Читать книгу Steter Wind - Ute Baran - Страница 4
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ОглавлениеFast siebzig Jahre. Nicht viele ihrer Vorfahren waren älter geworden und sie fragte sich ernsthaft, ob das überhaupt erstrebenswert sei. Sie sah wieder das Haus ihrer Eltern vor sich, einen alten dunklen Ziegelbau an einer der Hauptstraßen des Dorfes, den kleinen Stall, der sich direkt an die Wohnräume anschloss, dann den großen Gemüsegarten, der hinten heraus abfiel und an die Wiesen des Flusses grenzte, der im Frühjahr regelmäßig über das Ufer trat und dann auch ihren Garten zu fast einem Drittel überflutete. Sie stammte aus einer armen Häuslerfamilie. Die Mutter und ihre Schwestern besorgten den Haushalt und den Garten, sofern sie nicht Arbeit in einem anderen Haushalt hatten oder auf den Feldern. Die Mutter kannte sich außerdem in Geburtshilfe aus und wurde zunehmend um Beistand gebeten, wenn irgendwo im Dorf der Nachwuchs mit Macht in diese Welt drängte. Der Vater und die Brüder verdingten sich bei den Bauern der Umgebung, arbeiteten auf den Feldern, im Wald oder im Moor. Drei Schwestern, zwei Brüder und sie selbst hatten die Zeiten des Mangels überlebt. Ihre Eltern hatten sie immerhin zur Schule geschickt, um sie nach besten Kräften auf das Leben hier vorzubereiten.
Emmas erster Schultag. Wie lange war das schon her und was hatte sich seitdem nicht alles verändert. Sie war die Älteste unter ihren Geschwistern, die Erste von ihnen, die eine Schule besuchen würde. Sie hatte ein wenig Angst davor. Aber sie war auch neugierig genug, sich zu freuen, als ihr Vater ihr eröffnet hatte, dass er sie nun dort zum achtjährigen Pflichtschulbesuch anmelden würde.
"Lesen und Schreiben und Rechnen, das ist das Mindeste, was man heute können muss," brummte er, als Emma ihn anstrahlte.
Ihre Röcke und Kleider wurden durchgesehen, ob sie auch in Ordnung waren. Emma war ein rechter Wildfang und kam schon mal mit einem Loch im Rock wieder heim. Und sie wuchs so schnell, dauernd mussten die Kleider ausgelassen oder gar neue genäht werden. Es gab auch ein paar neue Holzpantinen. Die alten waren ihr schon seit einiger Zeit zu klein, so dass sie es oft vorgezogen hatte, barfuß zu laufen, zumindest zu Hause und in ihrem eigenen Garten. Nun würde sie sich nicht mehr ständig den großen Zeh stoßen.
Dann brauchte sie aber noch einen Schulranzen samt Schiefertafel und Griffelkasten. Sie wusste, dass diese Sachen ziemlich teuer waren und hatte deswegen ein schlechtes Gewissen gegenüber ihrer Familie. Eines Tages kam jedoch ihr Vater mit einem großen Paket unter dem Arm nach Hause und überreichte es ihr.
"Na, denn pack mal aus."
Ihr Vater grinste sie an und Emma ließ sich das nicht zweimal sagen. Mit ihren schmalen Fingern knüpfte sie den Bindfaden, der das Paket zusammenhielt, mühelos auf und rollte ihn für einen erneuten Gebrauch sorgsam zusammen. Sie entfernte mehrere Lagen Zeitungspapier, das ihr Vater ihr aus der Hand nahm und locker zusammenknüllte. Es würde noch gute Dienste beim Anfeuern des Küchenherdes leisten.
Der dunkelbraune Ranzen war aus wunderschön genarbtem Leder gemacht. Die Laschen hatten praktische Knebelverschlüsse und die Schulterriemen hatten so viele Löcher zum Verstellen der Länge, dass sie ihn vermutlich durch die gesamte Schulzeit benutzen konnte.
Der Griffelkasten aus Holz mit einem Deckel zum Aufschieben enthielt genug Griffel für mindestens ein Schuljahr. Und dann die Schiefertafel. Andächtig schaute Emma sie an und drehte und wendete sie in ihren Händen, immer darauf bedacht, damit nirgendwo anzustoßen oder sie gar fallen zu lassen. Diese Tafel war empfindlich und würde flugs in tausend Teile zerspringen. Sorgsam packte sie alles wieder in den Ranzen. Dann erst wandte sie sich ihrem Vater zu.
