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Оглавление"Emma, aufstehen!"
Jemand rüttelte an Emmas Schulter. Ein Traumland voller bunter Handpuppen hielt sie gerade in seinem Bann. Erst als der Ruf lauter wurde und das Rütteln energischer, lösten sich ihre Traumbilder allmählich auf und entließen sie zurück in die Realität.
"Ich hab grad so schön geträumt", murmelte sie schlaftrunken, kämpfte sich mühsam aus Decke und Kissen hoch und rieb sich die Augen.
"Keine Zeit zum Träumen", raunzte ihre Mutter, "der Schlachter kommt gleich. Wenn du noch Frühstück willst, musst du dich beeilen."
Emma schüttelte sich und stand auf, während ihre Mutter schon wieder Richtung Küche davon walzte. Typisch, dachte sie, da wache ich einmal nicht von allein auf, weil ich hundemüde bin, und was passiert? Ich werde angeraunzt. Eilig erledigte sie die Morgentoilette und zog sich an. Ihr Blick fiel auf Theas Bett. Leer. Sie schien schon auf zu sein. Ungewöhnlich. Und auch wieder nicht, denn Thea war genauso neugierig wie Emma und ein Energiebündel dazu.
Auf dem Küchenherd standen alle verfügbaren großen Töpfe mit Wasser, das bereits kurz vorm Siedepunkt war und Dampfschwaden in den Raum verströmte. Als hauchfeiner Nebel legten sie sich auf die ihr vertrauten Gegenstände, verschluckten sie manchmal fast ganz, und erschwerten das Atmen.
Emma machte sich schnell ein Brot und schob es sich in den Mund, während sie schon ihrer Mutter zur Hand ging, die erneut den Tisch ausgezogen hatte und nun alle möglichen Gerätschaften bereit stellte.
Aus dem Hof hallten schwere Schritte. Emmas Mutter trocknete sich die Hände und ging durch die Hintertür die drei Stufen abwärts in den Stall, der sich direkt an die Wohnräume anschloss. Schlachter Schweinebart, nicht zum ersten Mal hier tätig und mit den Örtlichkeiten wohl vertraut, hatte mit seinen Gummistiefeln gleich den Weg durch den Garten genommen, stand nun auf dem bereits frei geräumten Platz, der heute zuerst Zentrum seines Schaffens sein sollte, und legte sein Handwerkszeug, das in einem geräumigen Köcher und einer großen Tasche steckte, vorsichtig in einer Ecke ab.
"Moin!"
Sein Blick wanderte zu den vier wohlgenährten Hausschweinen.
"Das sind ja man ein paar Prachtschweine! Zwei davon sind also heute dran."
"Ja, die zwei hier vorne", bestätigte Emmas Mutter, und wies auf die zwei Tiere im ersten Koben, die heute früh kein Futter mehr erhalten hatten und entsprechend missmutig Protest quiekten, während ihre Artgenossen einen Koben weiter laut vernehmlich schmatzten. Wie konnten sie auch ahnen, dass ihre Gedärme bald schon für anderes gebraucht wurden, dass sie in wenigen Stunden schon mit Teilen ihrer selbst gefüllt sein würden, nämlich mit Wurstgemisch verschiedenster Art.
"Na, dann wollen wir mal."
Schweinebart war ein Mann, der seinem Namen Ehre machte. Er war groß und massig, mit einem bulligen Stiernacken und einem sorgfältig gepflegten Bierbauch, der jetzt gerade so unter einer großen, dunkelgrünen Gummischürze verschwand. Ein akkurat gestutzter Backenbart kaschierte notdürftig sein ausgeprägtes Doppelkinn, das jedes seiner Worte wie auch seine Bewegungen schwingend und hüpfend begleitete.
Er rückte die Leiter an der Dielenwand zurecht und prüfte die Temperatur des Wassers in der großen Zinkwanne, die etwas abseits der Leiter stand. Er nickte und wandte sich zum ersten Koben, entriegelte dessen Verschlag, trat ein, packte ohne Umstände eines der Schweine an Ohr und Schwanz und schob es mit einem kräftigen Ruck Richtung Ausgang. Überrascht quiekte das Schwein laut auf, erhielt aber gleichzeitig einen Hieb mit einer Gerte auf sein Hinterteil, dass es zwei Sätze vorwärts schoss und sich auf dem glatten Dielenboden fand. Schweinebart war dem Tier schnell gefolgt und hatte den Verschlag hinter sich geschlossen.
