Читать книгу Steter Wind - Ute Baran - Страница 8
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ОглавлениеNun war es auch für Emma so weit. Am Anfang der letzten Woche war Irene von ihren Eltern abgeholt worden. Sie alle leuchteten geradezu vor Glück, dass sie wieder zusammen sein konnten. Als Irene sich Emma zuwandte, um sich von ihr zu verabschieden, glitzerten allerdings ein paar Tränen in ihren Augen.
"Ach, Emma, was hätte ich nur ohne dich gemacht! Wir werden uns schreiben. Und ich werde dich besuchen, versprochen. Und der hier soll dich daran erinnern."
Und damit drückte sie Emma den Storch in die Hand. Während Emma noch diese von ihr so geliebte, mit Federn besetzte Handpuppe ungläubig anstarrte und sie behutsam in die Hand nahm, zog Irenes Mutter ein Päckchen aus der Tasche.
"Und hier ist was zum Lesen für dich, damit du dich die letzten Tage hier nicht langweilst. Danke. Du warst Irene eine gute Freundin. Das werden wir nicht vergessen."
Irenes Vater schulterte das Gepäck und Irenes Mutter geleitete ihre Tochter zum Ausgang. Irene bewegte sich noch an Krücken, aber man hatte in letzter Zeit sehen können, wie sie jeden Tag an Kraft gewann. Das machte Emma, die noch eine gute Woche länger im Krankenhaus ausharren musste, Mut. Trotzdem kamen auch ihr die Tränen, als sich die Tür hinter der kleinen, nun wieder vereinten, Familie schloss und Irene aus ihrem Krankenhausalltag verschwand. Emma starrte noch eine Weile auf diesen nun leeren Fleck und auf das ebenso leere Bett neben sich. Dann legte sie das Federvieh vorsichtig ab und griff nach dem liebevoll mit einem Schleifenband verzierten Päckchen. Es enthielt die gesammelten Märchen der Gebrüder Grimm.
Wie oft hatten sie die Geschichte von Frau Holle gespielt und die von Aschenputtel und Schneewittchen. Hier waren nun auch die anderen Märchen versammelt, die sie noch nicht kannte. Sie würde sie zu Hause ihren Geschwistern vorlesen und sie in deren magische Welten entführen. So ein Brunnen, der in die Welt Frau Holles führte, wäre eine feine Sache. Frau Holle war eine freundliche Frau, die den Fleiß und die Fähigkeiten einer Besucherin zu schätzen wusste.
Als Emma heute früh aufgewacht war, konnte sie kaum glauben, dass nun auch ihr Entlassungstag gekommen war. Vor lauter Aufregung bekam sie nur wenige Löffel von ihrem Frühstück herunter, zumal sie den Haferbrei noch genauso hasste wie am ersten Tag. Schwester Clara half ihr beim Anziehen ihrer Sachen und stellte die Krücken zurecht, die auch Emma zur Sicherheit noch eine ganze Weile benutzen sollte.
"Nächste Woche gewöhnst du dich zu Hause erst mal wieder ein, gehst zum Arzt und probierst aus, wie lange Strecken du im Dorf laufen kannst, ohne dass du allzu sehr ermüdest. Bei jedem Weg, den du gehst, musst du immer daran denken, dass du den auch zurück gehen musst. Es sei denn, es gibt Ziele, wo du dich länger ausruhen kannst. Am besten sogar so, dass du deine Beine eine Weile hoch legen kannst. Du solltest erst dann wieder zur Schule gehen, wenn du den Weg ohne Probleme bewältigen kannst."
Emma nickte, aber im Geiste saß sie schon wieder auf der harten Holzbank im Klassenzimmer und lauschte gespannt den Erzählungen des Lehrers Rothe.
Es klopfte an der Tür und Emmas Mutter trat ein. Heimlich hatte Emma gehofft, ihr Vater würde sie abholen, aber er musste wohl arbeiten. Und da Emma nun wieder laufen konnte, erschien ihren Eltern anscheinend eine Person zur Abholung ausreichend.
Schwester Clara gab Emmas Mutter einige Hinweise. Dann packte diese Emmas Sachen ein und es war Zeit zu gehen. Emma verabschiedete sich kurz von den anderen Mädchen und etwas länger von Schwester Clara, die sie in den Arm nahm und liebevoll drückte.
"Du schaffst das schon! Viel Glück!" ermunterte Schwester Clara sie abschließend und öffnete ihnen die Tür.
