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Emma fand Thea in der kleinen Kammer hinter der großen Wäschetruhe und zog sie behutsam aus ihrem Versteck. Als sie mit ihr den Raum verlassen wollte, blieb Thea stocksteif stehen.

"Thea, komm, sie ist weg."

Thea war offenbar nicht überzeugt, denn sie rührte sich nicht von der Stelle. Stattdessen fragte sie mit großen Augen:

"War das ein Poltergeist?"

Emma musste lachen.

"Das war Tante Adele, du Dummchen. Und sie ist wirklich weg. Nun komm schon."

Und sie dachte: Alle Achtung, Thea. Genauso stellen sich die meisten von uns wahrscheinlich einen Poltergeist vor. Und genau jetzt ist die Zeit der Geister.

Dasselbe musste wohl Tante Thea gedacht haben, die ebenfalls zu Besuch war, nun in der Schlafzimmertür stand und nachdenklich auf ihre kleine Nichte blickte.

"Tante Thea! Gut, dass Tante Adele weg ist. Die war wirklich laut."

"Ich weiß, Emma. Adele hat manchmal eine ziemlich aufdringliche Art. Da kann man wirklich einen Schreck bekommen. Aber deine Schwester..."

Die Tante schüttelte den Kopf. Emma druckste ein wenig herum.

"Tante Thea, kann ich dich was fragen?"

"Na sicher, immer zu!"

"Die Zeit jetzt, du weißt schon, die Raunächte. Was bedeutet das? Als Gertie in der Schule danach gefragt hat, ist unser Lehrer richtig böse geworden. Alles Aberglaube, hat er geschimpft."

Tante Thea seufzte.

"Tja, manche Menschen heute machen es sich sehr leicht, altes Wissen als Aberglauben abzutun. Nehmen wir Weihnachten. Die Geburt von Jesus nach christlichem Glauben ist eine Sache. Opfer- und Lichtfeste gab es im Mittwinter schon vor dem Christentum. Man sagt immer, die Menschen waren vorher Heiden, sie hätten keinen Glauben gehabt und so weiter. Das stimmt aber nicht. Sie hatten einen anderen Glauben, der sie viel stärker mit der Natur verbunden hat. Die Pfarrer wollen davon nichts wissen und die meisten Leute trauen sich nicht, etwas gegen die Kirche zu sagen. Im Mittelalter konnte man dafür in den Kerker kommen oder sogar auf den Scheiterhaufen."

Emma flüsterte fast.

"Da kann man ja richtig Angst kriegen! Redet deshalb niemand über die Raunächte?"

"Ja, genau. Aber alle wissen noch davon. Wir feiern Silvester mit viel Krach, genau wie in alter Zeit, und niemand wird jetzt seine Wäscheleinen aufspannen und Wäsche aufhängen."

"Stimmt, Mama hat extra gesagt, ich soll alles wegräumen. Aber wieso denn das?"

"Unsere Urahnen haben geglaubt, dass in dieser Zeit die Tore zwischen unserer Welt und der Welt der Geister offen stehen. Da reiten die Geister als wilde Jagd über den Himmel, besonders an Silvester. Manchmal, wenn der Wintersturm dunkle Wolken über den Himmel treibt und sich deren Formen ständig verändern, kann man das gern glauben. Jedenfalls heißt es, diese Geister können sich in den Wäscheleinen verfangen. Dann finden sie den Rückweg nicht mehr und bringen hier alles durcheinander. Oder sie reißen die Wäsche von der Leine und nehmen sie auf ihrer wilden Reise mit. Man sagt, dass Betttücher dann im Laufe des Jahres als Leichentücher in das Haus zurückkehren..."

Emma schüttelte sich.

"Das ist ja ganz schön gruselig."

Tante Thea lachte.

"Da hast du recht. Aber keine Angst, wir werden die Geister schon zurücktreiben in ihre eigene Welt. Spätestens beim Silvesterfeuerwerk bekommen die einen solchen Schreck, dass sie freiwillig von hier verschwinden."

Tante Thea strich sich eine Strähne ihres Haars aus der Stirn.

"Aber jetzt mal im Ernst. Die Raunächte dauern zwölf Tage, vom 24. Dezember bis zum 6. Januar, also sechs Tage im alten und sechs Tage im neuen Jahr. Es sind die dunkelsten Tage des Jahres. Es heißt, jeder dieser Tage steht für einen Monat des kommenden Jahres. Und die Geschehnisse während der betreffenden Raunacht sollen auf die Zukunft verweisen. Es heißt auch, dass die Zukunft mit davon abhängt, wie wir uns in dieser Zeit verhalten, so dass wir diese also wenigstens teilweise selbst in der Hand haben."

