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Kapitel 6

5 Stunden vor der Entdeckung von Kevins Leiche

Das Baby schlief. Schon seit vier Stunden. Sehr lange für ein Schläfchen zwischendurch. Langsam machte sie sich Sorgen. Die Brüllerei des Jungen war ihr auf die Nerven gegangen. Sie hatte Angst gehabt, jemand könnte ihn hören. Jetzt allerdings wäre sie froh gewesen, wenn er geschrien hätte.

Sie hatte die Ruhe genützt, um nachzudenken, und sie war zu dem Entschluss gekommen, ihn zurück zu seiner Mutter zu bringen. Nur vorübergehend. Vielleicht würde sie froh über das Angebot sein, das ihr die Frau zu machen gedachte: Sie wollte das Baby in Pflege übernehmen.

Und wenn alles nichts half, würde sie das Jugendamt einschalten und die Pflege beantragen. Ja, das würde sie tun. Nichts war geschehen. Alles würde wieder in Ordnung kommen. Alles würde gut werden.

Sie ging in Sarahs Zimmer, weil sie das Bedürfnis hatte, das Baby – ihr Baby – anzusehen, es anzugreifen.

Sie stand vor dem Bettchen und beobachtete das Kind. Es rührte sich nicht. Kein bisschen. Nicht mal der Brustkorb hob und senkte sich. Aber der Junge muss doch atmen, nicht wahr? Er muss. Er kann nicht wie Sarah sein. Tot und kalt. Kalt.

Sie legte ihre Hand zögernd auf seinen Kopf. Sanft, streichelnd. Er fühlte sich an, wie Stein. Leblos. Hart. Kühl. Sie ließ ihre Hand unter seinen Strampler gleiten. Auch sein Körper war kalt. Sie hob den Jungen aus dem Bett. Er war schon steif geworden, wie eine Puppe. Das Kissen. Es hatte sein Schreien gedämpft. Sie hatte es auf sein Gesicht gedrückt. Sie hatte ihn umgebracht. Großer Gott! Was hatte sie getan? Ihre Beine gaben nach, wollten sie nicht mehr tragen. Sie begann zu schluchzen, mit dem toten Kind im Arm rutschte sie zu Boden. Ihr ganzer Leib wurde von einem Beben erfasst. Ihre Tränen durchfeuchteten den Strampelanzug, während sie den Kleinen hin und her wiegte. Du darfst nicht tot sein, du darfst nicht tot sein, formte sie die Worte immer wieder in Gedanken. Eine Faust umklammerte ihr Herz.

So hatte sie sich gefühlt, als sie ihr Sarah weggenommen hatten. Sarah!

Sie bekam plötzlich keine Luft mehr. So sehr sie versuchte zu atmen, das Gefühl, ersticken zu müssen, blieb. Da entrang sich ihrer Kehle ein Schrei, es war, als hätte er in ihr gesteckt, hätte verhindert, dass Sauerstoff in ihre Lungen strömte. Sogleich dämpfte sie ihren Klageruf mit ihrer Faust. Der Schmerz, den sie so in sich zurückzwang, zerfetzte ihr Herz, ihr Sein in tausend Stücke. Sarah, was hab ich bloß getan?, fragte sie immer wieder. Was hab ich bloß getan?

Ein süßer Geruch drang an ihre Nase, und sie hob den Kopf. Babypuder? Sarah antwortete ihr. Sie konnte sie deutlich hören: „Mama, du hast ihn zu einem Engel gemacht. Du hast ihn gerettet. Jetzt passe ich auf ihn auf.‟

Sie drehte suchend den Kopf, hielt Ausschau nach ihrer Tochter, die doch hier war. Die sie hören, riechen konnte. Warum konnte sie sie nicht sehen?

„Ich bin in dir drinnen, Mama.‟

Ein Seufzer entrang sich ihren Lippen. Sarah war da. Ihre Tochter war zurückgekehrt. Ruhe umhüllte sie, wie ein schützender Umhang. Ihre Tränen kullerten spärlicher. Sie wischte sich mit der Hand übers Gesicht.

Sarah hatte recht. Was hätte denn der Junge für ein Leben gehabt? Nur Leid und Schmerz. Schon während seines kurzen Daseins hatte er nichts anderes kennengelernt. Keine Liebe, keine Streicheleinheiten, keine Sicherheit.

„Dank dir hat er das alles wenigstens einmal erlebt. Du kannst stolz auf dich sein. Du hast ihn davor bewahrt, zurück ins Elend zu müssen.‟

Sie fühlte sich getröstet.