"Gut festhalten!" wies er die Frauen an und nahm sich die bereit liegenden, zusammengerollten Stricke. Nacheinander befestigte er zwei davon an den Vorderläufen des Schweins und begann, es Richtung Wanne zu ziehen. Das Tier musste wohl ahnen, dass ihm Schlimmes bevorstand, denn es stemmte seine vier Hufe mit aller Kraft dagegen und quiekte immer lauter und schriller. Es half nichts. Gezogen von vorn und geschoben von hinten erreichte es viel zu schnell den Platz, wo die große Wanne stand. Auf ein Zeichen von Schweinebart packten sie das Schwein und wuchteten es mit Schwung in das heiße Wasser. Überlautes Quieken und verzweifeltes Strampeln des Tieres ließen den Schlachter noch fester zupacken, während die Frauen die Schwarte des Schweines mit Bürsten und Schabern von Schmutz reinigten und seine nun gut eingeweichten Borsten entfernten. Als das Tier sich erneut auf seinen vier Hufen auf dem Dielenboden fand, war es stumm. Nur seine Augen blickten angstgeweitet und es schwankte wie betrunken. Ein mit Schwung über ihm geleerter Eimer heißes Wasser spülte auch die letzten Schmutzreste an und unter ihm fort und Schweinebart trat zu ihm. Ein scharfer, dumpfer Bolzenschuss in seine Stirn, es fiel auf die Seite und zuckte noch ein wenig. Jetzt musste alles schnell gehen.
Schweinebart fuhr tastend mit der linken Hand über den Hals des Tieres und tat einen kurzen, nicht zu tiefen Schnitt mit einem scharfen Messer. Sofort sprudelte warmes Blut hervor, das Emma und ihre Mutter abwechselnd in flachen Schüsseln auffingen, die sie in eine saubere Wanne ausleerten. Tante Thea überwachte diesen Vorgang, während sie gleichzeitig mit einem großen Kochlöffel langsam in der süßlich stinkenden Brühe rührte, damit diese nicht gerann. Immerhin wollten sie einige Blut- und Rotwürste herstellen.
Als das Schwein kein Blut mehr hergab, wuschen sich Emma und ihre Mutter eilig die Hände. Emma übernahm nun das Rühren und die zwei Frauen wandten sich zu Schweinebart, der indessen zwei weitere kräftige Stricke an den Hinterläufen des toten Tieres befestigt hatte. Mit dem Kopf nach oben und dem Bauch nach vorn hievten sie nun das Schwein an der Leiter hoch und banden es mit gespreizten Läufen fest.
Der Schlachter wetzte kurz sein großes Messer und - ratsch - schlitzte er dem Schwein den Bauch auf. Wie große dicke Schlangen glitschten die Gedärme in die zu Füßen der Leiter stehende Schüssel, die sofort weggeräumt und durch weitere Schüsseln und Töpfe ersetzt wurde. Zügig und geübt schnitt Schweinebart die Innereien aus dem Bauch des Schweins, ließ sie in die einzelnen Töpfe fallen und beförderte ab und zu etwas in einen seitwärts stehenden Eimer, der alle möglichen Reste aufnahm.
Emmas Mutter und Tante Thea hatten inzwischen eine weitere Leiter, die sie von dem benachbarten Müller ausgeliehen hatten, neben ihrer eigenen aufgestellt. Nun war das zweite Tier mit derselben Prozedur dran.
Tierarzt Tegge, der sich zur festgesetzten Zeit eingefunden hatte, prüfte mit scharfem Blick durch seinen Kneifer und mit einigen Probeschnitten die Qualität des Fleisches beider Schweine. Alles in Ordnung, kein Anzeichen von Krankheiten, kein Befall mit Trichinen. Ein amtlicher Stempel hier und da und er verabschiedete sich wieder.
Der süßliche, penetrante Geruch des Todes nahm Emma fast den Atem, die froh war, als sie helfen konnte, die zahllosen Töpfe und Schüsseln in die Küche zu tragen. Als schließlich auch die Fleischteile der Schweine, die großen Hinterschinken, Füße, Ohren und Rippenteile in die Küche geschafft waren, verlagerten sich alle Aktivitäten dorthin.
