Читать книгу Steter Wind - Ute Baran - Страница 6
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ОглавлениеEmma schlief nicht viel in jener Nacht. Der Schmerz in den Beinen hatte dank der warmen Umschläge zwar etwas nachgelassen, aber sie fürchtete sich vor morgen, vor dem Krankenhaus. Sie hatte noch nie eines von innen gesehen, aber sie hatte gehört, dass man nur mit ernsten Krankheiten dort eingewiesen wurde und dass nicht jeder gesund wieder heraus kam.
Die Morgendämmerung zog gerade herauf, als Emmas Mutter den Kopf zur Tür hereinstreckte. Als sie sah, dass Emma wach war, trat sie ans Bett.
"Na, wie geht es dir denn jetzt? Hast du ein bisschen geschlafen?"
"Es geht so."
"Ich mach gleich Frühstück. Papa ist auch schon wach. Er trägt dich nachher zum Bahnhof. Und jetzt machen wir schnell noch neue Umschläge."
Nachdem die Prozedur mit der Bettpfanne erledigt war, befüllte die Mutter die Wärmflaschen neu mit heißem Wasser, wickelte sie in dicke, angefeuchtete Tücher und schob sie Emma unter die Oberschenkel.
Während sie noch das Frühstück für Emma bereitete, kam bereits ihre Schwägerin vorbei, um Thea abzuholen. Sie war froh, dass sie den kleinen Quirl nicht mit auf die Reise nehmen musste.
Sie half Emma beim Frühstück, damit diese wenigstens ein paar Bissen zu sich nahm, und kleidete sie an. Als es Zeit war, zu gehen, erschien Emmas Vater mit einer großen Decke, wickelte sie sorgsam darin ein und nahm sie auf seine Arme. Emma kuschelte sich an seine Schulter und genoss die so seltene Nähe auf dem kurzen Weg zum neuen Bahnhof, der ihr Dorf mittlerweile mit der Welt da draußen verband. Es war keine zwei Jahre her, dass dies Aufgabe der Postkutschen war, die klappernd und polternd regelmäßig an ihrem Haus vorbeigefahren waren.
Der Arzt traf wenige Minuten nach ihnen in der großen Wartehalle ein, begrüßte sie mit einem Kopfnicken und trat zunächst an den Fahrkartenschalter, um die Billets samt der Reservierung abzuholen, die seine Sprechstundenhilfe noch gestern gemäß seinen Anweisungen bestellt hatte.
Als er sich zu der kleinen Familie gesellte, ertönte auch schon von Ferne das Pfeifen der Lokomotive des einfahrenden Zuges und alle potentiellen Fahrgäste traten durch die große, verglaste Schwingtür hinaus auf den Bahnsteig.
Die große schwarze Dampflok drosselte zischend ihre Geschwindigkeit und kam schließlich mit ohrenbetäubendem Quietschen zum Stillstand.
"Wir haben ein Quarantäne-Abteil im hinteren Teil des Zuges. Da erwischt uns der rußige Qualm nicht so. Folgen Sie mir!"
Mit gewohnt langen Schritten stürmte der Arzt voran. Der Schaffner erwartete sie bereits an der geöffneten Tür und wies nach rechts in den Gang. Behutsam trug der Vater Emma die hohen Stufen hinauf und folgte dem Arzt, der eine Abteiltür offen hielt, damit er mit seiner Last hindurch treten konnte. Die Sitzbank war auf einer Seite zur Liege umfunktioniert worden, mit dicken Kissen und einer warmen Decke, auf der Emma nun transportgerecht verstaut wurde.
Emma, ein Gepäckstück. So jedenfalls kam es ihr vor angesichts ihrer lahmen Beine. Sie hatte Mühe, sich von ihrem Vater zu lösen. Erst ein aufmunterndes und auch nachdrückliches Nicken der Mutter rief ihr ins Bewusstsein, dass er heute daheim anderen Pflichten nachzukommen hatte. Er schaffte es gerade noch, den Zug rechtzeitig vor der Abfahrt zu verlassen. Er lief einen Moment nebenher und winkte ihnen. Und dann waren sie schon aus dem Dorf heraus.