Emmas Mutter hatte bereits das Gepäck genommen und ging voraus. Emma stakste langsam an ihren Krücken hinterher und fühlte sich dabei ein wenig wie ein Storch auf einer überfluteten Wiese. Ein letztes Mal ging sie die Korridore der Station entlang und vorsichtig, Schritt für Schritt, die Treppe zum Ausgang hinunter. Ihre Mutter sah ihr zu, wie sie mühsam die Stufen bewältigte, und stapfte wieder los. Viel zu schnell für Emma, die nicht Anschluss halten konnte.
"Mama, warte! Ich kann nicht so schnell!"
Emmas Mutter drehte sich um und sah ihre Tochter forschend an, während diese sich näherte. Freundlich war dieser Blick nicht. Emma schnürte sich der Hals zusammen und sie spürte Tränen aufsteigen. Am liebsten wäre sie auf der Stelle umgekehrt und zurück gegangen, zurück zu Schwester Clara, die sie und ihre Krankheit verstand.
Aber selbst Emmas Mutter musste wohl einsehen, dass ihre Tochter nicht so leicht und munter herumlaufen konnte wie vor der Krankheit. Sie seufzte und meinte:
"Dann geh du lieber voraus. Sonst verlieren wir uns noch."
Am Haupteingang zum Klinikgelände standen ein paar Pferdedroschken, die hier offenbar häufiger gebraucht wurden. Nach kurzem Zögern steuerte Emmas Mutter darauf zu, sprach kurz mit einem der Kutscher, der daraufhin vom Bock stieg, um ihr Gepäck zu verstauen und Emma und ihrer Mutter beim Einsteigen zu helfen.
Die Pferde zogen an und ihr Gefährt schaukelte gemächlich bis zur nächsten Straßenecke, wo sie Tempo aufnahmen und nun im flotten Trab über das Kopfsteinpflaster rollten. Emma spürte jede Unebenheit und fühlte sich heftig durchgeschüttelt. Immerhin hatte sie keine Schmerzen mehr. Als angenehm empfand sie die Fahrt dennoch nicht, obwohl das ihre erste Kutschfahrt war. In ihrem Dorf gab es ja keine Mietdroschken. Im Notfall borgte man sich einen Leiterwagen von einem Bauern, der noch unbequemer war.
Der Kutscher setzte sie vor dem Bahnhof ab und Emma und ihre Mutter begaben sich in die große Wartehalle. An diesem späten Vormittag war diese nur mäßig besetzt, so dass sie ohne Mühe freie Plätze fanden, denn sie hatten über eine Stunde Zeit, bis ihr Zug kommen würde, und Emma konnte unmöglich so lange stehen.
Emma schwieg, denn was sollte sie schon sagen? Sie wusste, dass Schwester Clara ihrer Mutter erklärt hatte, wie schwierig alles für Emma war. Offenbar konnte ihre Mutter sich das nicht vorstellen. Oder sie wollte es nicht. Sie als Hebamme half ja vor allem dem neuen Leben in die Welt. Mit den Folgen von Krankheiten wie dieser hatte sie kaum zu tun. Irenes Eltern hatten sich gefreut, ihre Tochter wieder zu Hause zu haben, egal, wie viel Hilfe sie vielleicht brauchte. Und Emmas Mutter? Offenbar dachte sie nur daran, wie schwierig Emma mit ihrer Behinderung nun war. Lästig, nicht mehr nützlich. Nicht mehr gemäß dem, was sie von ihrer ältesten Tochter erwartete. Ihre anfängliche Freude über die Entlassung aus dem Krankenhaus wich der bangen Sorge, was sie zu Hause wohl erwartete.
"Wir müssen auf den Bahnsteig. Der Zug kommt gleich."
Diese barschen Worte ihrer Mutter ließen Emma das Herz vollends in die Hosen sacken. Sie spürte Tränen aufsteigen, die sie nur mühsam unterdrücken konnte. Die Augen zu einem Schlitz verengt und die Zähne fest zusammengebissen, hievte sie sich aus dem Sitz und ging langsam mit ihren Krücken Richtung Ausgang. Ein anderer Fahrgast hielt ihr mit einem aufmunternden Lächeln die Tür auf, was sie mit einem dankbaren Blick quittierte. Ihre Mutter folgte schweigend.