Der Fleischwolf wurde montiert, Salz und Pfeffer und verschiedene Kräuter bereit gestellt. Das Fleisch wurde sortiert, einiges für den Sonntagsbraten beiseite gestellt, Eisbeine sowie Schinken für den Räucherofen vorbereitet und zahlreiche Abschnitte und sonstige Reste durch den Fleischwolf gedreht. Im Laufe der nächsten Stunden entstanden verschiedene Sorten Wurst, rohe und gekochte, Mettwurst, Leberwurst und Rotwurst. Die gut gewürzte und von Schweinebart fachkundig mit Pökelsalz behandelte Masse wurde dann in die inzwischen von den Frauen sorgfältig gesäuberten Därme des Schweins gefüllt, in der jeweils gewünschten Größe abgebunden und auf lange hölzerne Stangen in einem Gestell in der kleinen Kammer gehängt. Die meisten dieser feinen Würste würden mitsamt dem Schinken in den Räucherofen wandern, nicht nur, weil sie sich dann länger hielten, sondern auch, weil sie dann noch viel würziger schmeckten.
Die Frauen hatten derweil die Schweinsköpfe zerlegt und die essbaren Teile, gut gewürzt mit Salz, Lorbeerblatt und Piment, gekocht, und zerkleinerten sie. Zusammen mit einem Schuss Essig fanden sich diese binnen Kurzem in einer schleimigen Masse, die alsbald zu einem festen Glibber gerinnen würde. Sülze! Emma verzog angewidert den Mund. Dieser Glibberkram war nicht ihr Fall und meistens war da für ihren Geschmack zu viel Essig drin. Das ausgekochte Schweinefett wurde beiseite gestellt, um daraus später zwei Sorten Schmalz zu bereiten.
"Emma, die Nieren gibt es heute zum Abendbrot. Leg sie schon mal in Wasser."
Emma suchte sich eine passende Schüssel, tat die vier Nieren hinein, bedeckte sie mit Wasser, damit die letzten Reste von Harn heraus gespült wurden und legte noch einen großen Teller darauf. Aus den Augenwinkeln hatte sie nämlich Minka erspäht, ihre graue Tigerkatze, die offensichtlich auf der Lauer lag, um bei passender Gelegenheit einen guten Happen für sich zu erbeuten. Normalerweise jagte sie die Mäuse auf ihrem Gehöft und in der Nachbarschaft. Aber an einem Tag wie diesem war es auch für sie hier zu verlockend.
Emma lachte, trug die Schüssel mit den Nieren vorsichtshalber in die Speisekammer, verschloss diese sorgfältig und beugte sich dann zu ihrer Katze, um sie kurz zu kraulen.
"Du wirst schon noch was abbekommen. Warte nur bis nachher."
Minka, als hätte sie das verstanden, erhob sich, strich Emma schnurrend mit erhobenem Schwanz um die Beine und schoss plötzlich mit einem Satz davon.
"Emma, träumst du?" Die Stimme ihrer Mutter klang ungeduldig. "Los, los, jetzt geht es ans Aufräumen und Putzen."
Emma folgte ihrer Mutter. Schlachter Schweinebart hatte sich gerade die Hände gewaschen, die Schürze abgelegt, und packte seine Sachen zusammen. Er schulterte Köcher und Tasche und wandte sich an die Hausfrau.
"Denn also nächste Woche nochmal dasselbe. Ich geh hinten raus."
"Ja, schönen Dank auch."
Emmas Mutter folgte ihm in die Diele, die noch so aussah, wie sie sie vorhin verlassen hatten, ein Schlachtfeld. So drückte Schweinebart ihr sein Gepäck in die Hand, um sich in aller Eile seine Joppe anzuziehen, seine Mütze aufzusetzen, erneut seine Sachen zu schultern und munter pfeifend den Heimweg zu seiner Frau und seinen fünf Kindern anzutreten.