„Ich wusste nicht, dass du sprechen kannst, Sarah.‟

Ihre Tochter lachte. „Klar. Du hast mir bisher nur nicht zugehört.‟

„Ich verspreche, dass ich dir ab jetzt immer zuhöre. Nur verlass mich nicht. Nie mehr.‟

„Ich lass dich nie wieder allein, Mama.‟

Die Tränen versiegten. Sarah gab ihr Anweisungen. Sie erzählte ihr, wie Engel aussahen: weiß gekleidet, von Lilien umgeben.

Sie schloss die Augen und stellte sich die majestätischen Blüten vor. Lilienduft! Sie hatte ihn in der Nase.

Sie holte Sarahs Taufkleidchen, das sie einige Monate vor ihrer Geburt gekauft hatte, aus dem Schrank. Sie war in einen Secondhandladen gegangen, weil sie sich kein Neues leisten konnte. Dieses hatte ihr sofort gefallen.

„Meinst du, das Kleidchen ist das Richtige für ihn? Er ist doch ein Junge‟, fragte sie verunsichert.

„Er wird wie ein Engel aussehen.‟ Sarah kannte sich gut mit Engeln aus.

„Du musst die Blumen besorgen, Mama! Du kennst doch die Friedhofsgärtnerei. Dort, wo du die Kränze bewundert hast.‟

Ja, natürlich. Sie kannte die Blumenhandlung vom Vorbeifahren. Wie oft hatte sie sich vorgenommen, einmal hineinzuschauen, etwas zu kaufen und sei es nur ein kleiner Blumenstrauß. Es hatte sich bisher noch nie ergeben.

Erst halb sechs. Zeit genug. Die Blumenhandlung hatte auch samstags bis sechs geöffnet.

Sie legte den Jungen zurück in Sarahs Bett und verließ die Wohnung.

Das Geschäft roch nach feuchter Erde und einer Mischung aus verschiedenen Blüten. Zielstrebig ging sie zu den Vasen mit den Lilien. Sie waren edel und schön. Genau richtig für einen kleinen Engel.

Eine junge Verkäuferin trat auf sie zu. Ob sie helfen könne.

„Ich hätte gern fünfzehn Stück von denen da‟, deutete sie auf die weißen Lilien. „Noch etwas Grün dazu? Oder Schleierkraut?‟

„Nein, danke. Nur die Blumen.‟

Keine Fragen, wozu sie so viele brauchte. „Die sind das gewöhnt, Mama‟, meinte Sarah.

Sie bezahlte. Mit dem riesigen Strauß, der von Papier umhüllt und dadurch vor neugierigen Augen geschützt war, stieg sie wieder in den Bus ein. Obwohl er ziemlich voll war, beschwerte sich niemand darüber, dass sie zwei Sitzplätze in

Anspruch nahm. Alle Menschen schienen zu respektieren, dass sie eine schwere

Last trug. Bis auf den Fahrer. Der schaute ihr beim Aussteigen eigenartig hinterher. Als wüsste er Bescheid.

Bei der Straßenbahn stieg sie sicherheitshalber ganz hinten ein. Vielleicht waren alle Fahrer der öffentlichen Verkehrsmittel informiert worden.

„Satan hat überall seine Helfer, Mama. Du musst aufpassen, damit sie dich nicht aufhalten.‟

Hinter dem Blumenstrauß versteckt, damit die Kameras sie nicht aufnehmen konnten, wartete sie auf die U-Bahn. Sie blickte sich immer wieder verstohlen nach verdächtig aussehenden Personen um. Sie musste auf der Hut sein. Immer und jederzeit.

Endlich stand sie vor ihrer Wohnung. Sie horchte bei der Nachbartür und meinte ein Schluchzen zu vernehmen. Ja, geschieht dir recht, du Schlampe. Hättest du deinen Sohn nicht allein gelassen.

Sie sperrte auf, brachte aus dem Badezimmer einen Eimer, füllte ihn mit Wasser und gab die Lilien hinein. Wie schön sie waren.

Die Frau holte den Jungen aus Sarahs Zimmer, entkleidete ihn und zog ihm das

Taufkleidchen an. Es stimmte. Er sah wie ein Engel aus. Engel lebten im Himmel. Es gab einen Platz, an dem der Himmel der Erde ganz nah war. Dorthin würde sie ihn bringen. Er sollte es nicht weit in seine neue Heimat haben.

Das Liliengrab

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