Emma war so gebettet, dass sie aus dem Fenster schauen konnte. Sie sah die Landschaft draußen in ungewohnter Eile vorüberfliegen, Felder und Wiesen, Bäume und Hecken und dann und wann einen Bauernhof vor einem strahlend blauen Frühlingshimmel. Noch nie waren sie oder ihre Mutter mit der Eisenbahn gefahren. Emma hatte bisher nicht einmal das Dorf verlassen. Das hier hätte ein großes Abenteuer sein können, eine Entdeckungsreise in die Weiten da draußen. Aber so konnte sie diese nur anschauen. Diese neue Welt Schritt für Schritt zu erspüren blieb ihr verwehrt.
Die Fahrt sollte etwas über eine Stunde dauern, mit drei Zwischenhalten in anderen Dörfern. Der Arzt untersuchte Emma kurz und wollte sich nun in seine Akten vertiefen, als Emmas Mutter sich verlegen räusperte.
"Herr Doktor, wir wissen, dass das hier nötig ist. Aber wie ist das mit den Kosten? Unsere Ersparnisse werden nicht sehr lange dafür reichen."
"Da machen Sie sich mal keine Sorgen. Ihr Mann ist doch sozialversichert?"
"Ja, manchmal war es nicht leicht, aber wir haben regelmäßig eingezahlt."
"Dann wird die Versicherung den größten Teil der Kosten übernehmen. Den Rest werde ich versuchen, über die Beihilfe zu bekommen. Da diese Krankheit leider sehr ansteckend ist, liegt es im öffentlichen Interesse, dass betroffene Patienten isoliert und ärztlich behandelt werden. Das einzige, was Sie jetzt wirklich brauchen, ist sehr viel Geduld."
Und damit wandte er sich wieder seinen Akten zu, um nicht unvorbereitet bei seinen Patienten im Krankenhaus zu erscheinen.
Emma und ihre Mutter schauten sich stumm an. Was hätten Sie auch sagen sollen? Die bange Erwartung schnürte ihnen den Hals ab.
Am Zielort warteten zwei Krankenpfleger mit einer Trage auf dem Bahnsteig. Einer von ihnen trug Emma nach draußen und setzte sie vorsichtig auf der Trage ab. Emmas Mutter und der Arzt folgten den beiden zum Vorplatz des Bahnhofes, wo ein Krankenwagen bereit stand, ein cremeweißes Automobil mit großen roten Kreuzen an der Seite und den hinteren Türen.
Emma bekam große Augen.
"Bei uns im Dorf gibt es nur wenig Autos. Und so einen Krankenwagen hab ich da noch nie gesehen."
Der Arzt schmunzelte.
"Und jetzt wirst du sogar damit kutschiert."
Die Krankenpfleger hoben die Liege an und schoben sie hinten in den Wagen. Der Arzt kletterte hinterher, setzte sich an die Seite und deutete auf noch einen freien Platz neben sich. Emmas Mutter schob sich vorsichtig dort hinein.
Er gab den beiden Krankenpflegern einen kleinen Wink und der Krankenwagen setzte sich in Bewegung. Die luftgefüllten Reifen glitten weich über die Straßen, tausendmal weicher jedenfalls, als die eisenbeschlagenen Holzräder der bäuerlichen Leiterwagen. Die Pneus rollten und rollten und rollten. Das hatte etwas sanft Einlullendes und als das Auto die Klinik erreichte, war Emma eingeschlafen.
Der Krankenwagen fuhr durch das bewachte Eingangstor auf das Klinikgelände, dann links um das Hauptgebäude herum, bis zu einem kleinen Gebäude, an dessen Treppe zum Portal sie von einer Krankenschwester in Empfang genommen wurden. "Quarantäne-Station" verkündete ein großes Schild mit fett rot gedruckten Buchstaben am Eingang.