Seufzend wandte sich Emmas Mutter um. Sie alle drei hatten noch alle Hände voll zu tun, wenn sie das Abendessen pünktlich auf den Tisch bekommen wollte. Als erstes musste sie aber nun den Räucherofen anheizen. Thea hatte ihre vor einigen Wochen hergestellten Würste und Schinken mitgebracht, die nun durchgepökelt waren und in den Rauch sollten. Der Ofen war wie ein Kamin mit einer übergroßen Kammer gemauert und grenzte direkt an den Stall. Sie benutzte dafür Buchenholz, das wegen seines Aromas dafür am begehrtesten war. Sie sammelten alljährlich eine große Kiepe voller Scheite dieses Baumes nur für diesen Zweck und versteckten sie hinten im Stall, damit nichts davon aus Versehen anderweitig verfeuert wurde. Es gab zwar Wälder rundum, in denen auch Buchen wuchsen, doch die Wege dorthin waren weit und ohne ein Pferdegespann, das sie nicht besaßen, lohnte sich ein solcher Ausflug nicht. Solange es nicht zu kalt war, heizten sie vor allem mit Torf aus dem nahe gelegenen Moor und mit dürren Ästen und Zweigen, die sie bei jeder Gelegenheit sammelten. Der Herbst war schon vorangeschritten und manchmal recht kühl, aber noch war bei ihnen nur der Herd in der Küche beheizt.
Ein wenig gut zusammengeknülltes Zeitungspapier, einige kleine Holzspäne darüber, und Emmas Mutter entzündete ein Streichholz. In Windeseile fraß sich die helle Flamme durch das Papier, grub schwarz geränderte Löcher hinein und ließ es zu grauer Asche zerfallen. Schon leckte es an den Spänen, betupfte auch sie mit Ruß und erzeugte Glutnester, winzig zuerst, dann hell aufflammend und den inneren Kern des Holzes erfassend. Das war der richtige Zeitpunkt. Emmas Mutter legte einige große Scheite auf das Feuer, schloss die Ofentür und drosselte die Luftzufuhr. Erst wenn die großen Scheite gut durchgeglüht waren, würde sie noch einmal nachlegen.
Sie eilte zurück in die Küche.
"Emma, wasch du mal das restliche Geschirr ab. Tante Thea und ich machen erst mal in der Diele klar Schiff. Wenn du damit fertig bist, kannst du schon alles für das Abendbrot herkriegen."
Emma nickte und machte sich an die Arbeit, während ihre Mutter und Tante Thea mit Eimern, Schrubbern und Wischlappen in die Diele zogen.
Aufgeregtes Klopfen an der Haustür. Emma beeilte sich, nachzusehen, wer sie so aufscheuchen musste. Sie riss die Haustür förmlich auf und schaute der sichtlich aufgelösten Nachbarin von Tante Thea ins hochrote Gesicht. Im Arm hielt sie das Baby ihrer Tante, dessen Betreuung sie gelegentlich übernahm und das ganz friedlich schlief. Wieso also diese Aufregung?
"Emma! Hast du Thea gesehen?"
Emma schaute verständnislos.
"Na, deine kleine Schwester! Ich sollte doch heute auf beide aufpassen! Wo ist deine Mutter?"
Emma wies Richtung Diele. Die Nachbarin drängte an ihr vorbei ins Haus und stürmte dorthin, gefolgt von einer besorgten Emma. Sie hatte den ganzen Tag so viel um die Ohren gehabt, dass sie die kleine Thea glatt vergessen hatte. Aber natürlich, jetzt fiel ihr das getroffene Arrangement wieder ein. Es war ihr selbstverständlich erschienen und Thea für den Tag gut aufgehoben.
Emmas Mutter wurde wütend.
"Konntest du denn nicht besser aufpassen?" herrschte sie die hilfsbereite Nachbarin an. Diese zuckte zurück und wäre wohl am liebsten selbst laut geworden, doch Tante Thea trat dazwischen, strich ihr beruhigend über den Arm und nahm ihr das Baby ab.
"Erzähl mal. Was ist passiert? Wo und wann hast du die Kleine denn zuletzt gesehen?"
Die Nachbarin rang um Fassung und warf einen ängstlichen Blick auf Emmas Mutter.
"Ich kann wirklich nichts dafür. Die meiste Zeit heute haben wir bei mir zu Hause gehäkelt. Thea wollte das unbedingt lernen. Sie hat meine Topflappen gesehen und hat danach gefragt. Na ja, und vorhin... Nein, es muss schon über eine Stunde her sein. Da bin ich mit den Kindern zum Bäcker, um noch frisches Brot zu holen. Auf dem Rückweg hat mich meine Schwägerin kurz aufgehalten, die wollte ein Rezept von mir. Da hat Thea plötzlich die alte Frau Cordes mit ihrem Spitz gesehen. Sie hat sich einfach losgerissen und ist ihr hinterher gerannt. Ich bin dann auch gleich hinterher, aber als ich um die Ecke gebogen bin, da wo die Alte wohnt, war niemand mehr zu sehen. Ich hab geklopft und im Garten nachgesehen, aber da war niemand!"
