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Die Tage und Wochen im Hospital vergingen. Sie waren durchwachsen. Eines jedoch wusste Emma genau. Ohne Irene und ihre Handpuppen hätte sie sich trotz all der Verrichtungen, Waschen, Essen, ärztlichen Untersuchungen und Therapie-maßnahmen, hier zu Tode gelangweilt. Sie alle freuten sich auf die Sonntage, wenn Besuchstag war. Emmas Vater war an ihrem ersten Besuchswochenende tatsächlich zu ihr gekommen. Ganz verlegen stand er plötzlich, angetan mit der vorgeschriebenen Schutzkleidung, am frühen Nachmittag in der Tür. Er musste zweimal in die Runde gucken, ehe er Emma endlich entdeckt hatte. Irgendwie sahen die Mädchen in ihren Krankenhausnachthemden in den riesigen Krankenhausbetten alle gleich aus. Auch Emma stutzte zuerst, als sie ihn sah. Dann erkannte sie aber doch seinen Schnurrbart und seine blitzenden kleinen Augen unter den kräftigen Brauen. Und ganz und gar unverkennbar trug er ihr Weidenkörbchen, mit dem sie immer Früchte sammeln ging.

Sie winkte ihn zu sich und deutete auf den Stuhl am Fußende des Bettes. Der Vater zog ihn im Vorbeigehen an die Bettseite, setzte sich langsam und vorsichtig darauf und reichte ihr das Körbchen. Erdbeeren! Die größten und reifsten Früchte, die ihre Stauden zu bieten hatten. Offenbar waren sie erst vor kurzem gewaschen worden, denn sie lagen auf einem Leintuch, das Spuren von Feuchtigkeit zeigte und das Emblem des Krankenhauses trug.

"Oh, Papa, danke, ich freue mich so. Ich hab schon gedacht, von denen kriege ich dieses Jahr gar nichts ab!"

Da musste ihr Vater lachen und entspannte sich endlich etwas. Er wies mit der Hand in die Runde.

"Das ist ganz schön ungewohnt. Mutter hat zwar schon etwas erzählt. Aber richtig vorstellen konnte ich mir das nicht. Wann kommt unsereiner schon ins Krankenhaus? Wir alle hoffen nur, dass du bald wieder gesund wirst. Ich soll dich von allen schön grüßen. Sogar dein Lehrer wünscht gute Besserung. Ich hab ihn vorhin zufällig am Bahnhof getroffen. Er wollte wohl einen Ausflug in die Stadt machen. Naja, er hat noch keine Familie."

Es folgten einige Neuigkeiten von ihrer Verwandtschaft, die Emma bald wieder vergaß. Nur an die Geschichte von Willi erinnerte sie sich, der gerade seine ersten Milchzähne verlor und die kleine Thea dauernd mit seinen schrecklich grauslichen Zahnlücken erschreckte. Thea war noch so klein, dass sie jedes Mal wieder darauf hereinfiel und manchmal in Weinen ausbrach. Emma konnte sich lebhaft vorstellen, wie dann ihre Mutter Willi eine Ohrfeige verpasste oder mit dem Reisigbesen hinter ihm her jagte. Vergeblich natürlich. Willi war viel schneller. Er hatte ja auch Hosen an, die beim Laufen nicht behinderten.

Die Frauen trugen knöchellange, die Mädchen mindestens wadenlange Kleider und Röcke, die üppig in Falten gelegt viel Stoff bargen, dazu natürlich Unterröcke und so weiter. Kein Wunder, dass Emma sich öfter hässliche Dreiangel in den Stoff gerissen hatte, wenn sie einem dornenbewehrten Strauch zu nahe gekommen war. Sie beneidete die Jungs glühend um diese praktischen Hosen und hätte sich gern genauso ungezwungen bewegt wie sie.

Bewegung! Laufen!

Sie wollte wieder laufen! Unbedingt!

"Na, wo bist du gerade mit deinem Kopf?" fragte ihr Vater.

"Entschuldigung! Willi soll seine ausgefallenen Milchzähne gut aufheben. Das soll Glück bringen!"

Der Vater lachte.

"Ich werde es ausrichten."

Dann stellte Emma ihrem Vater Irene vor, deren Eltern auch bald auftauchen würden, und erzählte ihm von ihren Handpuppen. Irene spielte mit und ließ für Emmas Vater eine kurze Szene aus "Hänsel und Gretel" erstehen, wobei der Kasper das Hänsel gab und das Gretel sozusagen sich selbst spielte, die jüngere Ausgabe, versteht sich.

