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Für Ille

Man hat uns nicht gefragt

als wir noch kein Gesicht

ob wir leben wollten

oder lieber nicht

Marlene Dietrich

Ganz still lag sie da, atmete kaum spürbar. Dann, ganz allmählich, wurden ihre Atemzüge tiefer und ruhiger. Ihre rechte Hand tastete nach dem Stuhl, der neben dem Sofa stand. Langsam zog sie sich an ihm hoch, bis sie aufrecht saß. Mit der anderen Hand strich sie den Rock und die Kittelschürze glatt. Mechanisch waren diese Bewegungen und sie erfassten nicht ihre Strümpfe, die Strumpfhalter und ihren Slip, die ebenfalls der ordnenden Hand bedurft hätten. Ihr Blick richtete sich auf die Wachstuchdecke, die den runden Tisch bedeckte, an dem der hilfreiche Stuhl stand. Blau auf weiß. Ranken und Blätter und Blüten. Ihr Auge folgte der Ranke, umkreiste das präzis symmetrische Blatt links davon, kletterte weiter die Ranke empor bis zu der Blüte rechts, die sie so sehr liebte. Eine lilienblütige Tulpe mit ihren zarten, spitz zulaufenden Blütenblättern. Nicht weiter. Kaum merklich zogen sich ihre Augenbrauen zusammen, ließen ihren Blick ganz dunkel werden. Die Lippen zu einem Strich zusammengepresst, mühsam ein Beben zurückhaltend.

So saß sie da, als ihre Tochter kam. Hella wohnte mit ihrem Mann eine Seitenstraße weiter in einer kleinen Mansardenwohnung. Sie schaute regelmäßig bei ihrer Mutter vorbei, erledigte Einkäufe für sie, half ihr in der Wohnung und in dem großen Gemüsegarten, soweit ihre eigenen Verpflichtungen Zeit dafür ließen. Gegen 17 Uhr war sie von ihrer Arbeit als Haushaltshilfe zurückgekommen. Nach drei Stunden Bügeln von Bettwäsche, Handtüchern, Hemden und Blusen war sie erschöpft, freute sich auf eine Tasse Kaffee, auf Hinsetzen und Beine hochlegen. Der Kaffee lief gerade durch den Filter und verbreitete schon seinen Duft bis in ihre Kuschelecke, als ihr Mann mit hochrotem Kopf hereinstürmte.

„Der hab ich’s aber gezeigt. So redet keiner mit mir. Sie nicht und niemand sonst!“

Er schnappte sich eine Flasche Bier aus dem Kühlschrank und knallte sie auf den Couchtisch, angelte die Flasche Hochprozentigen samt Schnapsglas aus dem Wohnzimmerschrank, ließ sich in den Sessel fallen, goss ein, kippte ihn runter, schenkte sich noch mal nach. Hella war wütend. Wie immer, wenn ihr Mann offensichtlich wieder zu viel Alkohol getrunken hatte. Sie stemmte die Arme in die Hüften und funkelte ihn an. Doch noch bevor sie den Mund aufmachen konnte, polterte Henning los:

“Du hältst jetzt besser die Klappe. Sonst garantier ich für nichts. Deine Mutter konnt ja wieder mal nicht ihre Schnauze halten. Aber von der lass ich mir nichts mehr sagen. Und jetzt lass mich in Ruhe!“

Hella wusste, dass es keinen Sinn hatte, jetzt mit ihm zu streiten. Er würde höchstens grob werden, sie womöglich sogar schlagen. Besonders in letzter Zeit, seit dem Tod seines Bruders vor einigen Monaten, trank er immer öfter und mehr, als gut für ihn war. Sie hoffte, dass sich das irgendwann wieder geben würde. Wortlos verließ sie die Wohnung und machte sich auf den Weg zu ihrer Mutter. Würde sie eben mit ihr eine Kaffeepause einlegen.

Die Tür war nicht verschlossen, so dass sie direkt bis ins Wohnzimmer ging. Der Anblick ihrer Mutter ließ sie erstarren. Der sonst im Nacken zu einem Dutt gedrehte Zopf hatte sich gelöst, Strähnen dunklen Haars hingen wirr um ihr Gesicht. Sie saß auf dem Sofa, die Beine halb darauf ausgestreckt.