Sie kämpfte sichtlich mit aufsteigenden Tränen und fuhr dann fort.
"Ich hab Thea gerufen. Das hat die Cordes gehört und steckte ihren Kopf aus dem Nachbarhaus. Sie hatte für ihre kranke Nachbarin eingekauft und wollte ihr gerade was kochen. Sie hatte keine Zeit für Thea und hat sie deshalb nach Hause geschickt. Sie hat den Weg hinten raus zwischen den Gärten genommen. Ich bin ihr hinterher. Aber bis jetzt habe ich sie nicht gefunden."
Tante Thea stoppte Emmas Mutter, die gerade wieder aufbrausen wollte, mit einem scharfen Blick.
"Beruhige dich und setz dich erst mal. Wir gucken hier überall nach. Irgendwo muss sie ja sein."
Emma reichte der verzweifelten Nachbarin ein Glas Wasser und schloss sich dann der Suche an. Aber so gründlich sie auch in Haus, Stall und Garten in jeden Winkel guckten, von Thea keine Spur. Selbst Keller, Dachboden und die Kaninchenställe, deren kuschlige Bewohner Thea so sehr liebte, wurden sorgfältig in Augenschein genommen. Das Mädchen blieb verschwunden.
Sie alle überlegten angestrengt, wo sie vielleicht noch sein könnte, als Emmas Mutter zusammenfuhr.
"Die Räucherkammer!"
Sie stürmte voran und riss die Tür zur Räucherkammer auf. Sie spürten schon deutlich die Wärme des Ofens, aber auch hier keine Thea.
"Gottseidank, hier ist sie nicht! Aber der Ofen ist soweit. Den hab ich in der Aufregung ganz vergessen. Ich leg noch ein paar Scheite nach. Emma, häng schnell die Würste da rein, bevor er zu heiß wird. Ich komme gleich nach und hole die Schinken, die sind für dich zu schwer."
"Und ich schicke meine Nachbarin nach Hause und helfe euch dann weiter suchen," hörten sie Tante Thea rufen, während diese schon davoneilte.
Emma begab sich schnurstracks zu der kleinen, hinter dem Schlafzimmer der Eltern gelegenen Kammer. Diese hatte kein Fenster und diente vor allem der Aufbewahrung sperriger Dinge. In einer Ecke war ein Gestell zum Einhängen der Würste angebracht. Emma erinnerte sich, dass in diesem Raum auch die Kinderwiege stand. Die kleine Thea hatte als Säugling dort die Nächte verbracht, in der Nähe der Mutter, aber doch so weit entfernt, dass ihre Eltern ein wenig Privatsphäre hatten. Wenn sich allerdings weitere Geschwister einfinden würden, müsste auch dieser Raum Schlafraum werden.
Sie drehte den Lichtschalter und die schwache Glühlampe an der Decke flammte auf. Reihenweise Würste und ein paar herrliche Schinken leuchteten ihr entgegen. Die auf den hellen Stangen gehörten Tante Thea und waren nun dran. Sie griff nach der ersten Stange mit den Würsten und zog sie vorsichtig aus dem Gestell. Als sie sich zur Tür umwandte, hörte sie ein leises Rascheln.
"Minka?!" rief sie leise in den Raum. Es blieb still. Nichts rührte sich. Vielleicht die Mäuse hinter der Wand? Nein, die hielt ihre Katze in Schach.
Doch Emma hatte keine Zeit. Sie zog die Tür wieder zu und eilte mit den Würsten zur Räucherkammer, hängte sie dort ein und kam zurück.
Gerade, als sie die nächste Stange herunterheben wollte, vernahm Emma ein leises Schmatzen. Sie stutzte. Das kannte sie doch?! Sie schaute sich in dem winzigen Raum um, schaute in Truhe und Wäschekorb. Dort befand sich nur, was auch dort sein sollte.
