungen und Mädchen waren in den vergangenen Wochen nach der Schule in jeder freien Minute als Erntehelfer eingesetzt gewesen, hatten oft schon vor dem Unterricht Ställe ausgemistet und die Tiere versorgt, empfindliche Früchte im Garten geerntet und die Pflanzen gegossen. Sie waren schmal und vor Müdigkeit ganz blass, was ihre dunklen Augenringe noch mehr hervortreten ließ. Ein wenig taten sie den Lehrern leid, aber sie wussten auch, dass das Leben hier in den Dörfern nicht anders zu meistern war. Jeder war hier gefordert, bis an seine Grenzen zu gehen und oft genug darüber hinaus.
Das morgige Fest, das traditionell seit Hunderten von Jahren begangene Erntedankfest, war natürlich der ehrlich gemeinte Dank an den Einen oder auch mehrere Gottheiten, die nach ihrer Vorstellung über die Naturgewalten geboten, und die es dieses Mal gut mit ihnen gemeint hatten. Es war aber auch ein Fest für sie selbst, zu sehen, wie viel sie bewältigt hatten, und dass sie es zusammen in den Familien und manches davon in der dörflichen Gemeinschaft geschafft hatten. Jeder hatte hier seine Aufgabe und hatte sie offenbar erfüllt. Jetzt war die Zeit, einen kurzen Moment inne zu halten, erschöpft, aber dankbar und glücklich zu sein, zu feiern und zu singen, und so einmal ihren Gefühlen etwas freieren Lauf zu lassen.
All dies bedenkend ließen die Lehrer ihre Schülerinnen und Schüler kurz die Vielfalt und Besonderheiten der Früchte aufzählen, die als Gaben Eingang in die Kirche gefunden hatten. Dann folgte eine Übungsstunde in Gesang. All die Dankeslieder, die morgen in der Kirche erklingen sollten, konnten noch ein wenig Übung und Feinschliff vertragen. Dies jedoch war eine Aufgabe, zu der sie die Kinder nicht besonders antreiben mussten. Da nicht alle Kinder in einen Klassenraum passten, versammelten die Lehrer sie im großen Garten hinter dem Schulhaus. So war ihr Gesang weithin zu hören und erinnerte auch den Letzten im Dorf daran, dass morgen ihr gemeinsamer großer Festtag war.
Emma war am Sonntag wie immer früh auf den Beinen. Als sie in die Küche trat, war der Frühstückstisch für die Familie bereits gedeckt und die Mutter steckte gerade mit ihren Händen in einem Kuchenteig, den sie knetete und wendete, ein wenig mit Mehl bestäubte, ihn anhob und mit Schwung zurück auf die Arbeitsfläche knallte. Die runde Kuchenform war bereits gefettet und daneben stand eine Schüssel voller aufgeschnittener und entsteinter Pflaumen.
"Papa und die Jungs kümmern sich gerade um das Vieh. Sie müssten aber bald fertig sein. Du kannst also schon mal den Rest vorbereiten."
Emma warf noch einen Blick auf den Esstisch und machte sich an die Arbeit. Sie setzte Wasser zum Kochen auf den bereits heißen Herd, einen Topf voll für den Getreidekaffee und einen weiteren für Frühstückseier. Ja, tatsächlich, die Mutter hatte Eierbecher auf den Tisch gestellt, für jeden von ihnen, und nicht nur, wie es manchmal vorkam, lediglich für den Vater und vielleicht noch die beiden Jungs. Emma verstand schon, dass diese draußen auf den Feldern und im Moor wirklich schwere Arbeiten zu verrichten hatten, aber die Arbeit zu Hause und im Garten empfand sie nicht als leicht. Und sie fand nie ein Ende.
Doch jetzt war Zeit, sich über die außergewöhnlichen Leckereien zu freuen. Emma holte Butter, Käse, Wurst, Marmelade und Eier aus der kühlen Speisekammer, schnitt Brot auf und bereitete warme Milch für sich und ihre Geschwister. Sie wollte gerade in den Stall gehen, um sie zu holen, als sie das Quietschen der Wasserpumpe hörte. So rief sie nur nach hinten hinaus.
"Frühstück ist fertig!"