Emmas Vater staunte sehr, dass sie hier solche Puppen hatten. Aber Irene als Tochter eines Lehrerpaars und die Puppen selbst gebaut, das verstand er dann. Und kam ins Grübeln, was er seinen Kindern eigentlich bieten konnte. Andererseits, wozu? Niemand von ihnen würde je die Möglichkeit haben, etwas anderes zu tun und zu sein als ihre Vorfahren. Das war seit Jahrhunderten und vielen Generationen so. Wie hätte sich das auf einmal ändern sollen?

Der Vater dankte lächelnd für die nette Aufführung, nahm dann Emmas Hände und strich ihr eine Haarsträhne aus der Stirn. Was dieses Kind alles im Kopf hatte. Es erinnerte ihn an seine eigene Kindheit und die Ideen, die er damals hatte. Wo waren diese Träume geblieben? Vom Alltagsleben aufgefressen?

"Emma, ich muss zum Zug. Nächste Woche kommt Mutter dich besuchen. Wir wechseln uns ab, damit immer einer auf die Kleinen aufpassen kann. Deiner Tante können wir das nicht immer zumuten, die hat selbst genug um die Ohren. Und arbeiten müssen wir ja auch."

Emma nickte verständnisinnig, sagte ihrem Vater Tschüss, richtete ebenfalls Grüße an die Familie aus und entließ ihren Vater so, wie sie ihn empfangen hatte, mit einem Winken.

Irenes Eltern hatten sich inzwischen auch am Krankenbett ihrer Tochter eingefunden und die wichtigsten Neuigkeiten waren ausgetauscht. Als diese hörten, dass Irene in Emma offenbar eine Freundin gefunden hatte, freuten sie sich sehr.

"Wie ist es", fragte Irenes Vater an sie beide gewandt, "soll ich noch mehr von den Handpuppen mitbringen?"

"Au ja", ertönte es unisono aus beiden Betten und beide Mädchen strahlten ihn begeistert an.

"Und wie ist es mit dem Lesen? Emma, wie gut geht das bei dir?"

Emma nickte.

"Das geht schon ganz gut."

"Na fein, da ihr ja noch eine ganze Weile hierbleiben müsst, werde ich auch noch einige Bücher mitbringen. Dann könnt ihr euch gegenseitig vorlesen."

"Das ist eine gute Idee!" meinte auch Irenes Mutter, die dabei daran dachte, wie viel Unterricht in der Schule die Beiden durch ihre Krankheit verpassten, und dass sie so wenigstens das Lesen üben konnten, und die Sache war beschlossen.

Emma und Irene waren glücklich mit den Handpuppen und den Büchern. Wenigstens ihre Phantasie führte sie so aus der Enge dieser Betten und Räume hinaus.

Einige Nächte später wurde Emma mitten in der Nacht durch lautes Husten geweckt. Luci keuchte erbärmlich. Während der letzten Wochen schien es ihr besser zu gehen. Die Schmerzen hatten deutlich nachgelassen und sie konnte ihre Beine schon wieder etwas bewegen. An diesem Abend aber hatte sie über Unwohlsein geklagt und Schwester Clara hatte leichtes Fieber festgestellt. Die Nachtschwester, die aufgrund der Risiken der Krankheit ein besonderes Auge auf dieses Krankenzimmer hatte, rief sofort nach dem Arzt, der gleich herbeieilte. Sie lagerten Luci hoch, damit sie leichter atmen konnte. Sie wurde etwas ruhiger. Doch dann, ganz plötzlich, wurde ihr Oberkörper ganz steif. Ihr Gesicht lief dunkelrot an, der Mund weit offen, starrte sie mit angstvoll großen Augen auf die Menschen, die ihr helfen wollten. Der Arzt blickte in die Runde.

"Wir müssen sie hier rausbringen, schnell!"

Sie schoben Lucis Bett aus dem Raum, darauf bedacht, ihren Anblick vor den anderen Mädchen zu verbergen. Und die, mittlerweile alle hellwach und nicht dumm, schwiegen betreten. Als Luci am nächsten und auch am übernächsten Tag nicht zurückkam, zogen sie den richtigen Schluss, dass ihre kleine Freundin nie wieder zurückkehren würde.

Weitere drei Tage später zog bereits eine neue Patientin bei ihnen ein.

Eines Morgens, Emma mochte inzwischen gut vier Wochen im Krankenhaus sein, und so allmählich kam ihr das Zeitgefühl abhanden, stand nach dem Frühstück Schwester Clara mit zwei Pflegern in der Tür.

