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Kapitel 8

2 Stunden vor der Entdeckung von Kevins Leiche

Sarah begleitete die Frau, unterstützte sie bei ihrem schweren Gang. Sie hatten sich dazu entschlossen, zu Fuß zu gehen. Ein mühsamer und beschwerlicher Weg, nicht zuletzt, weil es bereits dämmrig war.

Sarah hatte ihr zu dem Kinderwagen geraten. Sie solle behaupten, auf das Kind einer Freundin aufzupassen, falls jemand Fragen stellte. Welch gute Idee! Wie hatte sie ohne Sarahs Zuspruch, ohne ihre Gegenwart, bisher existieren können?

Die Wanderung war schrecklich. Die Blicke aller Menschen ruhten auf ihr – und auf dem Kinderwagen. Sarah hatte sie gewarnt: Satan war überall. Die Frau konnte vor nichts und niemand sicher sein. Sie war auf sich allein gestellt. Die Einzige, die sie unterstützte, die Einzige, der sie trauen konnte, war ihre kleine Tochter.

Die Lilien hatte sie in dem Papier von der Blumenhandlung gelassen und die Stiele in nasse Küchentücher eingewickelt, damit die Blüten nicht welk wurden. So schob sie den Kinderwagen mit den Blumen auf dem Verdeck und dem Engel darin den schmalen Fußweg bergauf. Oft legte sie Pausen ein. Dann endlich hatte sie es geschafft. Sie blickte sich um und fand eine geschützte Senke. „Zuerst die Lilien!‟, diktierte Sarah. Die Frau wickelte sie aus, sah sich nach Satans Helfern um, aber weit und breit war niemand zu sehen. Sie legte die Blumen nebeneinander auf den Boden. Das Weiß bildete einen schönen Kontrast zu der grünen Wiese.

Nun holte sie den Jungen aus dem Kinderwagen. Er sah immer noch aus, als schliefe er. So friedlich, das Gesichtchen entspannt. Je länger sie ihn betrachtete, desto sicherer wurde sie, das einzig Richtige getan zu haben. Dieses Kind gab sie jetzt in Gottes Hände. Hätte sie ihn der Mutter zurückgebracht, wäre es geworden, wie all die anderen: ein Teufel in Menschengestalt. Ihr Herz war nicht mehr schwer, sondern frohlockte. Sanft küsste sie es auf sein Haar und bettete es auf seine letzte Ruhestätte.

Es war ein Bild, das sich für immer in ihr Gedächtnis einprägte. So und nicht anders sollte es sein. So sahen Engel aus. Sarah sagte: „Komm, wir gehen. Du hast für heute genug getan.‟

Die Frau schob den Kinderwagen leer zurück. Bergab ging es deutlich schneller. Sie war so beschwingt, dass sie ewig hätte weitermarschieren können, sie fühlte keine Müdigkeit und keine Erschöpfung. Dennoch riet Sarah ihr, das letzte Stück die U-Bahn zu nehmen. Es war schon spät.

Als sie schließlich in ihrer Wohnung ankam, legte sie sich gleich ins Bett. Das erste Mal nach Sarahs Tod schlief sie mit einem Lächeln auf den Lippen ein.

Der Abend zuvor war lange gewesen. Laura hatte sich schließlich entschuldigen müssen, weil sie dringend nach Hause musste, um ihren Kater zu füttern. Und weil sie nach der kurzen Nacht zuvor einfach müde war.

Kasimir war ihr vorwurfsvoll maunzend entgegengekommen, und hatte sie, nachdem sie seine Futterschüssel gefüllt hatte, strafend ignoriert. Erst als in der Früh der Wecker läutete, sprang er zu ihr ins Bett.

„Na, hast du mir verziehen?‟, fragte Laura und streichelte über sein rot getigertes Fell. Er schnurrte und schmiegte sich an ihre Hand. Laura schob ihn zur Seite. „Komm, lass mich aufstehen. Ich habe heute einiges zu erledigen.‟ Das Tier war ganz schön schwer. Sie sollte ihn öfter fasten lassen, nahm sie sich vor, wusste aber, dass sie schon nach dem ersten Maunzen weich werden würde. Nach dem Frühstück rief sie Heinz an. Er erzählte ihr, dass Wagner und er zwar gut gegessen, aber für den Fall nichts Relevantes herausgefunden hatten.

Laura erinnerte ihn daran, dass sie gleich am Vormittag wegen des Taufkleidchens in die Kinderboutique gehen wolle.