„Mutter, um Himmels Willen! Was ist passiert?!“

Ihre Mutter hob langsam den Kopf. Erkannte ihre Tochter und wandte sich entsetzt und beschämt zugleich ab. Denn jetzt kam die Erinnerung wieder. Mit ihr kamen Tränen und Selbstvorwürfe und tiefe Verzweiflung. Ihr Schwiegersohn Henning, der Mann ihrer Tochter Hella, war vor einer guten Stunde vorbeigekommen. Er hatte eine gediegene Schnapsfahne. Sie machte ihm Vorhaltungen. Sie gerieten in Streit. Ein Wort hatte das andere ergeben, beide waren immer lauter geworden, bis er vollends die Beherrschung verlor. Er hatte sich auf sie gestürzt, sie geschlagen und auf das Sofa geworfen. Sie hatte geschrien und sich verzweifelt gewehrt. Aber er war einen Kopf größer und viel schwerer als sie. Er hatte sie in die Polster gedrückt, ihr die Wäsche herunter gerissen und... Sie verdrängte dieses Bild, sein ihr so nahes, wutverzerrtes Gesicht. Aber das Gefühl konnte sie nicht so einfach fortwischen. Er hatte sie mit all seiner entfesselten Kraft fast durchbohrt, ehe er wieder entschwand. Dieser unsagbare Schmerz blieb. Wie eine Welle hatte er sich seinen Weg gesucht bis in ihre Zehen, ihre Fingerspitzen und in ihre Haarwurzeln. Standen ihr die Haare zu Berge? Sie hätte es nur logisch gefunden.

„Mutter! Was ist los?“

Sie konnte ihrer Tochter nicht verschweigen, was geschehen war. Ihre Tochter liebte ihren Mann und hatte ihn geheiratet, obwohl sie von seinen Vorstrafen wusste. Er hatte junge Frauen mit dem Messer bedroht, um sie zu sexuellen Handlungen zu bewegen, wie es in der Amtssprache so trocken hieß. Da es bisher bei Drohungen geblieben war, war er mit einer Bewährungsstrafe davongekommen. Mit dürren Worten erklärte sie, was geschehen war. Hella wurde bleich wie die Wand und die steilen Falten über ihrer Nasenwurzel gruben noch tiefere Furchen. Dann packte sie entschlossen an, half ihrer Mutter, sich anzukleiden und, da es im Hause kein Telefon gab, machte sie sich mit ihr auf den Weg zur Ärztin. Stumm gingen sie nebeneinander her. Obwohl sie sich gegenseitig stützten, konnten sie in diesem Moment kaum weiter voneinander entfernt sein.

Hella fühlte sich wie in einem Wattebausch gefangen. Alle Bewegung um sie herum erschien ihr so langsam, Geräusche erreichten sie dumpf verzerrt. Ihr war so weh ums Herz. Dass ein Herz so schmerzen konnte! So, als wollte es sie zerreißen! Und es kroch etwas in ihr herauf, was ihr Angst einflößte. Kälte, eine so dichte, eisige Kälte, dass sie sich nicht gegen das einsetzende Zittern wehren konnte.

Ihre Mutter hingegen nahm alles überdeutlich war. Jedes Detail dieser Umgebung, die sie doch seit ihrer Kindheit so gut kannte, schien sich neu in sie einbrennen zu wollen. Jedes dieser Details erschien ihr übergroß und bestrebt, ihr Gedächtnis auszufüllen und es zu beherrschen.

So hatten sie keine Augen und keinen Gruß für die Nachbarn, an deren Häusern sie vorüberschlichen, bis zur großen Straßenkreuzung, wo sie der Durchgangsverkehr eine Weile aufhielt. Dann gingen sie am Friedhof vorbei und an etlichen, in voller Blütenpracht stehenden Bauerngärten, bis sie endlich die Praxis von Frau Dr. Wolf erreichten. Diese, eine schlanke, hochgewachsene Frau mit streng gescheiteltem und zu einem Knoten gebundenen rabenschwarzen Haar, lebte und arbeitete seit mehr als zwanzig Jahren hier und kannte ihre Patienten genau. Da sie diese beiden Frauen, die sie nur äußerst selten aufsuchten, niemals derart aufgelöst erlebt hatte, bat sie sie sofort ins Sprechzimmer.