"Hallo, Mädchen, hört bitte mal her. Franz und August werden euch in diesem Raum ein wenig zusammenschieben. Hier müssen noch zwei Betten rein. Es kommen neue Patientinnen."

Die beiden neuen Mädchen waren fünf und sechs Jahre alt und sehr verschüchtert. Außerdem schienen sie heftige Schmerzen zu haben, denn sie weinten fast ständig leise vor sich hin.

Emma und Irene schauten sich an und packten die Puppen aus. Während der vergangenen Wochen hatten sie alle Märchen, die sie kannten, nachgespielt und sogar ein paar neue Geschichten erfunden. Die anderen Mädchen in ihrem Zimmer waren immer wieder begeistert gewesen und hatten gelacht. Die Eine oder Andere hatte sogar versucht, selbst mitzuspielen. Am besten funktionierte das Zusammenspiel aber zwischen Emma und Irene, die sich inzwischen quasi blind verstanden.

Als jetzt der lustige und tapfere Kasper das böse Krokodil trotz seiner großen scharfen Zähne mit einer mächtigen Keule in die Flucht schlug, schauten auch diese zwei gepeinigten kleinen Wesen gebannt zu. Das Weinen hatte aufgehört, der Schmerz schien vergessen.

Schwester Clara hatte das bemerkt, trat zwischen Emmas und Irenes Bett und flüsterte:

"Gut gemacht!"

Und dabei steckte sie jedem von ihnen einen Karamellbonbon zu.

Die zwei neuen Mädchen waren gerade richtig eingewöhnt, als weitere Patientinnen angemeldet wurden. Aus allen Himmelsrichtungen kamen sie nun. Nicht nur, dass sie keinen Platz mehr auf ihrer Station hatten, bisher wusste immer noch niemand, wie man dieser Krankheit Einhalt gebieten konnte. Alle Anzeichen sprachen dafür, dass sie mit einer Epidemie rechnen mussten. Selbst aus England und Nordamerika wurde bereits von solchen Krankheitswellen berichtet.

Es entstand eine Unruhe unter den Ärzten und Schwestern, die auch die Patienten spürten, ohne dass ihnen der Grund dafür genannt worden wäre. So waren Emma, Irene und die anderen größeren Mädchen nicht überrascht, als Schwester Clara eines Morgens erneut in der Tür stand, um ihnen eine Änderung mitzuteilen.

"Wir haben ein weiteres Krankenzimmer für Polio-Patientinnen eingerichtet. Es ist kleiner als dieses, aber besser als nichts. Die vier von euch, die wahrscheinlich nicht mehr ansteckend sind, werden dorthin verlegt. Ihr werdet noch vor dem nächsten Wochenende umziehen."

Sie nannte noch die Namen der vier Kandidatinnen und wandte sich dann wieder ihren üblichen Verrichtungen zu. Emma und Irene schauten sich an und grinsten. Sie gehörten zu diesen vier und freuten sich wie die Schneekönige, dass sie nicht auseinander gerissen wurden.

Freitag früh war es dann soweit. Die Schwestern packten die Sachen der Umzügler ein und Franz und August rollten sie in ihren komfortablen Betten in das neue Zimmer. Eilig wurden die Habseligkeiten der vier kleinen Patientinnen an Ort und Stelle eingeräumt und der Krankenhausalltag ging weiter.

Emma allerdings staunte, denn sie fanden sich in einem Eckzimmer wieder, das von zwei Seiten von der Sonne durchflutet wurde. So viel Helligkeit in einem Innenraum hatte Emma noch nie erlebt. Es gab sogar einen kleinen Erker in der Außenecke. Am liebsten hätte sie sich sofort dort hinein begeben, um die Welt da draußen zumindest auf drei Seiten um sich zu haben, war sie doch seit Wochen nicht an der frischen Luft gewesen. Von rechts nickten die langen Zweige eines Kastanienbaumes herein und von links unten streckten sich die Blütendolden eines weißen Flieders herauf. Wie sie es vermisste, draußen in der Natur herumzuspringen!

Schwester Clara klatschte in die Hände und riss Emma unsanft aus ihrem Traum.

"Da ihr vier wohl nicht mehr ansteckend seid, dürft ihr ab der nächsten Woche bei schönem Wetter ein paar Stunden in den Garten. Wir bringen euch mit Rollstühlen hinaus und Schwester Gertrud wird euch ein wenig beschäftigen. Aber ich denke, allein schon die frische Luft und die Sonne werden euch gut tun."

