Читать книгу Steter Wind - Ute Baran - Страница 13
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ОглавлениеWie gern hätte sich Emma noch mit ihrem Vater unterhalten. Aber auch von ihr hatte dieser Tag alles gefordert, was sie an Kraft aufzubieten hatte. Sie schlang das Nieren-Ragout herunter, ohne wie sonst dem Geschmack des weißen Pfeffers nachzuspüren. Und sie erhob sich widerspruchslos, als ihre Mutter die Kinder zu Bett schickte. Allerdings spürte sie da eine Steife in ihren Beinen. Nein, es war nicht wie diese unheimliche Lähmung, die mit ihrer Krankheit verbunden gewesen war. Es fühlte sich anders an, eine Schwere, die sie an Ort und Stelle zu Boden ziehen wollte. Sie zwang sich Schritt für Schritt ins Schlafzimmer und zu ihrem Bett, streifte ihre Kleidung ab, sank auf Matratze und Kissen, zog sich gerade noch die Decke bis über die Schulter, und war schon eingeschlafen.
Als es Zeit ist, allmählich aus dem tiefen, traumlosen, dunklen Nichts aufzutauchen, findet sie sich wieder einmal in dieser Wolke. So viele ihrer Wanderungen und Abenteuer enden hier. Feine graue Partikel, dicht wie der Nebel intensiven Wasserdampfes, aber so trocken wie der Staub auf dem Wohnzimmerschrank, hüllen sie ein, prickeln auf ihrer Haut, umkreisen sie immer enger und dringen in sie ein. Ihr ganzer Körper, sie selbst, fühlt sich an wie diese prickelnde Wolke. Das anfänglich unangenehme Gefühl verliert sich, als sie beginnt, sich an den Rändern aufzulösen, als sie Stückchen für Stückchen mit der Wolke verschmilzt. Kein Grund, sich dagegen zu wehren. Erst ein energischer Weckruf holt sie zurück. Genauso gut hätte sie dort bleiben können, schwebend im Nichts. Doch nun rappelt sie sich mühsam auf und sucht sich den Weg zurück in ihren Alltag.
Diesmal war es Thea, die Beistand bei ihrer großen Schwester suchte. Angesichts der am Vortag von ihr so herzhaft angeknabberten Würste fürchtete sie, dass sich das gestern ausgebliebene Donnerwetter seitens ihrer Mutter heute über sie ergießen würde.
So gingen die Schwestern Hand in Hand in die Küche, wo sie die Mutter vorfanden. Der Vater und die beiden Jungs mussten bereits vor geraumer Zeit aufgebrochen sein, denn ihr Geschirr war abgeräumt. Wortlos stellte die Mutter ihnen das Frühstück auf den Tisch. Emma schien ihr heute etwas blass und müde auszusehen. Sie hatte sich gestern unerwartet tapfer geschlagen und war eine echte Hilfe gewesen.
"Beeil dich, du musst zur Schule! Euer Lehrer will bestimmt nicht, dass du heute auch noch fehlst."
Emma erhob sich. Herr Rothe wusste Bescheid. Sie hatte ihm vorher gesagt, dass bei ihnen Schlachttag war und der Lehrer hatte genickt. Es kam öfter vor, dass insbesondere die älteren Schülerinnen und Schüler dringend als Arbeitskräfte zu Hause, im Stall oder auf den Feldern gebraucht wurden. Er hatte gelernt, das zu akzeptieren und versuchte, den Kindern in der verbleibenden Zeit so viel wie möglich beizubringen.
Emma zog sich ihre warme Strickjacke an, streifte den Ranzen über und wandte sich zur Haustür. Da stand breitbeinig, die Hände in die Hüften gestemmt, Thea, deren energische Pose so gar nicht zu ihrem ängstlichen, weinerlich verzogenen Gesicht passte.
"Emma, ich will mit! Nimm mich mit in die Schule! Bitte!"
"Aber Thea!"
Emma strich der Kleinen beruhigend durch das Gesicht.
"Du weißt genau, dass das nicht geht. Du brauchst keine Angst mehr wegen gestern zu haben. Das ist vorbei. Und nun geh wieder in die Küche."