„Warum sagst du das mir? Wagner sollte Bescheid wissen‟, meinte Heinz.

„Du richtest es ihm doch aus, oder? Es ist nicht notwendig, ihn deswegen extra anzurufen‟, antwortete Laura. In Wahrheit wollte sie es vermeiden, Wagners Stimme zu hören. Sie rief in ihr Erinnerungen wach, die sie zu verdrängen versuchte. Blöde Kuh!, schalt sie sich. Du musst noch länger mit ihm arbeiten. Ihr werdet noch oft miteinander reden, persönlich und am Telefon. Was stellst du dich so an?

All das mochte schon sein. Aber der gestrige Tag hatte ihr schmerzlich klargemacht, wie sehr sie sich nach einem Partner, nach Wagner, sehnte. Sie konnte von Daniels Verhalten denken, was sie wollte, aber schlussendlich hatte er sich für Veronika und das Kind entschieden. Die beiden liebten sich, das war unübersehbar. Gut, sie hatten ihre Probleme. Sie mussten mit der neuen Situation klarkommen, sich in ihr zurechtfinden. Ein Gedanke schoss ihr durch den Kopf. Wagner und ihr Bruder ähnelten sich. Nicht vom äußeren Erscheinungsbild. Da konnten die Gegensätze kaum größer sein. Aber von ihrem Wesen. Beide waren beschützend. Für beide stand die Arbeit an erster Stelle. Daniel Campelli und Helmut Wagner gehörten eindeutig dem „alten Schlag‟ an – sie hielten Frauen die Tür auf, halfen ihnen in die Mäntel und übernahmen selbstverständlich die Rechnung nach einem gemeinsamen Essen. Aber mit Daniel stritt sie sich unaufhörlich, jetzt noch. Ob Wagner da tatsächlich die richtige Wahl wäre?

Aus! All diese Gedanken führten zu nichts, außer zu Herzschmerzen. Sie sollte sich auf ihre Arbeit konzentrieren. Laura nahm ihre Handtasche von der Kommode im Flur und verließ die Wohnung.

Wagner saß vor seinem Schreibtisch, das Telefonbuch mit den gelben Seiten lag aufgeschlagen vor ihm. Déjà-vu, dachte er. Erst gestern hatte er das verfluchte Buch in die Schublade gepfeffert. Wo sollte er anfangen?, fragte er sich auch heute wieder. Er hatte seine Frage wohl unbewusst laut ausgesprochen, denn Heinz sagte: „Am Besten bei A.‟

Wagner sah missmutig auf und warf einen Kugelschreiber nach seinem Freund, der ihn geschickt auffing.

„Hast du nichts zu tun?‟, fragte Wagner.

„Ich geh ja schon‟, antwortete Heinz und grinste breit. Dem guten Rat zum Trotz blätterte Wagner zum letzten Eintrag. Zwarinsky – Blumen und Floristik stand dort. Er griff zum Telefonhörer und wählte die Nummer. Lilien? Ja, natürlich führten sie die. Ob sie vorgestern welche verkauft hätten? Sicher. Lilien waren beliebte Blumen. Ach nein, nicht in solchen Mengen. Nicht auf einmal.

So ging das weiter. Eine Sisyphusarbeit. Wagner überlegte, ob es jemanden gab, den er mit diesen Telefonaten betrauen konnte. Dafür brauchte er mindestens zwei, drei Kollegen. Er würde sonst nie fertig werden. Bis er die Liste durch hätte, hätte er Schwielen auf den Fingerkuppen vom Wählen.

Also riss er die fraglichen Seiten aus dem Telefonbuch, rollte mit seinem Sessel nach hinten und stand auf.

Er ging aus seinem Zimmer und lief den Gang entlang bis zum nächsten Raum, den sich vier Beamte teilten. Sie schienen alle beschäftigt, dennoch legte er jedem von ihnen zwei Blätter auf den Tisch. „Leute, ich brauch ein wenig Unterstützung.‟

„Das Baby?‟, fragte einer der Beamten.

Wagner nickte. Wortlos griffen alle vier zu den Seiten aus dem Telefonbuch. Wagner erklärte ihnen, worum es ging. Sie mussten die Blumenhandlung ausfindig machen, in der die Lilien, eine große Stückzahl, gekauft worden waren.