"Und wir feiern die Rückkehr des Lichtes."

"Ja, genau. Ohne die Jahreszeiten, wie wir sie kennen, ohne die Wärme und das Licht der Sonne könnten wir keine Landwirtschaft betreiben."

Emma staunte.

"Woher weißt du das alles?"

Tante Thea musste grinsen.

"Dein Papa, mein Bruder, hat dir vielleicht erzählt, dass ich gerne in Buchhandlungen stöbere. Es gibt da interessante und manchmal richtig alte Bücher..."

Emma fiel ein, was ihr Lehrer ihnen über die Eiszeit erzählt hatte, die über unvorstellbar lange Zeit weite Landstriche, ja halbe Kontinente, unter Eis und Schnee begraben hatte, darunter auch ihre Heimat. Kein Wechsel der Jahreszeiten, wie sie sie kannten, keine Grünpflanzen, kein Ackerbau. Sie hatte von Menschen gehört, die im ewigen Frost leben, als Jäger, die mit dem Wild ziehen, weil das ihre einzige Nahrungsquelle ist, immer wieder auf das Jagdglück vertrauend. Sie hatte gelernt, dass die Menschen es im allgemeinen vorzogen, auf eine Weise zu leben, in der sie bestimmte Dinge selbst bestimmen konnten, wo sie gestalten konnten und, wenn sie nur fleißig genug waren, dafür belohnt würden, wie beim Ackerbau.

Menschliche Gemeinschaften, Familien und Dorfgemeinschaften wie ihre, so hatte sie gelernt, schätzten ein gewisses Maß an Sicherheit. Die Raunächte, die mit der Silvesterfeier ihren Höhepunkt erreichten, gemahnten womöglich daran, dass nichts selbstverständlich war, dass ihnen selbst die wechselnden Jahreszeiten eben nicht gewiss waren.

Bei dieser Vorstellung wurde Emma leicht unheimlich, und sie verstand auf einmal, weshalb die Alten den Raunächten ganz besondere Beachtung schenkten.

Während der folgenden Tage achtete sie genau darauf, was jeder tat und sie beobachtete immer wieder den Himmel. Manche dunkle Wolke schien wirklich für Momente die Gestalt eines fliehenden Rosses anzunehmen. Andere formten einen Kopf, der die Backen aufblies und die Wolken immer schneller trieb. Es hatte etwas Unheimliches, im Gegensatz zu den weißen Wölkchen, die während des Sommers am Himmel erschienen.

Am Silvestermorgen lag eine gespannte Erwartung über ihrer familiären Frühstücksrunde. Schließlich konnte sich Willi nicht mehr halten.

"Papa, wann können wir denn mit dem Rummelpott losziehen? Und wir brauchen ein paar Sachen zum Verkleiden!"

Der Vater lachte.

"Ja, ja, nun ist es also endlich soweit. Ihr könnt am Nachmittag gehen. Nicht zu lange, sonst wird es zu kalt. Und ihr seid auf jeden Fall wieder zu Hause, bevor es ganz dunkel ist. Mit den Sachen kann euch sicher Mutter helfen."

"Au ja, au ja!"

Klein-Thea hüpfte wie ein Springball auf ihrem Sitz herum, klatschte in die Hände und strahlte alle an.

"Das wird lustig!"

Der Vater wiegte den Kopf und setzte ein strenges Gesicht auf.

"Thea, du bist noch zu klein. Du bleibst zu Hause."

Theas Enttäuschung und ihre Entrüstung brachen sich in heftigem Weinen Bahn. Auch eine Süßigkeit außer der Reihe konnte sie nicht beruhigen, geschweige versöhnen.

Da kam Emma eine Idee.

"Was ist, wenn wir sie nur ein kleines Stück mitnehmen, bis zu Tante Thea, und sie dort auf dem Rückweg wieder abholen? Dann ist sie wenigstens bei ein paar Häusern dabei."

Vater und Mutter verständigten sich mit einem kurzen Blick und die Mutter meinte:

"Also gut, wenn Tante Thea einverstanden ist."