Erneutes Schmatzen und verhaltenes Gähnen. Beides kam eindeutig aus der Ecke... aus der Ecke mit den frisch gemachten Würsten! Diese hingen ziemlich lang herunter, so dass Emma in die Knie ging. Vorsichtig schob sie die duftenden Köstlichkeiten auseinander und entdeckte ein zusammengerolltes Etwas auf dem Boden, das gerade die Augen aufschlug und nun herzhaft gähnte.
"Thea! Was machst du denn hier? Wir suchen dich überall!"
Bevor ihre kleine Schwester aufstehen und sich den Kopf am großen Schinken stoßen konnte, zog Emma sie an den Beinen heraus und stellte sie auf die Füße. Thea rieb sich die Augen und war immer noch nicht richtig wach. Da entdeckte Emma Reste von Leberwurst in ihrem Gesicht und Mettwurst klebte in einem Mundwinkel. Emma bekam einen Heidenschreck und ging noch einmal in die Knie, um die Würste einer eingehenden Inspektion zu unterziehen. Und richtig. Einige dieser verlockenden Würste waren an den unteren Zipfeln aufgepolkt und angeknabbert.
"Thea, was hast du gemacht?! Mama wird stinksauer sein!"
Thea guckte sie mit ihren großen Augen an.
"Aber ich hatte Hunger! Und ich war müde! Und ihr hattet keine Zeit!"
Seufzend ergriff Emma Theas Hand und eilte mit ihr zur Mutter. Als diese Thea erblickte, hellte sich ihre Miene auf, doch als Emma von den angeknabberten Würsten erzählte, schien sie kurz vor einer Explosion zu stehen. Emma trat mit Thea einen Schritt zurück. Sie fürchtete eine saftige Ohrfeige. Für sich, für Thea, für sie beide.
Doch wieder einmal gerade rechtzeitig tauchte Tante Thea auf, erfasste die Situation und die Hand ihrer Schwägerin und zog sie mit sich fort.
"Schauen wir uns das an. Vielleicht können wir noch was retten."
Emmas Mutter zwang sich zur Ruhe, während sie innerlich brodelte. Noch ein Haufen extra-Arbeit! Wo sie sich doch jetzt schon kaum noch auf den Beinen halten konnte. Ihr war schwindlig und immer wieder wurde sie von Übelkeit geplagt, besonders bei Arbeiten wie diesen, wo einem gesunden Menschen schon schlecht werden konnte. Obwohl, krank war sie ja nicht. Eine Schwangerschaft war schließlich keine Krankheit. Für so etwas hatte sie keine Zeit. Im vierten Monat musste sie nach ihren Berechnungen sein. Ihr Mann wusste noch nichts davon und auch sonst niemand. Ihr fünftes Kind, die sechste Schwangerschaft. Sie hätte sich schonen sollen. Aber wie hätte sie das tun können, ihre Älteste krank und pflegebedürftig und Thea noch so klein und ein solcher Irrwisch, dass man ständig auf sie aufpassen musste.
"Wie konnte das bloß passieren? Dass uns das Kind so durchrutscht!"
Tante Thea strich ihrer Schwägerin sanft über die Schulter.
"Das ist doch kein Wunder, bei all der Arbeit und der Aufregung. Man kommt kaum zu sich selbst. Und unsere Kinder? Wir haben sie geboren und manchmal verlieren wir sie wieder, ehe wir merken, wie uns geschieht. Ich wünschte, ich hätte die Zeit, meine Tochter aufwachsen zu sehen, richtig mitzubekommen, wie sie die Welt für sich entdeckt."
Tante Thea seufzte, zuckte mit den Schultern und wandte sich wieder ihrer Arbeit zu. Die Frauen versäuberten die angeknabberten Würste und mühten sich, deren Enden wieder fachgerecht zu verschließen. Für alle Fälle markierten sie sie mit einem zusätzlichen Band am Zipfel, damit sie erkennbar blieben und zuerst den Weg auf Tisch und Teller fanden. Immerhin ließ sich der größte Teil der Würste auf diese Weise retten. Das, was sie jetzt herausschneiden mussten, würde halt während der nächsten Tage die Brotzeit der Männer für deren Arbeit auf dem Feld bereichern.