Der grimmige Blick seiner Kollegen zeigte ihm, dass sie alle ihr Möglichstes tun würden. Manche von ihnen hatten selbst Kinder. Auch wenn sie nicht am Tatort gewesen waren, die Nachricht von dem toten Baby hatte sich herumgesprochen. In diesem Augenblick war er stolz, Teil dieser Truppe zu sein.

„Wenn jemand etwas herausfindet – ich bin in meinem Büro.‟

Dann ließ er die vier alleine. Mit den Seiten, die ihm geblieben waren, klemmte er sich wieder hinter das Telefon.

Heinz Martin war in das gerichtsmedizinische Institut gefahren. In seinem Büro wütete das Chaos, und er machte sich seufzend daran, alte Zeitschriften durchzusehen, Artikel, die er noch aufheben wollte, auszuschneiden und sie abzuheften. Doch bei allem, was er in die Hand nahm, ließ ihn der Gedanke an das tote Baby nicht los. Also gut, dann würde er sich zuerst um die Krankenhäuser kümmern. Er scannte die Fußabdrücke ein und war gerade dabei, eine Rundmail an die Geburtsstationen zu verfassen, als er vom Klingeln seines Handys unterbrochen wurde. Es war Wagner.

„Na, fehle ich dir schon? Ich bin gerade erst eine Stunde weg‟, scherzte Heinz.

„Ha, ha. Sehr lustig. Ich ruf dich aus einem anderen Grund an‟, meinte sein Freund. In seiner Stimme war kein Funken von Humor.

„Hast du was gefunden.‟

„Ja und nein.‟

„Du drückst dich ziemlich unklar aus. Was denn nun?‟

Wagner antwortete: „Was die Blumenhandlungen angeht: nein. Aber wir haben gerade eine Vermisstenmeldung reinbekommen. Aus dem Zwanzigsten.‟

Heinz schrieb sich die Adresse der Polizeidienststelle auf. Sie machten aus, sich direkt dort zu treffen. Verdammt. Er sollte nun einer verzweifelten Mutter beibringen, dass ihr Kind vermutlich tot war und im Kühlraum der Gerichtsmedizin darauf wartete, identifiziert zu werden. Das war immer am schwierigsten: den Angehörigen die Gewissheit zu vermitteln, dass ihr Sohn, Tochter, Ehemann oder Ehefrau nie wieder zurückkehren würde.

Manche standen auf dem Standpunkt, alles sei besser, als die Ungewissheit. Doch solange sie den geliebten Menschen nicht sahen, bloß mit einem Laken bedeckt, solange hatten sie auch noch mindestens einen Funken Hoffnung.

Meist war er es, der ihnen diese Hoffnung, die Illusion, es könnte alles noch gut werden, raubte.

Einst hatte er sich für die Pathologie entschieden, weil er es nicht aushielt, Menschen wie am Fließband zu behandeln. Doch in Augenblicken wie diesem wünschte er sich, er hätte sich eine Fachrichtung ausgesucht, die Hoffnung schürte, anstatt sie zunichte zu machen.

Er schnappte sich seine Autoschlüssel und verließ sein Büro. Aufräumen konnte er später auch noch. Wenn er aus dem zwanzigsten Bezirk zurück war. Oder wenn dieser Fall abgeschlossen war. Oder gar nicht. So schlimm sah es auch wieder nicht aus.

Wagner wartete vor dem Eingang der Dienststelle auf Heinz. Hätte er geraucht, wäre das die Gelegenheit für die eine oder andere Zigarette gewesen. So aber spazierte er auf und ab und hoffte, sein Freund würde sich nicht allzu lange Zeit lassen.

Da bog Heinz’ lange Gestalt um die Ecke.

„Du hättest doch schon vorgehen können‟, sagte der anstelle einer Begrüßung.

„Ich hatte ein paar Telefonate zu erledigen‟, log Wagner. Er wollte der Mutter einfach nicht allein gegenübertreten. Heinz hatte ein besseres Händchen, oder passender ausgedrückt: die besseren Worte, um mit Angehörigen umzugehen.

Gemeinsam betraten sie das Gebäude und fragten nach dem Beamten, der sie angerufen hatte.

Dessen Büro lag im ersten Stock. Wagner klopfte an und als ein „Herein‟ ertönte, öffnete er die Tür.