Sanft schob sie Thea beiseite, öffnete die Tür, schloss sie sorgfältig wieder hinter sich und machte sich auf den Weg zur Schule.
Sie spürte immer noch die Anstrengungen des gestrigen Tages. Die Bleischwere ihrer Glieder verlor sich nur langsam mit jedem Schritt und mit jeder Bewegung etwas mehr. Aber sie war stolz auf sich und sie war sich sicher, dass sie ihr weiteres Leben meistern konnte. Schritt für Schritt.
Bis zum zweiten Schlachttag eine Woche später hatte sich Emma trotz ihrer alltäglichen Pflichten einigermaßen erholen können. Die Steife in den Beinen hatte sich verloren. Nun hieß es, noch einmal alle Kräfte aufzubieten, um auch diesen Tag zu bewältigen.
Emma saß mit ihrer Familie beim Frühstück. Der Vater und die Jungs waren noch da, nur Thea fehlte, die diesen Tag wohl am liebsten verschlafen wollte. Willi und Fritz schauten sich an, dann den Vater und die Mutter und drucksten herum.
"Na, was ist?" fragte der Vater, "raus damit!"
Willi, der Ältere und auch Mutigere der Beiden, holte tief Luft.
"Wir wollten fragen... Also, wir haben doch diesmal vier Schweine. Können wir eine Blase haben?"
Die Mutter schaute verständnislos. Auch der Vater brauchte einen Moment, aber dann lachte er aus vollem Halse los.
"Ihr wollt doch nicht...?"
Und er rieb dabei die Handflächen aneinander und brummte mit aufgeblasenen Backen vor sich hin.
Zaghaftes Nicken bei den Jungs.
"Also, ihr wollt wirklich einen Rummelpott bauen?"
Lebhaftes Nicken bei den Jungs.
Der Vater schaute auf seine Frau, in deren Augen er ein in letzter Zeit seltenes schelmisches Aufblitzen erkannte.
"Also gut, dann hebt mal die Schweinsblasen heute für uns auf, beide, bitteschön! Wenn ihr Jungs die anderen Sachen besorgt habt, die man dafür braucht, bauen wir zusammen zwei Rummelpötte, damit ihr alle was davon habt. Und jetzt müssen wir los."
"Au ja, danke, Papa!"
Die Aussicht auf die seltene Bastelstunde mit ihrem Vater und selbstverständlich deren voraussichtliches Ergebnis, trug die Jungen über ihre Müdigkeit und Erschöpfung hinweg. Sie sprangen auf, nahmen ihre Sachen und folgten dem Vater behände wie selten.
Dieser schmunzelte still vor sich hin. Das Rummelpott-Laufen hatte bei ihnen eigentlich eine lange Tradition, war in den letzten Jahren jedoch etwas in Vergessenheit geraten. Wieso eigentlich? Es war ein schöner alter Brauch und er würde den Kindern großes Vergnügen bereiten. Davon hatten sie im Alltag viel zu wenig, stattdessen große Mühen, wie man sie so kleinen Kindern eigentlich nicht zumuten sollte.
Bei der Feldarbeit drückte er manchmal beide Augen zu und ließ die Jungs am Feldrand ein Stündchen schlafen. Jetzt war es schon zu kalt dafür und auch zu nass. Aber gut für die Wintersaaten, die sie erst kürzlich ausgebracht hatten. Und heute? Heute wollten sie mit Lindemann und seinem Leiterwagen in den Wald fahren und Holz holen, etwas kleinere Stämme, die schon auf Maß gesägt waren, damit sie sie transportieren konnten.
Unwirsch schüttelte er den Kopf. Die Arbeit hatte ihn schon wieder voll mit Beschlag belegt. Aber die Rummelpötte, die würde er mit seinen Kindern bauen.
Emma überstand den zweiten Schlachttag müde, aber unbeschadet. Sie wusste jetzt, wie es ging, und hatte einen passenden Rhythmus für sich gefunden. Sie dachte sogar daran, ihre Mutter an die Schweinsblasen zu erinnern. Schlachter Schweinebart musste ebenfalls schmunzeln, als er erfuhr, wofür diese verwendet werden sollten. Er gab sich sogar besondere Mühe, diese in einem Stück herauszuschneiden, wusch sie sorgfältig aus und drückte sie Emma in die Hand.