Entsetzt starrte die Mutter darauf. Ihr wurde auf einmal bewusst, dass sie mit ihrer Familie noch nie in einer so ernsten Lage gewesen war. Sicher, das Leben barg seine Gefahren. Eine Tochter war ihr gestorben, noch bevor sie sitzen konnte. Und sie waren nicht reich. Wenn alle fleißig mithalfen, kamen sie gerade so über die Runden. Solange sie gesund waren. Eine Krankheit wie diese, hochansteckend und langwierig, konnte alle ihre noch so bescheidenen Pläne zu Nichte machen.
Emma war wieder aufgewacht. Das Klacken der hinteren Tür, als die Pfleger diese öffneten, um sie auf ihrer Trage herauszuheben, hatte sie aus einem Traum gerissen. Sie hatte sich tanzen sehen, mit fliegendem Rock, immer rund herum, rund herum, wie die Ballerina auf einer Spieluhr. Sie wollte auch wieder so tanzen. Also würde sie tapfer sein und allen Anweisungen der Ärzte und Krankenschwestern brav folgen, damit sie schnell wieder gesund würde.
Es ging ein paar Stufen hinauf, durch ein Portal mit einer riesigen schweren Holztür und dann durch eine große Schwingtür. Im langen Gang dahinter umfing sie der Geruch frisch gebohnerten Linoleums, gepaart mit jenem unangenehmen medizinischen Duft, den sie aus der Praxis des Zahnarztes kannte. Decke und Wände waren weiß, der Boden dunkelgrün. Hier und dort standen chromblitzende Gerätschaften am Rand, wartend auf ihren Einsatz. Selbst jetzt, mitten am Tage, war die Deckenbeleuchtung eingeschaltet, denn ein Fenster war nur am äußersten Ende des Ganges zu sehen.
Der Arzt wandte sich an Emmas Mutter.
"Bitte warten Sie hier. Wir besprechen anschließend alles weitere."
Emmas Zielort war ein Krankenzimmer mit insgesamt sechs Betten, das mit ihr nun komplett belegt war.
Der Arzt wies mit einer Geste in die Runde.
"Die anderen Mädchen hier haben dasselbe wie du. Wir wollen ja nicht, dass sich Unbeteiligte anstecken. Worauf du alles achten musst, erklärt dir die Schwester nachher. Oberstes Gebot ist vor allem strikte Hygiene. Was das heißt, wirst du hier lernen."
Das Bett, in das Emma nun gehoben wurde, erschien ihr riesig. So ein verstellbares Teil mit Rollen an den Füßen war ihr neu, aber es erschien ihr außerordentlich praktisch.
Eine Schwester verstaute Emmas wenige Habseligkeiten im metallenen Beistelltisch und in einem Spind eines größeren Schrankes neben der Tür. In einer Ecke neben dem Schrank befand sich ein Waschtisch. Nummerierte Haken an der Wand wiesen dem Handtuch jedes Patienten seinen Platz.
Alles strahlte eine klare Ordnung aus und in Emma erwachte zaghaft etwas Vertrauen in diese ihr fremde Welt.
"Schwester Clara, bitte kümmern Sie sich um Emma. Ich habe jetzt mit ihrer Mutter noch die Formalitäten zu regeln. Sie finden uns im Arztzimmer. Emma, deine Mutter kommt nachher bei dir vorbei."
Damit verließ der Arzt den Saal und bat Emmas Mutter in das Arztzimmer.
"Ich brauche von Ihnen noch ein paar Angaben für die Patientenakte, Geburtsdatum von Emma, Sozialversicherung Ihres Mannes undsoweiter."
Die Mutter gab ihm die gewünschten Informationen.
"Und wie lange muss Emma hier bei Ihnen bleiben?"