"Was ist geschehen?"

Die Frage klang freundlich und aufmunternd, doch löste sie bei Hella einen nicht enden wollenden Strom an Tränen aus, während ihre Mutter einen Seufzer aus den tiefsten Tiefen ihrer Seele hören ließ und sie ihren Blick nicht vom Boden lösen konnte. Schließlich fand Hella ihre Fassung wieder und erzählte der Ärztin, was sie von ihrer Mutter erfahren hatte. Diese schaute beide prüfend an und bat die Mutter in ihr Untersuchungszimmer. Als beide nach geraumer Zeit ins Sprechzimmer zurückkehrten, bestätigte die Ärztin den Sachverhalt mit einem kurzen Kopfnicken.

"Und was wollen Sie jetzt unternehmen? Soll ich die Polizei verständigen?"

Soweit hatten Hella und ihre Mutter noch gar nicht gedacht. "Ja", meinten beide nach einer Weile des Nachdenkens, "das darf trotz allem nicht ungestraft bleiben."

Frau Dr. Wolf tätigte einen kurzen Anruf und bat die beiden Frauen dann, im Wartezimmer Platz zu nehmen, denn die Beamten würden sie nachher hier abholen und ihre Aussagen zu Protokoll nehmen.

Henning ließ sich trotz seines ansehnlichen Alkoholpegels widerstandslos festnehmen. Im Gerichtsverfahren einige Monate später wurde er zu sechs Jahren Haft ohne Bewährung verurteilt. Wütend und zutiefst verletzt hatte Hella noch vor dem Verfahren die Scheidung eingereicht, die aufgrund des ungeheuerlichen Vorfalls kurzfristig vollzogen wurde. Obwohl Henning ihr gleichzeitig leid tat, denn sie wusste genau, warum er im Moment so viel trank, hatte sie keine andere Wahl. Jeder im Dorf wusste Bescheid. Wenn sie weiterhin hier leben und arbeiten wollte, musste sie einen klaren Trennungsstrich ziehen. Sie wusste ohnehin nicht, wie sie ihm nach dieser Tat noch begegnen sollte. Das Vertrauen war verloren und mit ihm der Wunsch nach seiner Zärtlichkeit und seiner Nähe. Es war, als hätte sich eine Tür geschlossen. Unwiderruflich.

Hellas Mutter hatte all diese anscheinend notwendigen Dinge geschehen lassen. Zunächst war sie nach Hause zurückgekehrt. Sie hatte gehofft, bei ihrem Mann Beistand zu finden. Der aber schaute sie an wie eine Fremde, manchmal regelrecht feindselig. Diese Schande konnte er nicht ertragen. Wenn er nicht arbeitete, als Tagelöhner bei irgendeinem Bauern, im Wald oder beim Torfstechen, trieb er sich irgendwo im Dorf herum, um nicht bei ihr sein zu müssen. Zunehmend ertränkte auch er seinen Kummer in Alkohol.

Ihre ältere Tochter, die mit ihrer Familie in einer größeren Stadt ein Stück entfernt wohnte, fand, dass sie mit ihrem vorlauten Mundwerk selbst Schuld an der ganzen Sache sei und gab ihr das auch unmissverständlich zu verstehen. Hella kämpfte mit ihrem eigenen Kummer. Sie wechselte nur so viele Worte mit ihrer Mutter wie gerade notwendig und zog sich dann wieder zurück in ihre eigene Wohnung.

Im Dorf beäugte man Hellas Mutter misstrauisch. Es wurde getuschelt. Wenn so etwas passierte, musste die Frau ja wohl einen Anlass dafür geliefert haben. In der Folge machten die Dorfbewohner einen immer größeren Bogen um das Opfer.