"Die pack am Besten in eine Schüssel, Deckel drauf und wegstellen, sonst nimmt die Katze die auseinander."
Emma stellte den Topf weit oben ins Regal in der Speisekammer, die für ihre Katze tabu war. Als ihre Brüder am Abend zurück kamen, galt ihre erste Frage den Schweinsblasen. Emma zeigte sie ihnen. Vorsichtig drückten sie mit ihren Fingerspitzen darauf herum.
"Jetzt müssen wir also noch die anderen Sachen besorgen."
Stabiles Schilfrohr, unterschiedlich lang und dick, reichlich festen Bindfaden und zwei passende Gefäße. So hätten sie sogar zwei unterschiedlich tönende Pötte.
Bis zum Sonntag hatten sie alles zusammen. Tante Thea, die offenbar vom Vater von ihren Plänen erfahren hatte, hatte zufällig zwei leere Konservendosen ergattert und sie ihnen geschenkt.
Nach dem Kirchgang, während die Frauen das Mittagessen vorbereiteten, inspizierte der Vater mit den Jungs das Zubehör.
"Die Schweinsblasen müssen wir gut einweichen. Aber nach dem Essen sollten sie soweit sein. Dann wollen wir mal nachher ein bisschen basteln."
So schnell hatten die Jungs ihr Essen schon lange nicht mehr hinuntergeschlungen.
"Langsam, langsam, sonst verschluckt ihr euch noch!" mahnte der Vater, der die Ungeduld seiner Söhne so deutlich spürte, dass er sich fast davon mitreißen ließ. Aber das sonntägliche Mittagessen, meist das einzige in der Woche, das sie gemeinsam einnehmen konnten, wollte er nicht durch unziemliche Eile entweihen lassen.
"In Ruhe aufessen. So viel Zeit muss sein."
Heute verspürte jedoch niemand die Neigung, das Essen unnötig in die Länge zu ziehen. Schließlich erhob sich der Vater.
"So, dann wollen wir jetzt mal in der Diele alles aufbauen, was wir brauchen. Emma, du holst die Schüssel mit den Schweinsblasen und kannst uns bei der Bastelei helfen."
Emma blickte überrascht auf, schaute zu ihrer Mutter, bei der sich jedoch kein Widerspruch regte, und sprang begeistert auf. Sie als Älteste half dem Vater gelegentlich bei Reparaturarbeiten in Haus und Hof, für die die Jungs noch zu klein waren. Basteln, nur so zum Spaß, noch dazu mit dem Vater, das kam so selten vor, das es ein dickes rotes Kreuz im Kalender verdiente.
Als Emma mit den in warmem Wasser eingeweichten Schweinsblasen an die Werkbank ihres Vaters trat, lag alles schon bereit, die zwei sorgfältig an den Rändern geglätteten und gesäuberten Konservendosen, zwei Stücke Schilfrohr, die Hohlstängel bereits vorsichtig mit einer von Mutters Stricknadeln zuverlässig durchgängig gemacht, und eine Rolle feiner, fester Bindfaden.
Emma und Willi hielten je eine der Büchsen fest, während ihr Vater die Schweinsblasen nacheinander öffnete, vorsichtig dehnte, über die Öffnungen legte und an den Seiten so weit wie möglich nach unten zog, bis die Blase oben straff gespannt war.
"So, jetzt gut festhalten!"
Knapp unterhalb des Randes umwickelte der Vater nun Büchse samt Blase sehr fest mit einigen Reihen dicht aneinandergelegten Bindfadens, um ihn schließlich mit Hilfe der kleinen Finger von Fritz doppelt und dreifach zu verknoten, während Thea mit großen Augen zuschaute. Er blies kräftig durch die Schilfrohre, um sie auch von den letzten innen liegenden Stäubchen zu befreien, und schnitt sie dann mit einem sehr scharfen Messer unten schräg an, dass sie fast wie Pfeilspitzen aussahen.