"Danke, danke! Aber woher hast du die?"
"Hinrichs Grete im Nachbardorf ist gerade mit der Schule fertig. Da sind keine kleineren Geschwister mehr, deshalb konnte ich ihnen die Sachen günstig abkaufen."
Er griff in seine Hosentasche und förderte noch ein kleines Päckchen zu Tage.
"Und hier ist noch eine Kleinigkeit."
Emma entfaltete auch dieses Geschenk und hielt zwei Schwämmchen an langen Kordeln in der Hand. Das nötige Tafelputzgerät. Sie befestigte es mit den Kordeln oben am Trageriemen des Ranzens. Sie mussten draußen hängen, um nach dem Gebrauch trocknen zu können und um ihr nicht die kostbaren Schulbücher zu verderben.
Ihr Vater schaute sie an.
"Elvers Minna holt dich Montag früh ab, dann könnt ihr zusammen zur Schule gehen."
Das war Emma recht. Minna ging schon in die dritte Klasse und konnte ihr bestimmt helfen, sich zurechtzufinden. Außerdem mochte Emma den Weg zur Schule nicht besonders und es würde angenehmer sein, ihn zu zweit zurückzulegen.
Am Montagmorgen stand Minna pünktlich um halb acht vor der Tür und klopfte. Emma, die vor lauter Aufregung die ganze Nacht kaum geschlafen hatte, war bereit und öffnete selbst die Tür. Die Mutter winkte kurz von Ferne und entließ ihre Tochter so in einen neuen Abschnitt ihres Lebens.
Minna, einen guten Kopf größer als sie, schaute auf sie herunter.
"Unser Lehrer ist Herr Rothe. Der ist ziemlich streng. Aber er kann manchmal auch tolle Geschichten erzählen."
Dabei nickte Minna eifrig mit dem Kopf, dass ihre blonden Zöpfe nur so flogen.
Sie wanderten Richtung Zentrum. Hier und dort gesellten sich weitere Kinder mit Schulranzen auf dem Rücken zu ihnen oder folgten in einigem Abstand. Entlang der Hauptstraße kamen sie einigermaßen zügig voran. Doch als sie die erste Brücke über den Bach überquert hatten und in den mittelalterlichen Dorfkern einbogen, geriet ihre Wanderung zum Hindernislauf. Überall vor den Häusern türmten sich riesige Misthaufen. Da hinter den Häusern kein Platz war, wurde der wertvolle Mist davor gesammelt, bis er als Dünger auf die Felder transportiert werden konnte, was vorzugsweise im Frühjahr und im Herbst geschah.
"Vorsicht, Kinder, hier kommt eine neue Fuhre!"
Der Knecht der Lohmeyers kam mit seiner gut gefüllten Karre geradewegs durch den Hausflur gefahren. Einen anderen Weg vom Hof zur Straße gab es nicht, denn die Häuser, Fachwerkhäuser zumeist, waren hier dicht aneinander gebaut. Nur an der Hauptstraße gab es einige Steinhäuser zwischen den traditionellen Fachwerkbauten. Die Häuser der neueren Ortsteile waren zu einem großen Teil aus Ziegeln errichtet worden. Es gab keine Bürgersteige, sondern in einigem Abstand von den Häusern Abflussrinnen in dem abschüssigen Kopfsteinpflaster, die auch das Regenwasser wegleiteten. Jetzt jedoch floss hier vor allem Gülle entlang.
Emma verzog das Gesicht und machte einen Satz zur Seite. An diesen ständig vorhandenen Gestank hatte sie sich Zeit ihres Lebens nicht gewöhnen können und auch nicht wollen. Er haftete an den Schuhen, mit denen sie unweigerlich irgendwo in den Mist tappten, er verlieh den Kleidern seinen Duft und kroch bis in jede Pore ihrer Haut. Noch so sorgfältiges Waschen konnte ihn nicht vertreiben. Er hing wie eine Glocke über ihnen und es gab kein Entkommen.