Die Stufen zum Passagierwaggon waren sehr hoch, der halbwüchsigen Emma reichten sie fast bis zu den Knien. Sie fragte sich gerade, wie sie mit ihren Krücken da hinaufkommen sollte, als der Schaffner auftauchte, ihr ihre Gehhilfen aus der Hand nahm und ihr die Stufen hinauf half, ebenso wie Emmas Mutter, der er dann noch das Gepäck reichte. Emma wartete, dass ihre Mutter voraus ging, denn sie wusste nicht, wohin sie gehen sollte. Ihre Mutter hatte sicher keine Plätze reserviert, also müssten sie in einem der normalen Abteile Platz nehmen.
Und richtig steuerte Emmas Mutter eine leere Sitzbank auf der linken Seite an, verstaute das Gepäck und sah sich zu Emma um. Als sie feststellte, dass diese ihr dicht auf den Fersen war, setzte sie sich. Emma ließ sich vorsichtig auf einem Sitz ihr gegenüber nieder und hielt die Krücken in ihren Händen fest. Erst der Schaffner erlöste sie aus dieser starren Haltung, indem er ihr, wieder einmal, die Krücken aus der Hand nahm und sie kurzerhand unter der Sitzbank verstaute.
Schnaufend, fauchend und ruckend fuhr der Zug an und Emma sah schon bald die Kühe auf den Weiden vorüberziehen und Bauern, die Getreide ernteten. Unter dem gleichmäßigen Strich der scharfen Sensen fielen die kornschweren goldgelben Halme büschelweise und wurden sofort zusammengesammelt, zu Garben gebunden und in üppigen Hocken aufgestellt. Männer, Frauen und größere Kinder arbeiteten Hand in Hand. Ein paar reiche Bauern hatten schon eine große Maschine, die ihnen Teile dieser Arbeiten abnahm. Das waren aber Ausnahmen.
Die Schönheit dieser Szenen nahm Emma nicht wahr. Sie war erfüllt von dem Gedanken, dass sie all diese Dinge zumindest im Moment nicht tun konnte.
Erst die kreischenden Bremsen des Zuges und die plötzliche Geschäftigkeit ihrer Mutter, die die Krücken unter dem Sitz hervorholte, sie Emma reichte und dann nach dem Gepäck griff, holten sie ins Jetzt zurück. Wieder folgte sie ihrer Mutter schweigend, nahm dankbar die Hilfe des Schaffners beim Ausstieg an und wandte sich Richtung Ausgang.
Da entdeckte sie ihre Tante Thea, Schwester ihres Vaters und Patentante ihrer kleinen, gleichnamigen Schwester, die ungeduldig an deren Hand zappelte. Als die Kleine Emma sah, riss sie sich los und stürmte auf sie zu, blieb dann aber abrupt zwei Schritte vor ihr stehen und schaute sie mit schief gelegtem Kopf schweigend an. Gute vier Monate hatten sie sich nicht gesehen. Sie beide waren in der Zwischenzeit ein Stück gewachsen und hatten sich verändert.
"Thea, ich bin's wirklich. Komm her und lass dich drücken."
Thea tat wie geheißen und trat dann erneut einen Schritt zurück. Sie deutete auf die Krücken.
"Musst du jetzt immer damit gehen?"
Diese Frage versetzte Emma einen schmerzhaften Stich.
"Ich hoffe nicht. Aber eine Weile werde ich sie wohl benutzen müssen."
Inzwischen war auch ihre Tante mit ihrem drei Monate alten Säugling auf dem Arm herangetreten und musterte Emma aufmerksam. Dann nahm sie ihre Nichte in den Arm und hieß sie daheim willkommen. Emma nickte dankbar und fühlte ihre Angst ein wenig schwinden.
Gemeinsam strebten sie nun zum Ausgang und dann zu Emmas Elternhaus, das zum Glück nicht weit entfernt war. Es war niemand zu Hause. Der Vater befand sich mit den beiden Jungen auf dem Feld und würde erst in der Dämmerung heimkommen. Die Ernte war in vollem Gang. Alle hatten alle Hände voll zu tun.
Emmas Mutter trug das Gepäck ins Schlafzimmer der Mädchen und packte rasch aus. Sie wunderte sich über die Handpuppe und das Buch, überging beides jedoch einstweilen. Emma ging in die Küche und setzte sich auf einen Stuhl. Es war warm hier drinnen. Der Herd war angeheizt und ein großer Kochtopf stand an dessen Rand, so dass das Essen darin heiß blieb, ohne weiter zu kochen. Offenbar hatte ihre Tante vorgesorgt, denn nun deckte sie den Tisch mit tiefen Tellern und Löffeln, stellte einen Brotkorb in die Mitte und setzte sich dann zu Emma.