So wurde es um die Mutter immer einsamer und trauriger. Sie wurde blass und blässer, bis sie fast eins wurde mit der Weiße der Wand. Sie wurde so schwach, dass sie ihren Haushalt kaum noch bewältigen konnte. Die Ärztin stellte eine Anämie fest. Viel zu wenig rote Blutkörperchen. Alle gängigen Arzneien versagten. Sie nahm rapide ab. Als sie sich schließlich kaum noch auf den Beinen halten konnte, wurde sie in das nächstgelegene Kreiskrankenhaus eingewiesen. Sie bekam Bluttransfusionen. Es nützte nichts. Sie aß nicht mehr. Man ernährte sie künstlich. Nach gut drei Monaten war ihr einst hübsches, volles Gesicht ein bleicher Totenschädel mit tief in dunklen Höhlen liegenden Augen. Das Haar, das man ihr der einfacheren Pflege wegen kurz geschnitten hatte, lag als grauer Strahlenkranz um ihr Haupt herum auf dem Kissen ausgebreitet. Ihr Körper war in dieser Zeit so geschrumpft, dass er unter der dünnen Bettdecke kaum auszumachen war. Dann und wann hatten ihre Kinder sie besucht, ihr frische Wäsche gebracht. Ihr Mann war von ihnen inzwischen in einem Altersheim untergebracht worden, weil er zu Hause allein nicht zurechtkam. Sie registrierte dies alles und fand doch keine Verbindung zu diesen Geschehnissen. Manchmal, wenn sie träumte, fand sie sich schwebend über sich selbst und staunend vor dem, was ihr Zuhause sein sollte. Sie fühlte sich fremd hier, fremd in dieser Welt und fremd in ihrem eigenen Körper.

Ein unbestimmtes Gefühl sagte ihr, dass sie zu einem bestimmten Zweck hier sei, aber ein klarer Gedanke wollte und wollte sich nicht einstellen. Es war, als hätte jener Vorfall in ihr einen Schalter umgelegt und etwas Wesentliches, das vorher Teil ihres Lebens gewesen war, ausgelöscht. Die Angst und die Wut jenes Augenblicks kamen dann und wann hoch, und immer, wenn sie sich sagen wollte, dass nicht sie diejenige war, die Gewalt ausgeübt hatte, überfluteten sie Gefühle von Scham und Schuld mit solcher Wucht, dass sie wie gelähmt darin erstarrte. Da war kein Funke, der ihr Feuer hätte anfachen können. Die weißen Blutkörperchen, die sich in ihr ausbreiteten und das Leben Stück für Stück aus ihr verdrängten, brachten sie nur dem hellen Nichts näher, dem klanglosen Verlöschen. Ach, sich auflösen, Vergehen im Licht, all den Schmerz, die Traurigkeit, die Verachtung und die Einsamkeit hinter sich lassend. Wenn das doch so einfach ginge.

Schließlich, die Ärzte hatten sie schon aufgegeben, ließ die Flut der weißen Blutkörperchen nach und ihr Zustand verschlechterte sich zumindest nicht mehr. Und eines Tages kamen außer ihren Töchtern auch der verbliebene Schwiegersohn und die zwei Enkelkinder mit zu Besuch, ein Junge von elf und seine Schwester von sechszehn Jahren. Das Mädchen hatte einige Jahre seiner Kindheit bei der Großmutter verbracht und liebte sie. Sie kannte die Fakten, die ihre Großmutter hierher gebracht hatten. Sie wusste, wie ihre Mutter darüber dachte, konnte Hellas Kummer gut verstehen. Sie wusste auch, dass ihr Vater schon immer ein tiefes Misstrauen gegenüber seiner Schwiegermutter gehegt hatte. Das war ihr egal. Als ihr ihre Eltern eröffnet hatten, dass sie sie jetzt, nach mehr als drei Monaten, zum ersten Mal mit im Krankenhaus besuchen durfte, freute sie sich auf das Wiedersehen.

Annika trat an das Fußende des Bettes und sah nur Weiß. Dann, beim zweiten Versuch, nahm sie die dunklen Augenhöhlen wahr und das zarte wächserne Gesicht, das sie zusammenhielt. Sie erschrak zutiefst. Sie hätte ihre Großmutter nicht erkannt. Von dem Menschen, der ihr vertraut und lieb war wie kein anderer, war rein äußerlich nichts mehr übrig. Sie musste bis in ihr innerstes Wesen tödlich verletzt worden sein. Sie hielt die Augen geschlossen, atmete ganz flach und still. Zögernd ging Annika an die Seite des Bettes, setzte sich auf den dort für Besucher bereit stehenden Stuhl und griff behutsam nach der Hand ihrer Großmutter.