Die beiden Mädchen näherten sich dem Zentrum des Dorfes mit der Kirche, unter deren Obhut der Unterricht bis vor wenigen Jahrzehnten stattgefunden hatte. In deren Nebengebäuden, in der Kantorei und der Küsterei, waren die beiden Klassenräume lange Zeit untergebracht gewesen, einer für die Jungs und einer für die Mädchen. Das Dorf hatte jedoch zunehmend Schwierigkeiten, den dringend benötigten Lehrern Wohnraum zur Verfügung zu stellen. Der Nachfahre eines ehemaligen Besatzers, eines Offiziers der Armee Napoleons, war zu einigem Vermögen gelangt und er schätzte den Wert von Bildung. Er schätzte sie sogar so hoch, dass er ein geeignetes Haus im Dorfkern gekauft und in eine Schulstiftung eingebracht hatte. Dieses Fachwerkhaus aus dem frühen 17. Jahrhundert barg immerhin so große Räume, dass sie für den Unterricht der Dorfkinder ausreichten. Außerdem war im Obergeschoss eine Wohnung für einen Lehrer reserviert.
Da dieses der erste Schultag des neuen Schuljahres war, erwartete sie Herr Rothe bereits. Er stand mit seinem Zeigestock vor einer großen Wandtafel, ein Pult zwischen sich und den Sitzbänken der Schülerinnen.
"Die Neuen kommen hier zu mir. Alle anderen auf ihre alten Plätze!"
Ein ungeduldiger Ton, der keinen Widerspruch duldete. Zögernd trat Emma zu dem Lehrer, weitere elf Mädchen gesellten sich zu ihr, während sich ein schier endloser Strom von Kindern in den Raum ergoss. So viele Mädchen hatte Emma selten auf einem Haufen gesehen, nicht einmal bei den Familienfeiern. Unglaublich, wo die alle herkamen.
Die Schulbänke, an denen sie Platz nahmen, waren zweckmäßig und eng gebaut, damit alle Kinder Platz fanden, hier die Mädchen, im Raum gegenüber die Jungen. Die Wände waren weiß gekalkt und reflektierten das Sonnenlicht, das durch die Sprossenfenster hereinfiel. Immerhin hatten diese Fenster Oberlichter. Sie waren bedeutend größer als die in den Bauernhäusern üblichen, fast quadratischen Fensteröffnungen, und ließen so mehr Licht herein. Buchstabentafeln mit dem Alphabet hingen an der langen Wand der Innenseite, dazwischen einige Abbildungen heimischer Tiere und Früchte.
"So! Sind alle da?"
Herr Rothe klopfte mit dem Stock auf das Pult und schaute bis nach hinten in den Klassenraum. Er sprach Hochdeutsch und erwartete das auch von ihnen, obwohl in den meisten Familien Plattdeutsch gesprochen wurde und viele Kinder sich mit der Umstellung schwer taten.
"Soweit ich sehe, sind genug Schülerinnen mit der Schule fertig geworden. Deren Plätze dort hinten sind frei geworden. Also rückt ihr mal nach hinten durch, damit die Neuen hier vorne Platz nehmen können."
Das war ein allgemein bekanntes Ritual, denn auf diese Weise bekam der Lehrer am schnellsten einen Überblick, wie viele Kinder da waren und ob die Plätze für sie alle ausreichten.
"So, bevor wir uns die Klassenlisten vornehmen, werde ich euch eine große Neuerung vorstellen."
Herr Rothe ging zur Tür, griff an einen Schalter neben der Laibung und drehte ihn. Im selben Moment gingen über dem Pult und über den Köpfen der Mädchen Lichter an. Sie zuckten erschrocken zusammen und starrten an die Decke. In einfachen Lampenschirmen steckten merkwürdige Kolben, die nun leuchteten, ja fast zu glühen schienen, und den Raum erhellten. Also, so richtig hell, so wie draußen in der Sonne, so war es nicht. Aber es reichte zum Lesen und Schreiben und bedeutete einen gewaltigen Fortschritt gegenüber den rußigen und stinkenden Petroleumlampen, die den Kindern bisher an dunklen Tagen, insbesondere im Winter, Licht gespendet hatten, und die ihnen mit ihrem beißenden Rauch oft genug die Tränen in die Augen getrieben hatten.
Herr Rothe wandte sich ihnen zu.