Minuten später saßen sie alle um den Frühstückstisch und ließen es sich schmecken. Emmas Mutter hatte den Pflaumenkuchen inzwischen fertig vorbereitet und in den Backofen geschoben. Außerdem hatte sie, zusätzlich zur üblichen Leber- oder Mettwurst, ein Stück Schinken auf den Tisch gestellt. Und während sie alle schweigend, ja beinahe andächtig, aßen, wehte ihnen schon der Duft der nachmittäglichen Schleckerei um die Nase. Einen solchen ruhigen Moment gemeinsamer Zufriedenheit, ja eines bescheidenen Glücks, erlebten sie nur selten. Selbst die Mutter, die sonst jeden wieder zur Arbeit antrieb, der sein Frühstücksbrett geleert hatte, musste das wohl spüren, denn sie ließ sie gewähren, schenkte allen Muckefuck und Milch nach und schimpfte auch nicht, als Willi sich ein Zuckerbrot machte. Auf dem ofenfrischen Krustenbrot schmeckte eine üppige Lage Butter, ordentlich bestreut mit Zucker, offenbar besonders gut. Emma schüttelte sich leicht. Sie bevorzugte Marmelade auf nicht zu viel Butter. Aber heute war alles gut, auch ein außergewöhnlicher Appetit war heute offenbar erlaubt.
Emma schaute immer wieder zur Uhr. Schließlich, die Anderen machten immer noch keine Anstalten, die Frühstücksrunde aufzulösen, erhob sie sich.
"Ich muss jetzt die Blumen schneiden und dann zur Kirche."
"Die Federastern, ich weiß", sagte ihre Mutter, "die Dahlien blühen jetzt schön. Davon kannst du auch welche nehmen."
"Oh, danke, Mama!"
Emma griff sich einen Korb und ein scharfes Messer und ging in den Garten, um die schönsten und frischesten Blumen, die sie finden konnte, für den Schmuck der Kirche abzuschneiden. Auf der angrenzenden Wiese entdeckte sie ein paar besonders schöne Gräser sowie gerade voll erblühte Schafgarbe. Beides landete auch im Korb. Zufrieden ging sie zurück ins Haus, erfrischte sich kurz und machte sich auf den Weg zur Kirche. Jenseits ihres Schleichweges gesellte sich bereits Gertie zu ihr, die leuchtend gelbes Sonnenauge und große weiße Margeriten dabei hatte.
"Die sind aber schön," meinte Emma anerkennend.
Gertie strahlte und beide beeilten sich, denn sie wollten noch genug Zeit haben, die Blumen schön zu arrangieren. Und sie wussten nicht genau, was für Blumen noch von anderen beigesteuert werden würden.
Das Kirchenportal stand auch heute weit offen, so dass die beiden Mädchen sofort mit ihrer Arbeit beginnen konnten. Zuerst füllten sie die Vasen mit Wasser. Auf dem Altar sollten traditionsgemäß zwei Sträuße Federastern stehen, die wunderbar zu den Farben der Wandmalereien der Kirche passten. Die Sträuße am Portal durften größer und bunter sein. Ein großer Strauß in allen Rottönen leuchtender Bartnelken sowie einige letzte Rispen blau strahlenden Rittersporns ergänzten Emmas und Gerties Blumen und Gräser. Und am Ende hatten die Mädchen bei aller Verschiedenheit an Farben und Formen doch gemeinsam harmonische Arrangements geschaffen, die allen Kirchenbesuchern heute ein fröhliches Willkommen sein würden.
"Das habt ihr aber schön gemacht," ließ sich die Gemeindeschwester anerkennend vernehmen, "damit ist jetzt fast alles fertig vorbereitet. Ihr könnt euch erst mal da vorn setzen, bis euer Lehrer da ist. Ihr singt doch alle im Chor mit?"
Die so angesprochenen Mädchen nickten und setzten sich auf die Bank. So konnten sie noch einmal in aller Ruhe die wunderschöne Erntekrone und die Pyramide aus Früchten vor dem Altar bewundern.
Langsam begann sich das Kirchenschiff zu füllen. Aus allen Richtungen kamen die Familien. Sonntäglich herausgeputzt schritten sie würdevoll zu den Bankreihen und nahmen Platz. Etwas hastiger gestaltete sich die Ankunft von Bäcker Hörnig, der ein Dutzend frischer Brotlaibe brachte und diese an passenden Stellen der Pyramide ablegte. Ihm stand noch die Hitze seines Backofens im Gesicht und er tupfte sich sorgfältig die Schweißperlen ab, bevor er sich niedersetzte.