"Und jetzt ganz vorsichtig, damit die Blase nicht zerreißt."
Sehr langsam und äußerst behutsam stach er mit dem angespitzten Schilfrohr in der Mitte der Oberfläche durch die noch geschmeidige Schweinsblase und schob es bis an den Grund des Gefäßes.
"Emma, willst du das bei der zweiten Büchse machen?"
Emma nickte begeistert und versuchte es genauso wie ihr Vater, etwas zaghaft zunächst, aber die Blase erwies sich als zäher und widerstandsfähiger, als sie gedacht hatte, so dass sie etwas energischer zur Sache ging, bis auch das zweite Schilfrohr schließlich versenkt war.
"Und jetzt? Können wir die ausprobieren?"
Willi platzte fast vor Ungeduld.
Der Vater lachte.
"Nein, jetzt heißt es warten. Die Blasen müssen erst trocken sein. Vorher passiert da gar nichts. Vorm Abendbrot gucken wir mal, wie weit sie sind. Und jetzt raus mit euch, ehe ich es mir anders überlege und gucke, was es hier noch für euch zu tun gibt."
Das ließen sich die Jungs nicht zweimal sagen und stoben davon in den Garten, um nach Nachbarskindern Ausschau zu halten, mit denen sich ein paar Stunden spielen ließ.
Emma nahm Thea an die Hand und ging mit ihr in die Küche. Normalerweise würde jetzt der Abwasch vom Mittag auf sie warten. Doch der war schon erledigt und die Mutter hatte sich auf das alte Sofa gesetzt und kraulte Minka, die sich an ihrer Seite zusammengerollt hatte. Ein ungewohntes Bild.
"Für heute ist mal Pause. Ich will mit Papa ein bisschen spazieren gehen. Ihr könnt hier spielen oder draußen, wie ihr wollt."
Der Vater hatte die Werkbank mit wenigen Handgriffen wieder aufgeräumt und war zu ihnen getreten. Er kam aus dem Staunen nicht heraus. So milde wie heute war seine Frau selten gestimmt. Er war klug genug, keine Fragen zu stellen und folgte ihr einfach auf ihren Spazierweg.
Emma fiel auf, dass er genauso milde zurückkam, aber auch nachdenklich. Und am nächsten Tag bemerkte sie die hölzerne Kinderwiege in der Diele neben der Werkbank, die offenbar gerade aufgearbeitet wurde.
Gegen Ende der Adventszeit hatte sich das Bäuchlein der Mutter schon so weit gerundet, dass alle Bescheid wussten. Viele Kinder zu haben war nichts besonderes, sie alle zu ernähren, zu kleiden und gesund zu erhalten, schon. Bevor Emmas Mutter mit Thea schwanger wurde, hatte sie eine kleine, kaum drei Monate alte Tochter an eine wütende fiebrige Erkältung verloren. Der Tod war in ihrem Leben genauso gegenwärtig wie die zahllosen Geburten. Jedes Mal, wenn sie irgendwo einem Baby auf die Welt half, musste sie daran denken. Schwer war ihr Leben und es barg so viel Schmerz. Wie viel davon würde ihr Herz aushalten, bevor es aus dem Takt geriete? Sie strich sich mit beiden Händen über den Bauch, in dem sich das neue Leben bereits regte. Sie biss die Zähne zusammen. Einstweilen wurde sie noch gebraucht.
Wie im Flug schien Emma die Zeit vergangen zu sein, als sie am heiligen Weihnachtsabend erneut mit Thea im Hausflur stand und sie sich besonders warm anzogen, mit allem, was sie hatten. Der Winter hatte sie in diesem Jahr früh überfallen. Seit zwei Wochen räumten sie Tag für Tag Massen von Schnee vor dem Haus beiseite. Es war ein milder Frost, aber die Luft getränkt von den herbstlichen Nebeln, die auch gelegentliche Stürme nur kurz vertreiben konnten, so dass die Kälte trotz Mütze und Fäustlingen schnell bis auf die Knochen durchdrang und jeder sich beeilte, seine Arbeiten draußen zu beenden.