Die Mädchen freuten sich sehr, brachte dies doch endlich etwas mehr Abwechslung in ihren Klinikalltag. Sicher, ihre Eltern kamen regelmäßig an den Sonntagen, manchmal mit kleinen Überraschungen, wie Emmas Mutter neulich mit einem Rhabarberkuchen, und sie tauschten alle Neuigkeiten aus. Aber immer im selben Zimmer eingesperrt zu sein, fanden sie schon ziemlich öde.

Der Montag machte ihnen einen Strich durch die Rechnung, denn es gewitterte und stürmte, dass die Kastanie draußen ihnen fast das Fenster einschlug. Aber Dienstagnachmittag war es soweit. Die Mädchen wurden angekleidet, in die Rollstühle gesetzt und bekamen zusätzlich noch eine Wolldecke über die Knie gelegt. Franz und August, Schwester Gertrud und Schwester Clara bildeten mit ihren vier Patientinnen eine kleine Karawane und fuhren den Flur entlang zu einem hinteren Ausgang, der den Mädchen neu war. Von dort führten einige Stufen hinunter in den Garten. Seitwärts jedoch gab es eine Rampe, über die man bequem mit einem Rollstuhl heraus und herein fahren konnte.

Der Garten der Klinik war gar nicht so klein. Es gab einige große Bäume, Kastanien, Linden und Buchen, hier und dort eine Gruppe blühender Sträucher, dazwischen Rasenflächen. Ein paar Kieswege verbanden das Haus mit den anderen Gebäuden auf dem Gelände. Es gab zahlreiche Bänke, auf die sich Patienten setzen konnten, um sich auszuruhen oder die Sonne zu genießen.

Die vier Mädchen fanden sich rasch auf der Rasenfläche im Halbschatten großer Bäume wieder, wo ihre Rollstühle zu einem Kreis gruppiert wurden. Wind strich durch die Zweige, so dass die durch das Blätterdach hereinfallenden Sonnenstrahlen mit den Bewegungen der Blätter flimmerten und flirrten. Es war wunderbar warm hier draußen, auch wenn sie nicht in die pralle Sonne durften, um einen Sonnenbrand zu vermeiden.

Schwester Gertrud eilte zum Haus zurück und trat Minuten später mit einem Korb wieder zu ihnen, in dem sich einige nicht zu große Bälle befanden. Sie gab jedem von ihnen einen in die Hand.

"Also gut, Mädels, für den Anfang übt jede allein hochwerfen und fangen, damit ihr euch wieder an Bewegung gewöhnt und ein Gefühl für den Ball bekommt. Und nachher werden wir sehen, was wir in der Gruppe machen können."

Sowas einfaches, dachte Emma, warf ihren Ball in die Luft und streckte ihre Arme aus, um ihn wieder aufzufangen. Das klappte ein paar Mal, auch bei den anderen Mädchen. Emma wurde mutiger und warf den Ball höher. Diesmal erhielt der Ball einen leicht seitlichen Drall und sie musste sich strecken und in der Hüfte neigen, um ihn gerade noch zu erreichen. Sie spürte den Zug bis in die Oberschenkel und fürchtete schon, ihre Muskeln würden sich schmerzhaft verkrampfen, so wie sie es besonders am Anfang ihrer Krankheit immer wieder erlebt hatte. Aber nein, ihre Muskeln sprachen an, ohne ein Schmerzgewitter auszulösen. Sie versuchte es noch einmal. Keine Probleme. Emma horchte tief in sich hinein, ob da nicht doch irgendwo der Schmerz auf der Lauer lag. Aber da war nichts. So keimte leise Hoffnung in ihr.

"Gut, jetzt probieren wir etwas anderes."

Schwester Gertrud sammelte alle Bälle bis auf einen wieder ein und wandte sich erneut an die Mädchen.

"Und jetzt werft ihr euch gegenseitig den Ball zu. Seitwärts oder gegenüber, immer schön abwechselnd."

Also flog der verbliebene Ball nun von Mädchen zu Mädchen, zaghaft und vorsichtig zuerst, doch dann immer mutiger. Emma fühlte sich so wohl wie schon lange nicht mehr.

Nach einer halben Stunde beendete Schwester Gertrud auch dieses Spiel und hieß die Mädchen, tief durchzuatmen und dann ein wenig auszuruhen.

Kurz darauf rollten sie schon zurück in ihr Zimmer und wurden wieder zu Bett gebracht. Ein Kurzeinsatz der lästigen Bettpfannen und neue warme Umschläge für die Beine waren für sie fast schon zu viel. Emma dachte noch, komisch, dass so ein bisschen Ball spielen so anstrengend sein kann, da schlief sie bereits tief und fest.

Während der folgenden Tage und Wochen übten sie weiter und gewannen an Kraft und Beweglichkeit.