„Oma? Schläfst Du? Ich bin’s, Annika.“

Langsam, ganz langsam öffnete diese die Augen, wendete ein wenig den Kopf und schaute Annika an. War da ein Erkennen? Sie öffnete den Mund, wollte wohl etwas sagen. Fehlte ihr die Kraft?

Das weiße Nichts, der endlose Schleier, hielt sie so sanft und so undurchdringlich umfangen, dass sie die Ankunft ihrer Familie nicht wahrgenommen hatte, ebenso wenig wie das Kommen und Gehen all der anderen Menschen um sie herum. Wozu auch? Bestenfalls Gleichgültigkeit wurde ihr von ihnen entgegengebracht. Von denen, die sie nicht kannten. Bei ihrer Familie war es schlimmer. Sie fühlte den Hass und die Verachtung förmlich auf sich zu kriechen, fühlte, wie sie um sie herum aufstiegen bis zu ihrem Hals, wie sie sie bedrängten und ihr die Luft zum Atmen nahmen. Nie hätte sie gedacht, dass ihr das einmal widerfahren würde, ihr, die immer für die Anderen da war. Nicht, dass sie ein Engel gewesen wäre. Sie war sich ihrer Fehler und Schwächen durchaus bewusst. Aber dass sie sie so allein lassen würden...

Aber da war noch etwas anderes. Eine warme Nähe, die den Hass verdrängte, ihr Herz erreichte und ihren Blick klärte. Annika. Sie spürte, dass ihre Enkelin Bescheid wusste und dass sie sie nicht verurteilte. Sorge sah sie in ihren nun dunklen grünen Augen und eine Zärtlichkeit, wie sie sie schon lange nicht mehr gespürt hatte und die sie doch so schmerzlich ersehnte. Sachte erwiderte sie den Druck.

„Schön, dass du da bist.“

Und mit einem leisen Seufzen schloss sie erneut die Augen, driftete wieder in ihre weiße Wolke, die sie nun aber warm umfing, so dass sie sich endlich etwas entspannen konnte. Mochte der Rest der Familie tun und sagen, was er wollte, da war noch jemand, der an sie glaubte. Und nun, nach dieser langen Zeit im Angesicht der Unendlichkeit, wurde ihr auch bewusst, warum sie nicht hatte gehen können. Noch schwach, aber doch wahrnehmbar, meldete sich ihre Aufgabe zurück, ihre Berufung, die Zeit ihres Lebens so viel Kraft und so viel Stehvermögen von ihr gefordert hatte. Denn obwohl sie für viele Menschen segensreich wirkte, immer dann, wenn andere längst mit ihrer Weisheit am Ende waren, begegnete ihr ihre eigene Familie, allen voran ihr Ehemann, mit unverhohlenem Misstrauen. Immer wieder hatten sie gefragt, was die Grundlage ihrer Fähigkeit und ihrer Tätigkeit sei, aber sie durfte sich niemandem offenbaren. Das war Teil ihrer Aufgabe. Und das hatte sie inmitten ihrer Lieben zuweilen einsam sein lassen. Arbeit half dagegen und davon hatte sie mehr als genug.

Ihre kleine Wohnung war gerade mal mit Elektrizität ausgestattet und erst seit kurzem mit einem Wasserhahn mit kaltem Wasser in der Küche, wo ein alter, mit Holz befeuerter Herd das Zentrum ihres Schaffens war. Sie konnte wunderbar kochen und backen. Das wiederum genoss die ganze Familie an den Feiertagen und an vielen Sonntagen, wenn auch die ältere Tochter mit Mann und den zwei Kindern zu Besuch kamen. Der große Obst- und Gemüsegarten, ein Kartoffelacker am Rande des Dorfes und zwei Schweine im Koben neben der Wohnung lieferten dafür das meiste, was sie brauchte. Aber manchmal, inmitten des Trubels, wurden ihre Augen schmal und dunkel, der Mund nur noch ein Strich, und sie nahm Zuflucht zu einer Flasche Weinbrand. Nur einen Moment hinsetzen, zwei, drei Gläschen davon in aller Eile in die Eingeweide befördern, die brennende Wärme spüren und einen Anflug von Entspannung, dann die Flasche wieder in ihrem Versteck versenken, ein paarmal tief Luft holen und weiter ging´s. Tagaus, tagein.

Steter Wind

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