"Das lässt sich nur schwer voraussagen. Wir wissen, dass die Krankheit nach ihrem Ausbruch allein bis zu ungefähr sechs Wochen hochansteckend ist. Das heißt, dass jeder direkte Kontakt mit den Kranken zu vermeiden ist. Deshalb trägt das mit ihnen befasste Personal grundsätzlich Schutzkittel und Handschuhe. Danach muss man sehen. Die Patienten bekommen Schmerzmittel. Feuchtwarme Packungen wirken ganz gut gegen die Verkrampfungen in den Oberschenkeln. Man macht Bewegungsübungen, um die Gelenke geschmeidig zu halten. Auch sanfte Massagen sind gut. Trotzdem lässt sich nicht sagen, ob und wann Emma ihre Beine vielleicht wieder bewegen kann. Wegen der Gefahr akuter Atembeschwerden lagern wir den Oberkörper hoch."
Der Arzt dachte dabei mit Grausen an die Möglichkeit, dass die Lähmung die Brustmuskulatur erfassen könnte, denn dann war keine Rettung mehr möglich. An einem Gerät zur künstlichen Beatmung wurde zwar geforscht. Es sollte aber noch eine ganze Reihe von Jahren ins Land gehen, ehe die erste Eiserne Lunge in solchen Fällen Leben retten konnte.
"Sie oder Ihr Mann können Emma an den Wochenenden besuchen. Wir wissen zwar, dass Polio nur Kinder befällt, aber auch Sie müssen sich dann Schutzkleidung geben lassen, vor allem, damit Sie die Krankheit nicht hier heraustragen und womöglich Ihre anderen Kinder anstecken. Sofern die sich nicht schon angesteckt haben. Sie müssen sie in den nächsten Wochen genau beobachten. Bei einer Erkältung mit Fieber kommen Sie bitte sofort zu mir. So, und jetzt können Sie noch eine Weile zu Emma. Machen Sie ihr Mut."
Die Mutter dankte dem Arzt mit einem Kopfnicken und ging zum Krankensaal, in dem Emma lag. Dort traf sie auf Schwester Clara, die bereits Schutzkleidung für sie bereit hielt. Sie streifte diese über und trat zu Emma. Diese trug inzwischen ein blütenweißes, gestärktes Krankenhausnachthemd und hatte frische Packungen um die Beine bekommen.
"Na, wie geht es jetzt?"
"Dieses Nachthemd kratzt."
Emmas Stimme war kaum mehr als ein leises Piepsen. Ihre Mutter schaute zu den anderen kleinen Patientinnen. Fröhlich sah keine von ihnen aus. Es waren blasse, kleine Gesichter, die in den großen weißen Betten fast verschwanden.
Mut sollte sie Emma machen. Mut, den sie selbst kaum aufbringen konnte. Sie nahm Emmas Hand, strich ihr über die Stirn und half ihr, ab und zu einen Schluck Tee zu trinken. Als Hebamme wusste sie einiges über Krankheiten, über Pflege und Hygiene. Sie sah ihr Zuhause vor sich. Ein Plumpsklo im Stall und eine Wasserpumpe im Hof, die von ihrer ganzen Familie benutzt wurden. Keine guten Voraussetzungen, um Ansteckungswege zu unterbrechen. In den Familien der anderen Mädchen würde es kaum anders aussehen.
Diese unheimliche und heimtückische Krankheit würde ihr Leben gewaltig verändern. Emma würde vorläufig nicht einmal die einfachsten Alltagsverrichtungen allein bewältigen können. Der banale Alltag. Normalerweise tat man, was nötig war, ohne großartig darüber nachzudenken. Hier nun waren andere Möglichkeiten zu suchen, neue Lösungen zu finden. Ihre Phantasie wollte ihr im Moment noch nicht dahin folgen. Sie wandte sich wieder ihrer Tochter zu.
"Sonntags ist Besuchszeit. Papa oder ich werden versuchen zu kommen."
Zögernd verabschiedeten sich Mutter und Tochter voneinander. Und dann war Emma allein in dieser neuen Welt.
Sie schluckte die aufkommenden Tränen tapfer hinunter und schaute sich in dem Krankenzimmer um. Die anderen fünf Mädchen schienen etwa im selben Alter zu sein wie sie.