"Ihr habt sicher mitbekommen, dass unser Dorf nun mit Elektrizität versorgt wird. Wer bisher nicht wusste, was das ist, nun, hier seht ihr es. Elektrizität bedeutet Licht. Seit dem vorigen Jahr wird daran gearbeitet, Kabel gezogen und so weiter. Und die Schule gehört heute, im Jahre 1910", und jetzt hätte Herr Rothe leicht vor Stolz platzen können, "mit zu den ersten Gebäuden, die damit versorgt werden. Bis zum Jahresende werden alle im Dorf Strom haben. Fürs Erste allerdings," und der Lehrer machte eine bedeutungsvolle Pause, "ist der alte Dorfkern angeschlossen. Aus gutem Grund! Weiß jemand, wieso?"
Erwartungsvoll blickte der Lehrer in die Runde. Eines der größeren Mädchen hob die Hand und stand auf.
"Meine Oma sagt, das ist wegen der vielen Feuer. Also, wo das Dorf abgebrannt ist. Kerzen und Petroleumlampen sind zu gefährlich."
"Sehr gut, setzen! Und damit es nun alle wissen: Unser Dorf ist in der Geschichte viermal von großen Bränden fast ganz zerstört worden. Einmal haben Söldnerhorden geplündert und dann die Häuser angezündet. Bei den anderen drei Bränden kennt man die Ursache nicht genau. Bei einem könnte es ein Blitzschlag gewesen sein. Ihr wisst, dass wir im Sommer heftige Gewitter haben können."
Er machte eine kleine Pause, um sich zu sammeln.
"Der letzte verheerende Großbrand liegt noch keine achtzig Jahre zurück. Damals sind 120 Häuser abgebrannt. Der größte Teil der Einwohner wurde obdachlos und hatte alles verloren. Viele konnten ihr Vieh nicht mehr rechtzeitig retten. Auch dieses Haus ist damals abgebrannt und wurde wieder aufgebaut. Manche eurer Großeltern werden sich noch daran erinnern. Mit dem elektrischen Licht werden wir alle also sehr viel sicherer leben. So, und jetzt kommen die Klassenlisten dran!"
Herr Rothe nahm an seinem Pult Platz und blickte einen Moment nachdenklich in den Raum. Er hatte in Hamburg studiert. Für ihn gehörte elektrisches Licht bereits zu seiner Kindheit. Und in Berlin, wo seine Tante wohnte, waren längst alle Pferdebahnen elektrifiziert worden. In was für ein rückständiges Kaff war er hier nur geraten? Er seufzte. Bei einer ersten Anstellung hatte man wohl keine große Wahl.
Herr Rothe rief alle Schülerinnen der Reihe nach auf und vermerkte deren Anwesenheit auf seiner Liste. Ein paar der Mädchen kamen aus umliegenden Dörfern, in denen es keine Schule gab. Alles in allem drängten sich rund einhundert Kinder der Klassenstufen eins bis acht in diesem einen Klassenraum. Dieser Meute ließ sich nur mit äußerster Disziplin etwas Wissen vermitteln. Notfalls mit Unterstützung des Rohrstocks, der je nach Laune des Lehrers zum Einsatz kam.
Scharfe, kurze Schläge auf kleine Kinderhände waren äußerst schmerzhaft. Die lebhafte kleine Doris aus dem Nachbardorf hatte ihren Griffelkasten aus Versehen vom Tisch gestoßen. Laut polternd schlug er auf dem Boden auf und die Griffel rollten in alle Richtungen davon. Bevor sich das Mädchen von seinem Schreck erholt hatte und seine Sachen aufsammeln konnte, schoss ein wütender Herr Rothe auf es zu und ließ seinen Stock auf seine Hände niedersausen. Doris weinte so laut und so Herz zerreißend los, dass der Lehrer am liebsten noch einmal zugeschlagen hätte. Bei den Mädchen hatte er sich jedoch zurückzuhalten.
"Hinten in die Ecke, Abmarsch!" brüllte er, und Doris verzog sich, immer noch weinend und schniefend, in die hintere dunkle Ecke des Raumes, wo sie für den Rest des Unterrichts stehen musste, mit dem Rücken zu den anderen Schülerinnen.
Diese hatten inzwischen stillschweigend deren Sachen vom Boden aufgehoben und auf ihren Platz zurück gelegt. Sie schauten sich mitleidig um. Mindestens eine Stunde still in der Ecke zu stehen war kein Spaß.
Emma ging trotzdem gern zur Schule, denn das Lernen machte ihr Freude. Sie erfuhr hier so viele Dinge, die sie sich in ihrem Leben nie hätte träumen lassen, und so traf sie ihre Krankheit umso härter.