Nun hatten sie die längste Nacht des Jahres gerade hinter sich gelassen und schickten sich an, die Wiederkehr des Lichtes zu feiern.
"Nun, alle fertig?" tönte die Stimme des Vaters aus dem hinteren Flur, "denn mal los!"
Ihr Weg durch die ungewohnt stillen Straßen war nur begleitet vom Glockengeläut der Dorfkirche, das sie zur Andacht lud. Nachbarn gesellten sich unterwegs zu ihnen sowie Tante Thea mit ihrer kleinen Familie. Sie begrüßten sich leise und setzten ihren Weg zügig fort, so dass sich die Kirche rasch bis auf den letzten Platz füllte. Thea stupste ihre große Schwester an und deutete leuchtenden Auges auf den seitlich des Altars stehenden Weihnachtsbaum. Dieser war nicht besonders groß, jedoch dicht und schön gewachsen. Am letzten Schultag vor dem Fest hatten die Kinder Strohsterne gebastelt, sie teils mit farbigem Garn gefasst, und mit der Schere das ein oder andere kunstvolle Muster hineingeschnitten. Der Bürgermeister hatte eine Kiste roter, wunderbar funkelnder Glaskugeln gestiftet und der Pfarrer wie immer den frisch polierten, großen Weihnachtsstern für die Baumspitze beigesteuert. Zahlreiche weiße Wachskerzen brannten in dem Baum, dazu die Altarkerzen und dort, wo noch einige Wochen zuvor die Erntekrone gehangen hatte, befand sich nun ein riesiger Adventskranz, dessen dicke, rote Kerzen heute ebenfalls noch einmal angezündet waren. Es war ein feierliches Funkeln in diesem Raum, würdig, die neuen Tage des Lichtes zu begrüßen.
Doch nun war es Zeit für Emma, sich für eine Weile von ihrer kleinen Schwester loszureißen. Gemeinsam mit einigen Schulkameradinnen fand sie sich in der Sakristei ein, wo ihre heutige Ausstattung auf sie wartete. Aus weißen Bettlaken und mit Schnüren und Kordeln waren Engelsgewänder für sie entstanden, so wie man sich solche Gewänder halt vorstellte, die sie nun überstreiften. Jede nahm eine große weiße Kerze in die Hand, die zum Schutz vor dem heißen, tropfenden Wachs in einem Pappteller steckte. Diese wurden nun angezündet und die Mädchen reihten sich auf der anderen Seite des Altars, gegenüber vom Weihnachtsbaum, zum Chor der Engel, dessen glockenheller Gesang so manchen mehr rührte, als die Predigt des Pfarrers, die für die Dörfler nichts Neues enthielt.
"Lasst uns noch auf die Brücke gehen", meinte der Vater, als seine Familie nach dem Ende des Gottesdienstes wieder komplett war, "es ist so ein schöner Abend."
Die Brücke über den großen Fluss war keine zwei Minuten Fußweg entfernt. Als sie dort ankamen, war das Hebewerk über der Fahrrinne des Flusses geschlossen und kein Tuten eines Schiffes zu hören, das Durchlass begehrte. Die dicken, dunklen und rissigen Eichenholzbohlen hallten unter ihren Füßen und Thea, deren Blicke durch die manchmal recht breiten Ritzen zwischen ihnen auf das rasch dahin strömende Wasser tief drunten fiel, klammerte sich ängstlich an Emma, die sich jedoch auch unbehaglich fühlte und hilfesuchend zu ihrem Vater schaute, der sich mit den Jungs mühte, und nun Thea auf den Arm nahm.
"Nicht runter sehen. Da kann einem schön schwindlig werden. Aber keine Angst, hier kann euch nichts passieren. Schaut mal, drüben beim Zollhaus, da hat ein Lastkahn festgemacht."