Der vom Sauerteig geprägte Duft des dunklen, doppelt gebackenen Krustenbrotes zog bis in den letzten Winkel und wehte ihnen allen verführerisch um die Nase. So mancher hätte auf der Stelle ein zweites Frühstück verdrücken können.
Aber dafür war das alles hier nicht gedacht. Natürlich hielt der Pfarrer zuerst den Gottesdienst, unterstützt vom Chor der Mädchen und Jungen, die sich unter Anleitung des Lehrers Brandes gehörig ins Zeug legten. Jedenfalls sorgten sie dafür, dass auch jene, die sich nach noch einer Mütze voll Schlaf sehnten, hellwach blieben, so dass sie der Predigt des Pfarrers aufmerksam lauschen konnten. Der kam nun zum Schluss seiner mäßig langen Rede.
"Meine liebe Gemeinde, ich freue mich sehr über die großzügigen Gaben. Wir alle wissen, dass eine so reiche Ernte nicht selbstverständlich ist. Andere hatten nicht so viel Glück, auch in unserem Dorf nicht."
Er räusperte sich.
"Jeder kennt hier jeden und jeder weiß, wessen Haus gesegnet wurde und wessen nicht. Und wie immer und wie es bei uns üblich ist, teilen wir den Reichtum mit den Glücklosen. Wir haben eine Liste gemacht und versucht, alle Gaben so gerecht wie möglich zu verteilen. Wendet euch direkt nach dem Gottesdienst an die Schwester und den Küster. Und schämt euch nicht. Jeden kann einmal ein Unglück treffen."
Die so Angesprochenen wussten dies sehr gut und fühlten sich dennoch nicht wohl in ihrer Haut. Sie wussten eben auch, wie viel Arbeit und Mühe in jeder Feldfrucht steckte und sie hassten es, jemandem, insbesondere der Allgemeinheit, etwas schuldig zu sein. Es machte sie klein und hilflos, was sie nicht waren. Jedenfalls nicht immer.
Scheu die Einen, trotzig die Anderen, reihten sie sich zum Abendmahl ein, das sie immerhin gemeinsam mit allen einnehmen durften, auch wenn es sonst im Dorf durchaus Leute gab, die sie schnitten. Und während des Schlussgesanges des Chores fassten sie Mut, um anschließend die für sie vorgesehenen Gaben abzuholen, für die sie trotz allem dankbar waren und die ihre Familien so dringend brauchten. Die himmlisch duftenden frischen Brotlaibe gingen an die allerärmsten Familien des Dorfes, die diese besonders genießen würden, konnten sie sich sonst doch nur die altbackene Ware des Bäckers leisten.
Für Emma und ihre Familie klang dieser Festtag mit Kaffee und Kuchen am Nachmittag aus, zu dem sich Tante Thea mit Mann und Kind einfand, die einen selbst gebackenen Butterkuchen beisteuerte, belegt mit gehackten Mandeln und Hagelzucker, der sich auf dem noch warmen Kuchen in den Pfützen der geschmolzenen Butterflocken sammelte, dort selbst fast flüssig wurde und abgekühlt eine zarte Zuckerkruste bildete, die Vollendung für den meisterhaft lockeren und trotzdem saftigen Hefeteigboden.
Die Kinder genossen die Leckereien in der Küche, denn der Platz im Wohnzimmer reichte für sie alle nicht aus. Danach hatten sie endlich, nach langer Zeit, wieder etwas Zeit zum Spielen, und Emma ließ mit der Handpuppe und einigen selbst gebauten Stabpuppen, stärkere Zweige von Bäumen, denen sie Stoffreste umgehängt hatten und deren Köpfe aus leeren, bemalten Streichholzschachteln bestanden, ein Märchen der Gebrüder Grimm lebendig werden, was ihre Geschwister begeistert beklatschten.
Am frühen Abend löste sich die fröhliche Runde wieder auf, denn jeder hatte zu Hause Tiere zu versorgen und bereitete sich in Gedanken auf den nächsten Arbeitstag vor.