„Guten Tag, mein Name ist Helmut Wagner. Wir haben telefoniert. Wegen des vermissten Babys.‟

Erst jetzt fiel ihm auf, dass die Mutter des Kindes gar nicht anwesend war. Der Beamte bemerkte offenbar seinen suchenden Blick, denn er seufzte und sagte: „Ja, das ist eine komische Sache. Aber nehmen Sie doch Platz.‟

Er und Heinz setzten sich dem Mann gegenüber, Heinz reichte dem Beamten die Hand und stellte sich vor.

„Oha‟, meinte der Polizist. „Gerichtsmedizin. Wenn ich davon höre, läuft es mir immer kalt den Rücken hinunter. Ich bin froh, dass ich hier nur die Meldungen aufnehme. Wobei, so etwas wie heute habe ich noch selten erlebt.‟

„Inwiefern?‟, fragte Wagner.

Der Polizist lehnte sich zurück, griff nach einem Kugelschreiber und kritzelte Kurven und Linien auf den großen Block vor ihm.

„Also, die Mutter des vermissten Babys ist gerade achtzehn geworden, und sie hat erzählt, sie sei gestern Mittag aufgewacht, und das Kind sei einfach nicht mehr dagewesen. Bitte schön, wo gibt es denn so etwas? Und ich bin im Übrigen davon überzeugt, dass sie Drogen nimmt. Ich habe ja schon oft mit Drogenabhängigen zu tun gehabt und erkenne sie auf hundert Meter Entfernung.‟ Er schüttelte den Kopf. „Wo ist sie hin?‟, wollte Heinz wissen.

Der Mann blickte ihn direkt an. „Nun, ich hab gesagt, sie soll warten, ich verständige die Kollegen von der Kripo, aber als sie Kripo gehört hat, hat sie sich gehetzt umgesehen, als wäre jemand hinter ihr her, und schon war sie weg.‟

„Aber die Adresse haben Sie doch?‟, versicherte sich Wagner.

Der Beamte nickte. „Ich hatte ja schon alles aufgenommen. Name, Adresse. Das ist doch das Komische. Sie müsste wissen, dass ihr sie findet. Das war einfach eine Panikreaktion, Frag mich nur, woher die Panik kommt.‟

Der Polizist hatte recht, fand Wagner, und auch Heinz nickte bestätigend. Hatte vielleicht doch die Mutter das Kind getötet? Warum meldete sie es aber dann bei der Polizei als vermisst? Die Frage konnte er selbst beantworten: Um eine plausible Erklärung für dessen Verschwinden parat zu haben. Das hatte er schon einige Male erlebt. Ehemann ermordet Frau, und meldet sie anschließend vermisst, damit niemand misstrauisch wird.

Er bat um eine Kopie von der Vermisstenmeldung mit dem Namen und der Adresse der jungen Mutter. Dann stand er auf, tippte mit der Hand zum Gruß an die Schläfe und verabschiedete sich.

„Geben Sie mir Bescheid?‟, rief der Beamte ihm beim Hinausgehen nach. Wagner drehte sich kurz um und sagte: „Klar, sobald wir was herausgefunden haben.‟ Einen Teufel würde er tun.

Er verstand zwar die Neugier seines Kollegen. Doch mit den Dienstjahren war er vorsichtig geworden, was die Weitergabe von Informationen betraf. Man wusste nie, wo solche Auskünfte landeten. Günstigstenfalls bei ein paar Mitarbeitern, die Nachrichten über Mord und Totschlag mit einem Teil Abscheu und drei Teilen Voyeurismus verschlangen. Im ungünstigsten Fall landeten sie bei den Medien, die unreflektiert alles an die Bevölkerung weitergaben, Hauptsache, die Quoten und Auflagen stimmten. Und denen war ganz egal, ob sie den Ermittlungen schadeten oder nicht.

„Und jetzt?‟, fragte Heinz, als sie ins Freie traten und er die Augen zukniff, weil ihn die Sonne nach dem dämmrigen Licht im Inneren des Gebäudes blendete. „Wir fahren zu der Mutter, was sonst?‟

„Ja, ist schon klar. Soll ich mit?‟

Wagner blickte seinen Freund an. „Ich sagte ’wir‘‟, betonte er noch einmal. Er versuchte den bittenden Ton in seiner Stimme zu unterdrücken, aber es misslang. Heinz grinste. „Wie schön, wenn man gebraucht wird. Für dich lasse ich meine Arbeit, die sich ohnehin schon stapelt, liegen. Das muss dir schon eine Pizza wert sein.‟

„Gut, dann Pizza. Nach der Arbeit im ›Traviata‹‟, gab sich Wagner geschlagen.

Das Liliengrab

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