Durch ein großes Bogenfenster fiel strahlendes Sonnenlicht auf ihre Krankenlager und die Sprossen der Fensterflügel zeichneten schräge Schatten in den Raum. Unwirklich verrückt schienen ihr die Gegenstände. Unbewusst schüttelte sie den Kopf. Nein, sie gehörte nicht hierher.
Das Mädchen im Bett rechts neben ihr schaute sie aus klaren blauen Augen ruhig an.
"Ich heiße Irene. Und du?"
"Emma".
"Die ersten Tage hier sind immer schwer. Aber dann gewöhnst du dich dran. Glaub mir. Ich bin jetzt seit über drei Wochen hier, ich muss es wissen."
Und dabei versuchte sie ein Lächeln, das doch mehr ein Grinsen blieb. Emma grinste zurück. Ein klein wenig erleichtert, denn es gab andere, die ihr Schicksal teilten. Sie fühlte sich nicht mehr ganz so allein.
In den nächsten Tagen lernte Emma auch die anderen Mädchen kennen, Luci und Wilhelmine, Cordula und Marie. Sie alle mussten strikt das Bett hüten.
Im Morgengrauen, so um 5.00 Uhr herum, wurden sie geweckt und gewaschen. Die Prozedur mit der Bettpfanne war für sie alle am unangenehmsten und für die Pflegerinnen aufwändig und lästig. Jedes Mal, wenn eine von ihnen ihre großen und kleinen Geschäfte erledigt hatte, bekam sie noch eine Waschschüssel mit frischem Wasser samt Seife und Handtuch zwecks Händewaschen gereicht. Schwester Clara hatte ihnen erklärt, dass dies die wichtigste Maßnahme zur Vermeidung einer Ansteckung sei.
Nachdem alle ihre lahmen Beine in frischen warmen Umschlägen steckten, kam das Frühstück, jede Menge Kräutertee und gekochter Haferbrei. Emma hasste dieses schleimige Zeug, Marmeladenbrot gab es jedoch nur sonntags.
Schwester Clara kam eine Weile nach dem Frühstück und brachte etwas Abwechslung in ihren streng geregelten Ablauf. Jede von ihnen befand sich in einem anderen Stadium der Krankheit. Irene konnte ihre Zehen schon wieder bewegen und manchmal auch die Knie beugen. Ihr fehlte vor allem noch die Kraft, um wieder aufzustehen. Luci konnte die Beine schon wieder ein wenig anheben.
Emma war noch ganz am Anfang. Im Moment spürte sie vor allem intensiv den Schmerz, trotz der warmen Umschläge. Die Muskeln der Oberschenkel krampften bei jedem Versuch der Pflegerin, Emmas Beine anzuwinkeln und wieder zu strecken. Sie tat dies ganz langsam und behutsam und konnte doch nicht verhindern, dass Emma leise stöhnte und ihr die Tränen in die Augen traten.
Sie alle wussten, dass es lange dauern würde, bis eine spürbare Besserung eintreten würde. Sie alle waren gewohnt, sich viel zu bewegen, draußen herumzuspringen, zur Schule zu gehen oder kleine Besorgungen zu erledigen. Diese Krankheit, das wussten sie, war sehr ernst. Es ging ihnen richtig schlecht. Aber sie langweilten sich auch in ihren blütenweißen Riesenbetten.
So ging es Emma jedenfalls, die mit Wehmut an die nun zügig reifenden geliebten Erdbeeren im heimischen Garten dachte. Während sie noch von deren roten Bäckchen träumte, schlief sie allerdings schon wieder ein. Als sie wieder erwachte und sich verwundert die Augen rieb, war es fast Mittag.
"Hei, du Schlafmütze! Wieder da?"
Irene grinste sie breit an.
Emma rang sich ein Lächeln ab.
"Ich hab von zu Hause geträumt. Unser Garten..."
"Oh je, den wirst du lange nicht sehen."
Und dann weiter mit verstellter, tiefer Stimme:
"Mach dir nichts draus! Alles nicht so schlimm! Der nächste Sommer kommt bestimmt!"