"Ihr habt bestimmt Hunger. Ich habe einen Linseneintopf gemacht und dazu gibt es zur Feier des Tages Würstchen. Und es reicht auch noch für das Abendessen, wenn dein Vater und die Jungs zurück sind. Aber jetzt erzähl doch mal, wie geht es dir denn?"
Der Bericht musste warten, denn Emmas Mutter kam herein. Als sie den gedeckten Tisch sah und den Kochtopf auf dem Herd entdeckte, blickte sie leicht mürrisch, denn sie schätzte es nicht, wenn sich jemand ungefragt in ihrem Haushalt umtat. Doch sie bedankte sich artig bei ihrer Schwägerin, griff nach der großen Schöpfkelle und tat ihnen allen Essen auf.
Der Linseneintopf schmeckte köstlich und das dunkle Krustenbrot war frisch vom Bäcker. Erst jetzt merkte Emma, wie groß ihr Hunger inzwischen war, hatte sie doch kaum gefrühstückt. Mit jedem Bissen, den sie zu sich nahm und der sie innerlich wärmte, entspannte sie sich etwas mehr. Sie würde ihrer Familie erklären, wie es um sie stand, sie würde weiter trainieren und irgendwann, ganz bald schon, würde sie die Krücken nicht mehr brauchen und alles wäre wie vorher. Immerhin war Tante Thea eine aufmerksame Zuhörerin, die alles, was Emma erlebt hatte, ganz genau wissen wollte, und dementsprechend viele Fragen stellte.
Als ihr Vater am Abend heimkam, blitzten seine Augen vor Freude, dass seine Älteste nun wieder da war, die Jungs bestaunten ihre Krücken und fragten sie Löcher in den Bauch. Emma erzählte geduldig alles noch einmal, bis ihr fast die Augen zufielen und ihre Mutter sie energisch zu Bett schickte.
Doch eine Neuerung nahm sie noch wahr. Jedes der Kinder hatte jetzt einen eigenen Nachttopf, der, wie sie später erfuhr, täglich sorgfältig gereinigt und desinfiziert wurde, damit sie sich nicht mehr gegenseitig mit irgendwelchen Krankheiten anstecken konnten.
Emma schlief tief und traumlos und als sie am nächsten Morgen erwachte, wusste sie zuerst nicht, wo sie war. Doch dann erkannte sie die vertrauten Vorhänge vor dem Fenster, durch deren Spalt auch heute die ersten Sonnenstrahlen den Weg in ihr Zimmer fanden und ihre Nasenspitze kitzelten. Sie streckte sich vorsichtig, wackelte mit den Zehen, befühlte ihre Beine und winkelte sie an. Alles in Ordnung. Langsam stand sie auf, wusch sich am Waschtisch Gesicht und Hände und kleidete sich an.
Thea lag nun in einem eigenen Bett, das quer zu Emmas stand. Sie schlief, noch in der ihr eigenen Art, zusammengerollt wie eine junge Katze. Emma ließ sie schlafen, nahm ihre Krücken und bewegte sich Richtung Küche. Das Schlafzimmer der Eltern stand wie gewohnt schon offen und aus der Küche wehte ihr der Geruch von Getreidekaffee entgegen.
Ihr Vater und die Jungs saßen am Tisch und frühstückten eilig, während Emmas Mutter ihnen ein Paket mit Broten für den langen Arbeitstag richtete.
"Du bist ja früh auf", begrüßte sie ihr Vater und schob ihr einen Stuhl zurecht. Ihre Mutter reichte ihr Besteck und ein Glas heiße Milch und zum ersten Mal seit so langer Zeit konnte sie wieder mit ihrer Familie frühstücken, bis auf Thea natürlich.