Endlich versiegte Klein-Theas Tränenstrom und sie alle konnten sich wieder den wichtigen Dingen des heutigen Tages widmen. Emmas Kurzausflug zur Tante erbrachte deren Einverständnis, so dass die Kinder nun gemeinsam mit der Mutter in Schränke und Truhen tauchten, um Gegenstände für eine zünftige Verkleidung zu finden. Das war gar nicht so einfach. Schließlich wurde bei ihnen fast alles wieder verwertet. Immerhin fanden sie einen alten Strohhut, der mit einem Tuch auf Emmas Kopf festgebunden im Winter sehr skurril wirkte, während eine alte, löchrige Joppe von Papa Fritz bis über die Knie reichte und seine zarte Gestalt darin so weit versank, dass er zu komisch aussah. Schließlich fand sich ein ellenlanger Schal, der offenbar in Vergessenheit geraten war, und der Willi locker mehrfach um die Taille gewickelt wurde, so dass er als dickbäuchiger Wichtel durchgehen konnte. Klein-Thea bekam ein Kopftuch der Mutter als Turban auf den Kopf, unter dem hier und dort ihre dunklen Locken hervorlugten, und eine weiße Gänsefeder oben hinein. Sie fühlte sich damit ziemlich erwachsen. Jedenfalls stolzierte sie dementsprechend zu ihrem Vater und drehte und wendete sich vor ihm. Der begutachtete sie alle anerkennend und lachend.

"Und nun wollen wir mal sehen, ob die Rummelpötte noch gehen."

Die Jungs stürmten voran Richtung Speisekammer, die während der letzten Wochen als katzensicherer Aufbewahrungsort gedient hatte. Dort überließen sie ihrem Vater den Vortritt, denn der Raum war eng und die Rummelpötte standen hoch oben im Regal, wo keiner von ihnen sie erreichen konnte. Der Vater hob sie vorsichtig herunter und drückte Willi und Emma je einen in die Hände.

Sie versammelten sich um den großen Küchentisch und die Pötte wurden darauf abgestellt. Der Vater kontrollierte kurz, ob die Schweinsblasen noch in Ordnung waren und die Bindfäden hielten. Nein, Minka hatte es nicht geschafft, ihre Krallen an ihren Konstruktionen zu wetzen und auch sonst war kein Schaden sichtbar.

"Also los, lasst mal hören!" ermunterte der Vater seine beiden Ältesten.

Emma und Willi klemmten sich die Rummelpötte zwischen ihre Oberschenkel und rieben die Schilfrohre mit beiden Händen, erst langsam und vorsichtig, dann etwas kräftiger und schneller. Das anfängliche, zarte Babyquaken wurde so dumpf und dunkel durchdringend, dass ein ausgewachsener Ochsenfrosch neidisch geworden wäre. Der Ton des einen Pottes klang etwas tiefer und voller, so dass Willi und Emma, die ja schon mal das eine oder andere Liedchen gemeinsam geträllert hatten, nun in einen Rhythmus verfielen, in dem sie abwechselnd Töne erzeugten. Fast hätte man es Musik nennen können.

Obwohl die Kinder noch einige Pflichten zu erledigen hatten, insbesondere die Tiere versorgen, verging ihnen die Zeit viel zu langsam. Aber am Nachmittag, knapp nach der Kaffeestunde, kleideten sie sich erneut an und machten sich auf den Weg.

Es dämmerte bereits, genau die richtige Zeit, um die Leute zu erschrecken. Der Schnee, der sie an Weihnachten noch in Atem gehalten hatte, war geschmolzen. Es war etwas wärmer geworden, dafür aber hing mehr Feuchte in der Luft, die die Kälte sich klamm in ihre Kleider setzen ließ.

Sie klopften bei den nächsten Nachbarn. Als die Tür sich öffnete, sangen sie ein altes Rummelpott-Lied, in ihrem gewohnten Platt natürlich, begleitet von munterem Gequake.

"Rummel, rummel, ruttje, Kriech ik noch en Futtje? Kriech ik een, blev ik stohn, Kriech ik twee, so will ik gohn. Kriech ik dree, so wünsch ik Glück..."

Die Hausfrau schmunzelte bei dem schauerlichen Lärm und meinte dann: "Moment!" und kam mit einem kleinen Teller voller Nüsse und einiger Süßigkeiten zurück, die in Emmas mitgeführtem Korb verschwanden. Die Kinder bedankten sich artig und zogen so weiter von Tür zu Tür bis zu Tante Thea, die tatsächlich extra Futtjes gebacken hatte, einen mit Rosinen oder anderen Trockenfrüchten versetzten Hefeteig, der häufchenweise in Butter ausgebacken und in Zucker gewälzt wurde. Sie spendierte jedem von ihnen ein noch warmes, wunderbar duftendes Exemplar, das die Kinder sofort mit großem Appetit verspeisten. Und Klein-Thea, die die Aussicht auf noch mehr Küchlein mit Rosinen durchaus lockte, blieb widerspruchslos bei ihrer Tante.

Die drei Großen wanderten weiter durch den Ort, sangen und quäkten gemeinsam oder abwechselnd, bis sie das Haus von Schneider Wittig erreichten. Seine Frau war vor einiger Zeit gestorben und nun führte ihm seine ältliche, unverheiratete Schwester den Haushalt und versorgte die hinterbliebenen vier Kinder. Sie galt als Pfennigfuchserin und hatte immer schlechte Laune. Die Kinder schauten sich an und Willi sprach die Frage aus:

"Wollen wir wirklich?"