Emmas Mutter entspannte sich ein wenig. Und sie schaute ihre Schwägerin Thea erstaunt von der Seite an. Was die für seltsame Dinge im Kopf hatte. Sie wusste von ihrem Mann, dass Thea bei den seltenen Ausflügen in die Stadt nach dem Markt vor allem einen Ort aufsuchte, die dortige Buchhandlung. Sie stöberte und las so lange, dass sie beinahe die Heimfahrt verpasste. Manchmal hatte sie auch eines der Bücher gekauft. Wie Kinder die Welt entdecken? Was gab es da schon Besonderes? Für die Großbauern waren sie billige Arbeitskräfte und für ihre Eltern die Alterssicherung. Nur bei den Mädchen war das etwas komplizierter. Sie brauchten eine Mitgift, um Chancen auf einen annehmbaren Ehemann zu haben. Zumindest die Grundausstattung für einen Haushalt, Wäsche und Geschirr, sollte drin sein.
"Ich hoffe, es wird diesmal wieder ein Junge."
Die Worte waren leise ausgesprochen, eher zu sich selbst, doch Thea hatte verstanden und schaute sie überrascht an. Emmas Mutter war verlegen und ärgerte sich über sich selbst.
"Bitte zu niemandem ein Wort. Mein Mann weiß es noch nicht."
"Natürlich nicht," beruhigte Thea ihre Schwägerin, "aber lange wirst du das nicht verbergen können."
Die Frauen hatten ihre Reparaturarbeiten beendet und schafften die restlichen Würste schleunigst in die Räucherkammer. Höchste Zeit, denn dort wurde es nun unerträglich heiß. Emmas Mutter kontrollierte den Ofen noch einmal. Das Holz glühte intensiv rot-orange, kleine Flocken von Asche stiegen auf. Noch zwei, drei Scheite obenauf, die Ofentür verschließen und die Luftzufuhr auf ein Minimum drosseln. So würde alles schön langsam durchbrennen und der Räucherkammer für etliche Stunden eine gleichmäßige Hitze spenden.
Endlich erledigt. Emmas Mutter verabschiedete die hilfreiche Schwägerin mit einem festen Händedruck und ging in die Küche.
Dort war Emma inzwischen fleißig gewesen und hatte alles für ein schmackhaftes Nieren-Ragout vorbereitet. Möhren und Porree waren gesäubert und geschnitten. Jetzt mühte sie sich gerade, das Fleisch der Nieren von den innen liegenden zähen Sehnen und Harnröhren herunter zu schneiden.
"Ist gut. Ich mach hier weiter. Hol schon mal die Kartoffeln."
Emma griff sich einen Korb und wandte sich zum Gehen. Schwesterchen Thea wollte sich ihr anschließen und rutschte gerade von dem für sie recht hohen Sofa herunter.
"Du bleibst hier!" ertönten die strengen Worte ihrer Mutter.
Thea duckte sich.
"Was hast du dir bloß dabei gedacht? Du kannst doch nicht einfach ausbüxen!"
Thea schwieg schuldbewusst still.
"Und dann noch die Würste! Was soll ich bloß mit dir machen?"
Die Mutter hob resigniert die Hände, schüttelte den Kopf und wandte sich dem Herd zu, um das Ragout zuzubereiten. Sie war sichtlich erschöpft. Thea setzte sich langsam und vorsichtig wieder auf das Sofa. Auf keinen Fall wollte sie die Mutter erneut reizen. Diese aber konzentrierte sich auf das Abendessen, denn der Vater und die beiden Brüder konnten nun jeden Moment auftauchen.
Emma kam mit dem Korb voller Kartoffeln zurück und begann sie zu schälen. Sie wusch sie kurz mit kaltem Wasser, tat sie in den Kochtopf und reichte ihn der Mutter. Diese warf einen prüfenden Blick darauf.
"Ja, die müssten reichen. Du kannst sie schon aufsetzen."
Also füllte Emma etwas Wasser ein, salzte vorsichtig und setzte den Topf aufs Feuer. Sie hatte gerade den Tisch fertig gedeckt, als der Vater und die beiden Jungs hereinkamen und sich erschöpft auf ihren Plätzen niederließen.
Wenige Minuten später stand das Essen auf dem Tisch und sie alle langten erst einmal zu. Nach dem langen, anstrengenden Tag waren sie hungrig und müde. Den Kindern fielen schon beim Essen fast die Augen zu, so dass die Mutter sie danach sofort zu Bett schickte. So hatte sie noch ein wenig Zeit, um ihrem Mann von ihrem aufregenden Tag zu berichten. Nur das mit der erneuten Schwangerschaft, das behielt sie erst mal noch für sich.