Und zu den Jungs gewandt:
"Ihr wisst ja, wenn ein Schiff hier durch will, tutet es schon von Weitem. Dann kommt der Schmied mit seinem Gesellen und setzt das Hebewerk in Gang, so dass der mittlere Teil der Brücke zu beiden Seiten hin hochklappt. Die Schiffe mit ihren Masten oder Schornsteinen passen da sonst nicht durch, dazu hängt die Brücke zu niedrig. Der Schmied hält das Hebewerk auch in Ordnung. Und dann müssen die Schiffer beim Zollhaus ihre Abgabe für die Durchfahrt zahlen. In der Scheune nebendran können sie notfalls übernachten."
Emma konnte sich nur schwer vom Anblick des strömenden Wassers unter ihren Füßen losreißen. Es entwickelte einen eigenartigen Sog, so, als ob man ihm unbedingt folgen müsse, als ob dies vollkommen selbstverständlich sei. Bis zum fernen, großen Meer, der Wiege des Lebens, auch ihres Ursprungs, wie sie in der Schule gelernt hatte. Ja natürlich, so ergab das für Emma einen Sinn. Und nun, da sie das Mysterium gedanklich durchdrungen hatte, konnte sie sich erheben, trat an das stabile Geländer der Brücke, stellte sich auf ihre Zehenspitzen und schaute übers Wasser. Die Wellen spiegelten das Mondlicht in einem funkelnden Tanz und erhielten beständig Zuwachs von oben. Ganz kleine, zarte Schneeflocken rieselten sachte vom Himmel, brachen ihrerseits das Licht der Mondstrahlen in millionenfachem Glitzern und ließen die Nacht förmlich erstrahlen, bevor sie im Wasser zergingen. Dieses feine Funkeln schien Emma die halb verborgene Landschaft in der Ferne noch zu weiten. Sie holte tief Luft und genoss dieses Schauspiel ganz still.
"Mir wird kalt, lasst uns nach Hause gehen," meinte die Mutter schließlich und wandte sich zum Gehen, "ein heißer Tee wäre jetzt gut."
Der Herd in der heimischen Küche barg noch genug Glut, um das Feuer neu zu entfachen, so dass der wärmende Kräutertee für alle schnell bereitet war und ihre klammen Finger wieder auftauen konnten.
Der Vater hatte sich inzwischen erhoben und war in den Flur verschwunden. Nun steckte er den Kopf zur Tür herein.
"Was ist? Wollt ihr keine Bescherung?"
Die Kinder blickten überrascht auf, rührten sich aber nicht von der Stelle.
"Nun kommt schon!"
Diesmal stürmten sie begeistert los, um sofort nach Betreten des Wohnzimmers still stehen zu bleiben. Ein Weihnachtsbaum leuchtete ihnen entgegen, wo in der Vergangenheit oft genug der Adventskranz reichen musste. An seinem Fuß lagen tatsächlich Päckchen, für jedes der Kinder eines. Und dazu standen auf dem Wohnzimmertisch vier Teller mit Süßigkeiten, einigen Pfeffernüssen, Schokoladenkränzen, Marzipankartoffeln, einer Handvoll Hasel- und Walnüsse sowie einer Orange.
Emma nahm sie in die Hand und schnupperte daran. Sie konnte das köstliche Aroma des Orangensaftes durch die großporige Schale riechen. Sie wusste, diese Früchte kamen aus den Kolonien in Afrika oder Asien. Sie hatten einen langen Weg zurückgelegt und deshalb ihren Preis.
"Hier Emma, das ist für dich," drückte ihr die Mutter ein großes, weiches Paket in die Hand. Der Inhalt war in einige große Bögen Zeitungspapier gewickelt und wurde von einem Bindfaden gehalten. Ein kleiner, unter den Knoten geschobener Tannenzweig ersetzte die festliche Schleife.
"Danke, Mama."
Ungläubig starrte Emma auf das Riesenpaket. Was konnte das nur sein? Für die Schule hatte sie alles, was sie brauchte, warme Stiefel hatte sie im letzten Jahr bekommen. Da hatte ihre Mutter diese bei einer Familie günstig eintauschen können. Sie waren für Emma noch zu groß gewesen, so dass der Vater einige Lagen Papier hineingepackt und die Spitzen mit zusammengeknülltem Papier ausgestopft hatte, damit sie Emma genau passten und ihr nicht die Füße wund rieben.