Ein fröhlicher Kasper schaute Emma an. Er tanzte auf Irenes Hand, die ihn irgendwo aus den Tiefen ihres Nachtschränkchens hervorgezaubert hatte, ihn unter gewollt übertriebener Anstrengung über ihren Bauch krabbeln ließ, um ihn nun triumphierend hoch zu halten.
Emma staunte diesen bunten Gesellen an, mit seiner Riesennase und dem Harlekinkostüm, bestehend aus knallrotem Beinkleid, einem in allen Farben des Regenbogens leuchtenden Oberteil mit knallroter Krawattenschleife, sowie einer blauen Zipfelmütze mit einer unüberhörbaren, hell klingenden Glocke an deren Ende.
"Wo hast du den denn her? Bei uns gibt es sowas höchstens auf dem Jahrmarkt oder Schützenfest zu sehen."
Irene lachte.
"Manchmal hat es auch Vorteile, wenn die eigenen Eltern Lehrer sind. Der hier ist selbst gemacht. So wie die hier auch."
Und damit stellte Irene ihr noch das Gretel vor, den Teufel, ein Krokodil und - so eine Kasperlfigur hatte sie noch nie gesehen - einen Storch mit langen roten Beinen, ebensolchem langen Schnabel und tatsächlich mit weißen und schwarzen Federn am Leib.
"Sind die schön!"
Andächtig und sehnsüchtig schaute Emma auf diese wunderschönen Handpuppen.
"Aber wie macht man die?"
"Och, das ist eigentlich ganz einfach. Nur eine ziemliche Schweinerei. Man weicht einen Packen altes Papier, Zeitungen oder so, in richtig dickem Kleister ein. Dann fischt man sich eine Handvoll da raus und knetet und formt den Kopf so, wie man ihn haben will."
Dabei vollführte Irene mit angestrengtem Gesicht entsprechende Gesten mit ihren Händen und brachte Emma zum Lachen.
"Der Hals bekommt von unten ein Loch, groß genug, dass man ihn auf einen Finger oder einen Stock stecken kann und einen unten etwas nach außen gewölbten Rand, damit man das Kostüm daran befestigen kann. Die Köpfe müssen auf einem Stock trocknen. Das dauert eine ganze Weile. Inzwischen kann man die Kostüme nähen. Dann werden die Köpfe angemalt und die Kostüme angebracht. Fertig."
Diesmal nickte das naseweise Gretel herüber.
Emma war begeistert.
"Das klingt toll. Und man kann fast alles irgendwie aus Resten machen. Das muss ich unbedingt auch mal probieren."
"Immer langsam mit den jungen Pferden!"
Lachend trat Schwester Clara zu ihnen, die inzwischen leise den Krankensaal betreten hatte.
"Meine Damen", und dabei klatschte sie energisch in die Hände, "gleich kommt Ihr Mittagessen. Danach wird eine Stunde geruht. Und dann können die Puppen wieder tanzen."
Sie zwinkerte Emma und Irene fröhlich zu und wandte sich dann den Betten zu, um jede der kleinen Patientinnen noch einmal zu begutachten und sich zu vergewissern, wer von ihnen selbständig essen konnte und wer vielleicht Hilfe benötigte.
Dann ging auch schon die Tür auf und eine weitere Schwester steckte den Kopf herein.
"Mittagessen! Heute gibt es einen leichten Gemüseeintopf."
Die an den Nachtschränken angebrachten Tabletts wurden ausgefahren und die großen Suppenteller samt Löffel darauf abgestellt. Zum Glück konnten sie fast alle allein essen. Nur die vierjährige Luci brauchte Schwester Claras Hilfe, sonst würde zu viel ihrer Mahlzeit in ihrer Kleidung oder im Bett landen.
Der Eintopf mit verschiedenen frischen Gemüsesorten in einer kräftigen Brühe schmeckte gar nicht übel. Und Emma erschien das leise rhythmische Geklapper der Löffel als passende Begleitmusik.
Während ihr nach dem Essen neue Umschläge angelegt wurden, waren die Augenlider bereits schwer und Sekunden später war Emma erneut fest eingeschlafen.