Nachdem ihr Vater und die Jungs aufgebrochen waren, ging Emma in den Garten. Langsam ging sie den Mittelgang entlang, prüfte genau, wie weit die Früchte gereift waren, bestaunte die Kürbisse auf dem Misthaufen, die schon eine beachtliche Größe erreicht hatten, und wanderte zurück bis zum Stall. Dort sollte sie lieber noch nicht wieder hineingehen, hatte ihr Schwester Clara erklärt. Der Arzt würde ihr sagen, wann sie wieder zu den Tieren durfte. Ihr Blick wanderte zu den Schwalbennestern. Deren Nachwuchs war längst ausgeflogen und bereit, mit den anderen seiner Art bald in den Süden zum Überwintern aufzubrechen.
Emmas Mutter kam in den Garten. Sie pumpte an ihrer Grundwasserzapfstelle zwei große Eimer voll, trug sie ins Haus und kam zurück.
"Ich muss jetzt die Hühner und Enten raus lassen. Besser, du gehst ins Haus."
Ja, natürlich. Das Geflügel erhielt zwar täglich etwas Körnerfutter, das gelegentlich mit Brotkrümeln und leeren Eierschalen angereichert war, die angeblich für eine festere Schale der künftigen Eier sorgen sollten. Aber es brauchte auch frisches Grün, Gras, Klee und Löwenzahn. Und das zupften sich die Tiere am besten selber.
Emma fügte sich also widerspruchslos und nutzte die Gelegenheit, sich im Haus umzusehen, ob es während ihrer Abwesenheit Veränderungen gegeben hatte. Es schien aber alles beim Alten zu sein. Nur die Zimmerpflanzen hatten Zuwachs bekommen. Die neuen Ableger einiger Pflanzen, offensichtlich von Nachbarn eingetauscht, streckten ihre zarten Blätter dem Licht entgegen. Emma war gespannt, wie sie sich entwickeln würden.
"Emma, wo bist du?"
Ihre Mutter streckte den Kopf zur Tür herein.
"Du musst zum Arzt. Mach dich fertig. In einer Viertelstunde gehen wir los."
Der Weg dorthin wurde Emma lang, zweimal musste sie stehenbleiben, um sich auszuruhen. Sie war froh, als sie sich im Wartezimmer endlich setzen konnte.
Der Arzt untersuchte Emma gründlich und gab ihr und ihrer Mutter noch einige Hinweise. Nach seiner Einschätzung würde Emma in rund zwei Wochen soweit sein, dass sie wieder zur Schule gehen konnte. Er selbst wollte sie weiterhin wöchentlich in der Praxis sehen.
Emma hatte gehofft, dass sie früher wieder zum Unterricht gehen könnte, sie musste sich jedoch selbst eingestehen, dass die langen Wege ihr noch schwer fielen und dass sie weiterhin fleißiges Training brauchte.
Sie unterstützte ihre Mutter im Haushalt, so gut sie konnte, unterhielt ihre Geschwister mit der Handpuppe und las ihnen aus dem Märchenbuch vor. Die Kleinen verfolgten die kurzen Vorstellungen mit leuchtenden Augen und sie und ihr Vater freuten sich über die neuen Geschichten.
Wenn ihre Mutter tagsüber zu Wöchnerinnen gerufen wurde, nutzte Emma die seltene Gelegenheit, in den Garten zu gehen, um einige Beete mit Pflanzen, die ihr besonders am Herzen lagen, von Unkraut zu befreien und den Boden zu lockern. Anschließend schrubbte sie sich ihre Hände mit extra viel Seife und einer großen Wurzelbürste, um alle Spuren dieser Tätigkeit sorgfältig zu beseitigen. Ihre Mutter bemerkte das wohl und schaute sie fragend an. Doch Emma wich aus. Sie gedachte, dies als ihr kleines Geheimnis zu hüten.
Jeden Tag ging sie einige Runden um die Nachbarhäuser herum und wanderte ein Stück ihren Schleichweg an den Wiesen entlang. Da die Erwachsenen arbeiteten und die größeren Kinder in der Schule waren, begegnete ihr kaum ein Mensch. Da war eine Nachbarin mit einem Kleinkind auf dem Weg zum Bäcker. Ein Leiterwagen voller Roggengarben rumpelte auf dem Kopfsteinpflaster an ihr vorüber. Würde es auf der heimischen Tenne ausgedroschen werden, oder konnte sich der Bauer bereits eine der modernen Maschinen dafür leisten? Konnte er sie irgendwo ausleihen? Der dörfliche Alltag ergriff wieder Besitz von ihr.
Nach Ablauf der zwei Wochen war Emma tatsächlich so weit gekräftigt, dass ihr der Arzt erlaubte, wieder zur Schule zu gehen.