Was also konnte das sein?
"Nun mach schon auf!" ermunterte sie der Vater.
Also zog Emma endlich den Bindfaden auf und entfernte langsam das Papier. Ein grob gewebter Wollstoff lag da vor ihr, in einem warmen, freundlichen Olivgrün. Sachte entfaltete sie den Stoff, erkannte Ärmel und einen Kragen und hielt schließlich einen Wintermantel in der Hand, den ersten ihres Lebens.
"Probier ihn mal an," forderte ihre Mutter sie auf.
Der Vater nahm ihr den Mantel aus der Hand und breitete ihn galant aus, damit sie bequem hineinschlüpfen konnte. Er war innen gefüttert und weich und warm. Er reichte ihr bis knapp übers Knie. Die Ärmel waren etwas zu lang, also würde er auch im nächsten Jahr noch passen. Die Ecken des Kragens waren gerundet, und er hatte genau die richtige Höhe, um ihn aufzustellen und mit dem Schal zu umwickeln, so dass ihr der Schnee nicht mehr dauernd in den Nacken rieseln würde. Wie viel leichter würden ihr die Wege zur Schule während des Winters nun fallen!
Willi freute sich über eine neue Hose aus kräftigem Cord und die beiden Kleinen über neue, gebrauchte Stiefel sowie ein Pferdchen und ein Lämmchen aus hellem Holz, die der Vater offenbar eigenhändig geschnitzt hatte.
Schließlich überreichten sich die Eltern gegenseitig ein Päckchen. Der Vater fand eine warm gefütterte Weste mit einer kleinen Tasche für seine Taschenuhr, die er gar nicht wieder ausziehen wollte. Die Mutter hielt ein riesiges, kuschelweiches und anscheinend sehr warmes Umschlagtuch hoch. Auch ihr kam dieses Geschenk so gelegen, dass sie es erst zum Schlafengehen wieder ablegte.
"Jetzt brauchen wir nur noch ein bisschen Musik. Emma, du kennst doch so schöne Lieder. Sing uns mal was," forderte der Vater sie auf.
"Aber nur, wenn Willi auch mitmacht."
Es war Emma irgendwie peinlich, ihre Stimme allein ertönen zu lassen. Aber Willi nickte tapfer und stimmte in den Gesang mit ein. Sogar Fritz und Thea steuerten einige schräge Töne bei, die aber der allgemein festlichen Stimmung keinen Abbruch taten. Für Emma war es das schönste Weihnachtsfest, das sie bisher erlebt hatte.
Der erste und der zweite Weihnachtstag waren Familienbesuchen vorbehalten. Großeltern, Onkels und Tanten, die man übers Jahr sonst selten zu Gesicht bekam, gewannen neue Kontur.
Die kleine Thea stand mit offenem Mund und starrte auf eine Riesin. Die große, umfänglich gebaute Tante Adele, Schwester ihrer Mutter, war ihr bewusst noch nie begegnet. Zwei dicke blonde Zöpfe waren wie ein Kranz um den Kopf gelegt und betonten ein helles Mondgesicht. Ein Pfannkuchen! Daran würde sie sich todsicher erinnern.
"Was starrst du so? Kannst du nicht guten Tag sagen?" herrschte diese Riesin sie mit laut durchdringendem Organ an.
Das erschreckte die Tigerkatze Minka, die gerade aus der Küche zur Diele schleichen wollte, um all den Fremden aus dem Weg zu gehen, dermaßen, dass sie mit allen vier Pfoten in die Luft ging, die Krallen der Vordertatzen ausfuhr und diese während der Landung fauchend in Tante Adeles Waden grub, bevor sie wie der Blitz verschwand. Adeles spitze Schreie wurden nicht leiser, als sie die blutigen Kratzer betastete und ärgerlich feststellte, dass ihre feinen Sonntagsstrümpfe zerrissen waren.
Thea hatte die Gelegenheit genutzt, sich unsichtbar zu machen, während ihre Mutter sich bemühte, ihre aufgebrachte Schwester zu beruhigen und die Kratzer mit unangenehm brennendem Jod desinfizierte.