"Schwester Gertrud, kann ich bitte noch einen oder zwei Bälle bekommen? Ich möchte etwas probieren."

Sofort waren alle Augen auf Irene gerichtet, die diesen Wunsch energisch ausgesprochen hatte.

"Was hast du denn damit vor?" fragte Schwester Gertrud erstaunt, reichte ihr aber gleichzeitig zwei weitere Bälle.

Irene setzte sich in ihrem Rollstuhl ganz gerade und hielt alle Bälle in der Hand. Und dann fing sie an, diese zu werfen, immer kurz nacheinander flogen sie von einer Hand hoch, um mit der anderen wieder aufgefangen zu werden. Ganz langsam hatte sie angefangen und die Bälle immer in die eine Richtung geworfen. Doch jetzt wechselte sie die Hand und wurde etwas schneller.

Irene jubelte.

"Ich kann es noch! Das müsst ihr unbedingt auch mal probieren!"

Sie alle, Schwester Gertrud eingeschlossen, staunten, dass Irene jonglieren konnte. Sie hatten wohl gehört, dass es im Zirkus Leute gab, die das konnten, aber gesehen hatten sie das noch nie. Irene erklärte ihnen, wie sie es lernen konnten, konzentriert und erst mal nur mit zwei Bällen. Und ab sofort gehörte Jonglieren zu ihrem Trainingsprogramm.

Da den Mädchen der Aufenthalt an der frischen Luft offenbar gut tat, durften sie nach ihren Übungen noch eine Weile im Garten bleiben, lasen sich gegenseitig Geschichten vor oder spielten diese mit Irenes Handpuppen. Sie waren dabei so fröhlich und ausgelassen, dass man ihre Krankheit darüber glatt vergessen konnte.

Und dann kam der Tag, an dem Schwester Gertrud, unterstützt durch Schwester Clara, mit den Mädchen das Aufstehen aus dem Rollstuhl zu üben begann. Sie taten sich schwer, denn ihre Beine wollten sie partout nicht tragen. Immer wieder fielen sie zurück in den Sitz. Aber dann, eines Tages, blieb Irene stehen. Die Beine gehorchten ihr tatsächlich und, gestützt durch Schwester Gertrud, konnte sie drei, vier Schritte gehen. Drei Wochen später war auch Emma so weit.

Von nun an wurden sie alle gezielt im Stehen und Gehen trainiert. Irene und Emma machten rasche Fortschritte und auch die anderen Mädchen schafften es schon bald, wieder auf den eigenen Füßen zu stehen. Emmas Kräfte allerdings reichten nicht, um sie eine längere Strecke zu tragen und selbst, wenn sie gerade den dritten oder vierten Schritt tat, hatte sie oft das Gefühl, die Beine wären aus Gummi und könnten ihr jeden Moment wegknicken. Sie und die anderen Mädchen bekamen Krücken, die sie im Notfall benutzen konnten oder zwischendurch, um sich einen Moment auszuruhen.

Wenn es draußen regnete, gingen sie in ihrem Zimmer auf und ab. Sobald es ihre Kräfte und die Schwestern erlaubten, wanderten sie den Krankenhausflur entlang. Als Emma zum ersten Mal den Weg bis zu den Toilettenräumen in der Mitte des langen Korridors geschafft hatte, war sie mächtig stolz und hätte sie am liebsten sofort benutzt. Sie erinnerte sich gerade noch rechtzeitig an ihre Hygiene-Regeln und rief nach einer Schwester.

"Sehen Sie, ich schaffe den Weg hierher ganz gut. Können wir nicht hier auf die Toilette gehen? Die Bettpfannen sind nicht schön."

Emma rümpfte die Nase dabei so unmissverständlich, dass die herbeigeeilte Schwester lachen musste. Schwester Renate war neu auf der Station und wollte das nicht entscheiden, doch sie würde nachfragen. Ein paar Tage später war eine dieser Toiletten mit einem großen Schild verziert: "Nur für die Patientinnen von Raum 9 - Ansteckungsgefahr!"

Ansteckungsgefahr! Dieser letzte Hinweis war nunmehr stark übertrieben, aber so konnten sie sicher sein, dass die Mädchen hier jederzeit Zutritt hatten. Und die Schwestern waren dankbar, dass sie ein paar Bettpfannen und Waschschüsseln weniger zu handhaben brauchten.

Als die Blätter der großen Bäume anfingen, in ihren herbstlichen Farben zu erstrahlen, kündigte Schwester Clara an, dass die ersten Patientinnen bald entlassen werden könnten.

Steter Wind

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