Emma, sehr entschlossen:

"Wenn schon, dann alle. Das ist nur gerecht."

Also klopften sie auch an diese Türe und waren erleichtert, als Schneider Wittig höchstpersönlich öffnete und während ihrer Darbietung fröhlich lachte. Doch als er sich gerade umwenden und einige süße Sachen holen wollte, kam seine Schwester angestürzt, schob ihn energisch und rücksichtslos beiseite und baute sich vor den Kindern auf.

"Was soll der Lärm? Dieser ganze abergläubische Zirkus! Verschwindet! Ab! Weg!"

Und sie stieß tatsächlich mit einem Besen nach ihnen, als wären sie räudige Köter.

Die Kinder traten drei Schritte zurück, blieben dann aber stehen, reckten trotzig ihre Köpfe und holten tief Luft. Diese Person hatte es nicht anders verdient.

"Witten Tweern, swatten Tweern,

giezig Lüüd, de geevt nich geern..."

Das bitterböse, besonders laut geschmetterte Spottlied für ganz besondere Geizhälse und das aufdringliche Quäken der Rummelpötte lockten zahlreiche Nachbarn vor die Tür, die ihre Hälse reckten und sich ein wenig Schadenfreude nicht verkneifen konnten, während Schneider Wittigs Haustür krachend ins Schloss fiel.

Auf dem restlichen Weg ihres Rundkurses begegneten ihnen die Nachbarn freundlich und belohnten sie sogar mit einigen Münzen. Schließlich, ihre Finger waren schon ganz steif von der Kälte, holten sie Klein-Thea samt noch einer Lage Futtjes ab und gingen nach Hause, um sich wieder aufzuwärmen. Immerhin war der Silvesterabend noch lange nicht vorbei.

Die gesammelten Schätze teilten sie gerecht unter sich auf, bedachten die Eltern mit einigen Nüssen und zwei Futtjes und überreichten dem Vater als Dank für seine Hilfe bei den Bastelarbeiten die wenigen Münzen, die sie erhalten hatten.

"Nee, Kinder," wehrte dieser ab, "die packt man beiseite. Vielleicht braucht ihr die nochmal."

Emma als die Älteste erhielt sie zur Verwahrung, mit der Maßgabe, deren Anzahl bei passender Gelegenheit zu mehren.

"Und jetzt Kinder," trieb sie der Vater an, "geht ihr alle noch eine Weile schlafen. Jedenfalls, wer nachher das Feuerwerk sehen will."

Ausnahmsweise folgten die Kinder dieser Aufforderung gern, hatte sie die Wanderung durch die Kälte doch ziemlich müde gemacht. Eine gute Stunde vor Mitternacht wurden sie wieder geweckt und fanden nur wegen der Aussicht auf das Fest die Energie, sich aus ihren Betten zu erheben. Die Mutter hielt zum Glück heißen Tee bereit, der sie, zusätzlich zu ihrer Winterkleidung, für den neuerlichen Ausflug in die Kälte wappnen sollte.

Feuerwerk gab es nur einmal im Jahr, eben jetzt, an Silvester. Es entsprach dem bescheidenen Umfang des Dorfsäckels und wurde jenseits des großen Flusses über den Wiesen gezündet. So mancher hatte einen recht weiten Weg dorthin zu wandern, so wie sie auch, aber niemand beschwerte sich darüber, denn sie alle wussten von den Feuersbrünsten, die das Dorf jedes Mal fast komplett zerstört hatten. Das einzige, was in den Straßen gezündet werden durfte, waren Knallfrösche. Ihre ohrenbetäubenden Explosionen begleiteten die Dörfler auf ihrem Weg zur Brücke und zum nebenan gelegenen Rathausplatz, wo sie den Jahreswechsel zünftig begingen. Die kleinen Kinder und die Erwachsenen freuten sich über die bunten Raketen am Himmel, die lange Feuerschweife hinter sich her zogen, während die Jugend vor allem Knallfrösche schmiss, bis diese genau um Mitternacht Konkurrenz durch das Geläut der Kirchenglocken erhielten.

Die feuchte Kälte des späten Nachmittags hatte sich allerdings verdichtet. Über dem Fluss und den angrenzenden Wiesen hing zäher Nebel, der sich ohne Sonnenwärme auch die nächsten Tage nicht auflösen würde. Die mühelos daraus aufstrebenden Raketen des Feuerwerks waren tatsächlich die einzigen Lichtpunkte weit und breit.

Steter Wind

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